# taz.de -- Jahrestag Überfall auf die Sowjetunion: Die Grenzen der Selbstaufk… | |
> Vor 75 Jahren überfiel die Wehrmacht die Sowjetunion. Die Orte der | |
> deutschen Verbrechen und die Namen der Opfer sind unbekannt geblieben. | |
Bild: Die Inschrift des Bildes besagt, dass hier 1942 Wehrmachtsoldaten Juden i… | |
Es scheint ja alles gesagt zu sein. Der Nationalsozialismus ist verblasst. | |
Die Bundesdeutschen haben die Geschichte bewältigt und verwalten dies | |
mitunter wie einen moralischen Besitzstand. Die historischen Studien, in | |
denen die Verbrechen nachgezeichnet sind, die Deutsche im Osten begingen, | |
verstauben indes ungelesen in Bibliotheken. Białystok und Kamenz-Podolsk, | |
Rowno, der Stalag 352 bei Minsk und andere Orte der Verbrechen existieren | |
auf der geschichtspolitischen Landkarte der Deutschen nicht. Es sind, | |
anders als Auschwitz oder Oradour, weiße Flecken, unschuldige Namen. | |
Fünf Tage nach dem Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 erreichte | |
die Wehrmacht Białystok im sowjetisch besetzen Osten Polens. Die | |
Deutschen stießen kaum auf Widerstand. Der Divisionskommandeur befahl am | |
27. Juni „die Säuberung von russischen Versprengten und deutschfeindlicher | |
Bevölkerung“. Marodierende Truppen zogen daraufhin durch das jüdische | |
Viertel und töteten willkürlich Zivilisten. Abends sperrten Angehörige des | |
Polizeibataillons 309 mehr als 700 jüdische Bewohner in die örtliche | |
Synagoge und steckten sie in Brand. | |
Die Wehrmacht und Einsatzgruppen verwandelten 1941 Weißrussland, das | |
westliche Russland, die Ukraine und das Baltikum in eine Hölle, wie es sie | |
in der an Gewaltverbrechen so reichen Historie noch nicht gegeben hatte. | |
Das passierte nicht in Racheexzessen, sondern vorbereitet und kühl geplant. | |
Fleißige Staatssekretäre hatten kühne Pläne entworfen, wie die Besatzer | |
Nahrungsmittel aus dem Osten herauspressen sollten, und kalkuliert, dass | |
dabei 30 Millionen Sowjetbürger verhungern würden. Das galt als gewünschter | |
Effekt. In Russland sollten die Untermenschen reduziert werden, um Raum für | |
die deutsche Herrenrasse zu schaffen. | |
Die sowjetische Elite sollte ermordet werden, überflüssige Zivilbevölkerung | |
sollte verhungern, Städte wie Leningrad sollten dem Erdboden gleich gemacht | |
werden. All das wurde ausgeführt, so weit es ging, gestoppt nur durch die | |
Rote Armee. Nicht jedes Mordgeschehen wurde angeordnet oder war Ergebnis | |
der Planungen in Ministerien, Wehrmacht und SS-Spitze. Aber alles, was dort | |
administrativ ausgearbeitet wurde, zielte auf das Gleiche: die Vernichtung | |
des „jüdischen Bolschewismus“. | |
## Blutige Handarbeit | |
Was oben geplant wurde, kam unten an. Leutnant Albert Martiny schrieb am | |
24. Juli 1941 an seine Eltern: „Der Russe ist ja kein Mensch in unserem | |
Sinne, sondern ein stumpfes, aber reißendes Tier.“ | |
In den ersten sechs Monaten nach dem 22. Juni ließ die Wehrmacht fast zwei | |
Millionen gefangene Rotarmisten verhungern. SS und Polizeibataillone | |
ermordeten nach dem 22. Juni 1941 eine halbe Million jüdische Zivilisten, | |
meist mit Genickschüssen. Das war Handarbeit, anstrengend, blutig, direkt. | |
Insgesamt kämpften zehn Millionen deutsche Soldaten in der Sowjetunion. | |
Mehrere Zehntausende waren in Zivilverwaltungen, Wehrmacht und | |
Einsatzgruppen direkt am Holocaust beteiligt. Kaum schätzen lässt sich, wie | |
viele brave deutsche Familienväter beteiligt waren an Geiselerschießungen | |
russischer Zivilisten, Brandschatzungen, der Logistik des alltäglichen | |
Terrors, der Ermordung von Kriegsgefangenen, Plünderungen, die für | |
Weißrussen den Hungertod bedeuteten. | |
Der deutsche Überfall kostete 27 Millionen Sowjetbürgern das Leben. Wenn | |
die Deutschen Frankreich, Dänemark und die Niederlande in eine solch | |
apokalpytische Landschaft verwandelt oder US-Gefangene so bestialisch | |
behandelt hätten – die Strafverschonung des Westens nach 1945 und die | |
Bundesrepublik in dieser Form hätte es nicht gegeben. | |
Es ist erstaunlich, dass es in Westdeutschland gelang, diesen jedes Maß | |
sprengenden Gewaltexzess nicht nur zu verschweigen, sondern in eine | |
diametral entgegengesetzte Erzählung einzubetten. Das Bild, das sich in der | |
Bundesrepublik 50 Jahre lang zäh hielt, war ein Gespinst aus Auslassungen | |
und Lügen. Man fühlte sich als Opfer, von Hitler, der Roten Armee. | |
## Die Laufbahn der Nazis | |
Diese Legende hatte bemerkenswerte Autoren. Sie stammte aus der Feder von | |
