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# taz.de -- Kunstprojekt über Leningrad-Blockade: 900 Tage Hunger und Tod
> Warum ist die dreijährige deutsche Blockade Leningrads im Zweiten
> Weltkrieg hierzulande so wenig bekannt? Das fragt ein Hamburger
> Kunstprojekt.
Bild: Wo 700.000 Opfer ruhen: Mutter-Heimat-Denkmal auf dem Piskarjowskoje-Frie…
Sieht ein St. Petersburger heute einen Kinderschlitten, wird ihm mulmig
zumute. Denn auf Kinderschlitten transportierten die Bewohner des damaligen
Leningrad ab dem Herbst 1941 ihre Toten – verhungert oder erfroren,
umgebracht durch deutsche Artillerie. Drei Jahre lang, vom 8. September
1941 bis zum 27. Januar 1944, belagerte die deutsche Wehrmacht Leningrad;
im September 1941 schlossen Wehrmacht und Waffen-SS einen Ring um die
Stadt, woraufhin fast keine Lebensmittel mehr hinein gelangten.
Einzig über den winters zugefrorenen Ladogasee wurde Nahrung gebracht –
viel zu wenig für die damals zweieinhalb Millionen Einwohner der Stadt. Sie
mussten sich mit immer kleineren Brotrationen behelfen, Suppen aus
Tischlerleim essen, Krähen und Katzen, Vaseline und Glyzerin. Plünderungen,
Morde wegen Lebensmittelkarten, sogar Kannibalismus hat es in dieser Zeit
in Leningrad gegeben. 1,2 Millionen Menschen starben; viele kippten einfach
um auf den Straßen, in denen schon massenhaft Tote lagen.
Über diese Belagerung, eines der größten Verbrechen der Wehrmacht während
des Zweiten Weltkriegs, ist in Deutschland überraschend wenig bekannt. Um
dem abzuhelfen, hat das Goethe-Institut Moskau/St. Petersburg gemeinsam mit
dem Hamburger Kunstverein und dem Metropolis-Kino eine Ausstellung
konzipiert, dazu ein Filmprogramm und ein Symposion. „900 und etwa 26.000
Tage“, dieser Projekttitel erklärt sich leicht: Die Blockade dauerte 900
Tage und liegt inzwischen rund 26.000 Tage zurück. Genau das seien die
beiden interessanten Pole, sagt Astrid Wege, Kulturprogramm-Chefin des
Goethe-Instituts. „Einerseits geht es um die historischen Fakten und
andererseits um Formen des Erinnerns – sowohl in Russland als auch in
Deutschland.“
14 deutsche und russische Künstler haben sich daher zur Vorbereitung
voriges Jahr in St. Petersburg getroffen: um über Fakten und Gedenkkulturen
zu sprechen und der offiziellen, oft statischen Mahnmalskultur eine
künstlerisch-performative entgegenzusetzen. Und um zu eruieren, wie groß in
Russland die Kluft zwischen offiziellem und privatem Gedenken ist – und
warum Deutschland der „Blokada“ nur so spärlich gedenkt.
In Russland habe man „lange nicht offiziell über die individuelle
traumatische Erfahrung dieser Blockade sprechen“ können, sagt die
Historikerin Ekaterina Makhotina von der Münchner
Ludwig-Maximilians-Universität, die in Hamburg den Eröffnungsvortrag halten
wird. Der Diskurs in der Sowjetunion über den Krieg und die Vergangenheit
war lange ein heroischer; wer die Blockade überlebt hatte, galt allein
aufgrund dessen als „Held“.
Erst in den 1970er-Jahren konnten Überlebende, etwa die Autoren Ales
Adamowitsch und Daniil Granin, Sammelbände mit Blockade-Tagebüchern
herausgeben, die allerdings zensiert wurden. Zu den eindrucksvollsten zählt
das von Tanja Savitschewa: „13. April um 2 Uhr morgens – Onkel Wasja
starb“, schreibt die damals Zwölfjährige. „11. Mai um 4 Uhr nachmittags �…
Onkel Joscha starb. 13. Mai um 7.30 Uhr morgens – Mama starb. Die
Savitschews sind tot. Alle tot. Nur Tanja ist noch übrig.“ Passagen aus den
Aufzeichnungen Savitschewas, die 1944 starb, zwei Jahre nach ihrer
Evakuierung, dienten in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen 1945 und
1946 als Beweismaterial. Zudem seien sie an fast allen russischen
Denkmälern für die Blockade eingemeißelt, berichtet Makohtina.
## Zeugnisse des Grauens
Überhaupt: Tagebücher „führten die Menschen während der Leningrad-Blockade
massenhaft“, sagt Makhotina, die selbst aus St. Petersburg stammt. „Die
Menschen haben sich vom Hunger abgelenkt, haben minutiös notiert, was sie
an dem Tag gegessen hatten, um sich zu disziplinieren und nicht die ganze
Brotration auf einmal zu essen.“ Es gebe also viele persönliche Zeugnisse
des Grauens; das habe auch die Öffnung weiterer russischer Archive in den
1990er Jahren gezeigt.
„Trotzdem: Wenn heutzutage in Russland am 9. Mai der Tag des Sieges
gefeiert wird, ist das primär eine heroische Erinnerung“, so Makhotina.
„Aber viele Leningrader leisten an diesem Tag auch persönliche Trauerarbeit
und gehen zum Piskarjowskoje-Gedenkfriedhof, wo rund 500.000 der insgesamt
1,2 Millionen Blockade-Opfer beigesetzt sind.“ Und Hamburg, das seit 1957
eine Städtepartnerschaft mit dem heutigen St. Petersburg pflegt? Als die
besiegelt wurde, „hat die Sowjetunion mit keinem Wort an die Blockade
erinnert“, sagt Axel Schildt, Direktor der Hamburger Forschungsstelle für
Zeitgeschichte, der beim Symposion über „eine Städtepartnerschaft im Kalten
Krieg“ sprechen wird. „Es ging da wohl eher um Entspannung.“
Auch ein Mahnmal für die Blockade-Opfer gibt es in Hamburg nicht. „Das zu
initiieren ist nicht Ziel des Projekts“, sagt Bettina Steinbrügge, Chefin
des Hamburger Kunstvereins. „Aber wir können auf diese Leerstelle hinweisen
und das Thema in der Öffentlichkeit platzieren.“ Und das auf verschiedenen
Ebenen: Von einer „Hungerküche“-Performance mit Rezepten aus der
Blockadezeit über den Umgang mit Dunkelheit – Leningrad hatte während der
Blokada nur selten Strom – bis zur Reflexion der letzt- und diesjährigen
Künstlerbegegnung reichen die Installationen und Performances im
Kunstverein. Begleitend zeigt das kommunale Kino Metropolis ein
vierteiliges Filmprogramm aus alten und neueren Dokumentationen.
Dabei wird es nicht zuletzt um das Schließen von Wissenslücken gehen. Denn
es ist nicht nur zu vermerken, dass im belagerten Leningrad trotz aller Not
Bibliotheken, Theater und Schulen funktionierten und am 9. August 1942
sogar Schostakowitsch‘ Siebte, die „Leningrader“ Sinfonie, aufgeführt
wurde. Nein, in Russland kursiert auch immer mal wieder die Frage, ob sich
die Hungertoten Leningrads nicht durch eine Kapitulation hätten verhindern
lassen können. „Dabei ist historisch längst belegt, dass Hitler befohlen
hatte, ein eventuelles Kapitulationsangebot nicht anzunehmen“, sagt
Makhotina. „Sein Ziel war die Vernichtung der Bevölkerung.“
Leningrad, sagt auch Schildt, sei für Hitler genauso symbolbehaftet gewesen
wie Stalingrad: „Diese Städte trugen die Namen seiner politischen und
ideologischen Widersacher, und deshalb wollte er sie auslöschen.“ Warum
sich die Deutschen bis heute weit stärker an den Kampf um Stalingrad
erinnern als an die Leningrad-Blockade, kann der Historiker nur vermuten.
„Vielleicht liegt es daran, dass Stalingrad massenhaft deutsche Opfer
forderte – und Leningrad nicht.“ Auch die Sowjetunion habe den
Blockade-Opfern lange keine Stimme gegeben, unterstreicht Makhotina. Sie
seien einfach nicht öffentlich sichtbar gewesen.
14 Oct 2015
## AUTOREN
Petra Schellen
## TAGS
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