Generälen wie Erich von Manstein, der 1941 tatkräftig an dem Plan, „das | |
jüdisch-bolschewistische System auszurotten“, mitgewirkt hatte und in | |
dessen Memoiren Hitler der einzige Bösewicht war. Franz Halder, Chef des | |
Generalstabs des Heeres, hatte 1941 den berüchtigten Kommissarbefehl mit | |
verfasst. Nach 1945 setzte er in Publikationen „der übermenschlichen | |
Leistung des deutschen Soldaten ein Denkmal“ und bekam dafür 1961 von der | |
US-Armee einen Orden. | |
Noch spektakulärer war die Laufbahn des SS-Manns Paul Schmidt, | |
Pressesprecher des Außenministers bis 1945. Der beseelte NS-Propagandist | |
brachte es zum Erfolgsschriftsteller und engen Vertrauten von Axel | |
Springer. 1963 veröffentlichte er, unter dem Pseudonym Paul Carell den in | |
Spiegel, Bild und New York Times gelobten Bestseller „Unternehmen | |
Barbarossa“. Der enthielt alles, was schon SS-Mann Mann Schmidt wusste. Der | |
Überfall war kein Angriffskrieg, sondern, wie Goebbels 1941 verkündet | |
hatte, Notwehr „zur Abwehr der drohenden Gefahr aus dem Osten“. Und die SS | |
verteidigte Europa. | |
Frappierend ist nicht nur, wie viele Akteure des Vernichtungskrieges | |
straflos davon kamen. Sie färbten auch in Verlagen und Universitäten das | |
Bild dieses Kriegs in der Bundesrepublik bräunlich ein und dichteten, in | |
projektiver Schuldumkehr, dem Feind an, was Wehrmacht und SS ihm angetan | |
hatten. | |
Der Kitt, der dieses Gebäude aufrecht hielt, war der westdeutsche | |
Antikommunismus: Der Feind stand nach 1949 ja noch immer im Osten. Die | |
Grenzen zwischen dem demokratischen Antikommunismus von Konrad Adenauer und | |
postfaschistischem Rassismus war fließend. Wer in den 50er und 60er Jahren | |
offen antisemitisch auftrat, riskierte damit seine Karriere. Wer, wie Paul | |
Schmidt, den antislawischen NS-Rassismus nutzte, brachte es zum | |
Erfolgsautor. Die Teilung in jüdische Opfer, die das schlechte Gewissen der | |
Deutschen symbolisieren, und sowjetische Opfer, die nicht der Rede wert | |
sind, gilt im Kern bis heute. | |
## Mitgefühl bleibt rar | |
Die Selbstaufklärung begann spätestens 1978, mit Christian Streits Studie | |
„Keine Kameraden“, die zeigte, dass die Wehrmacht drei Millionen | |
sowjetische Kriegsgefangene aus rassistischen Motiven hatte sterben lassen. | |
In der historischen Wissenschaft war die Legende vom unschuldigen Landser | |
seit den 70er Jahren widerlegt. Doch erst die Wehrmachtsausstellung 1995, | |
gegen die CSU-Politiker und Rechtsradikale demonstrierten, machte das | |
Ausmaß der Verbrechen für die Öffentlichkeit sichtbar. Die heftige Debatte | |
um die Ausstellung endete mit dem überfälligen diskursiven Sieg der „Söhne… | |
über die „Täter“. Dieser Disput war vor allem eine deutsche | |
Selbstverständigungsdebatte. Die Opfer blieben indes Schattenrisse, Kulisse | |
des Schlusskapitels des bundesdeutschen Generationenromans. Mitgefühl für | |
die drei Millionen toten sowjetischen Kriegsgefangenen blieb rar. Warum? | |
Wohl weil die Rotarmisten stets die Möglichkeit der Rache verkörperten, die | |
die deutschen Täter schon in dem Moment gefürchtet hatten, als sie die | |
Massaker anrichteten. | |
2016 gibt es im Osten nichts Neues. In der ansonsten erinnerungsbeflissenen | |
Republik herrscht, wie der Historiker Götz Aly zu Recht kritisiert, zum 22. | |
Juni Gedenken auf Sparflamme. Keine Sonderausstellung in Museen, keine | |
Versöhnungskonzerte in Sankt Petersburg. Der Linksparteipolitiker Jan Korte | |
und der Grüne Volker Beck haben 2015 im Bundestag durchgesetzt, dass eine | |
Handvoll sowjetischer Kriegsgefangener Geld vom deutschen Staat bekommt – | |
74 Jahre danach. Ein Erfolg. Doch was fehlt, ist ein kräftiges Symbol, so | |
wie es Willy Brandts Kniefall 1972 oder Richard von Weizsäckers Rede 1985 | |
war. | |
Was fehlt, ist ein Signal an Moskau, das Weißrussland und die Ukraine | |
einschließt. Der nationale Wahn in Russland hat viele Gründe. Doch wenn es | |
ein verständliches Motiv für Einkreisungsängste gibt, dann ist es der 22. | |
Juni 1941. | |
Dieses Symbol wird es nicht geben. Mitunter erwähnen Repräsentanten der | |
Bundesrepublik die Verbrechen pflichtschuldig in Reden, die in kurzen | |
Zeitungstexten pflichtschuldig zitiert werden. Nachts werden im TV | |
Dokumentationen gesendet, die niemand sieht. Hat die Selbstaufklärung die | |
Legenden wirklich verdrängt? Oder waren die Nebelkerzen, die Paul Carell & | |
Co zündeten, effektiver? | |
22 Jun 2016 | |
## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
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