# taz.de -- Neuauflage von „Odyssee in Rot“: Linsen, in Stalingrad geschlif… | |
> Heinrich Gerlach beschrieb als einer der ersten das wahre Gesicht der | |
> deutschen Wehrmacht. Sieben Jahre verbrachte er in sowjetischen Lagern. | |
Bild: Deutsche Soldaten in Stalingrad gehen 1943 in sowjetische Kriegsgefangens… | |
„Bücher haben ihre Schicksale“ – die Phrase verharmlost das Wichtigste: | |
Erstens, dass Bücher Autoren haben und deren Schicksal oft mehr zählt als | |
das des Buchs. Und zweitens, dass es Schicksale von Autoren und Büchern | |
gibt, die unvorstellbar sind oder zumindest waren vor dem schrecklichen 20. | |
Jahrhundert. Auf Heinrich Gerlachs Buch „Odyssee in Rot. Bericht einer | |
Irrfahrt“, das 1966 erstmals erschienen ist und jetzt wieder aufgelegt | |
wurde, treffen beide Verschärfungen zu – diejenige des Schicksals des | |
Autors und diejenige des Schicksals seiner Bücher. | |
Heinrich Gerlach (1908–1991) war Gymnasiallehrer und wurde 1939 von der | |
Wehrmacht eingezogen für die Kriege gegen Frankreich und Jugoslawien und ab | |
Juni 1941 gegen die Sowjetunion. Zuletzt geriet er in die Schlacht von | |
Stalingrad (November 1942 bis Januar 1943) und kam schwer verwundet in | |
sowjetische Gefangenschaft. | |
Während seiner Gefangenschaft in verschiedenen sowjetischen Lagern bis 1950 | |
schrieb er einen 600 Seiten umfassenden Erlebnisbericht über die Schlacht | |
von Stalingrad in Romanform. Vor seiner Entlassung wurde das Manuskript | |
konfisziert. Carsten Gansel entdeckte das verloren geglaubte Manuskript in | |
einem Moskauer Archiv und veröffentlichte es 2016 unter dem Titel | |
„Durchbruch bei Stalingrad“. Bereits 1957 erschien „Die verratene | |
Revolution. Ein Stalingradroman“, der auf einer mithilfe eines Hypnotiseurs | |
aus dem Gedächtnis rekonstruierten Fassung beruht, die Gerlach nach dem | |
Krieg verfasste. | |
Der Hypnotiseur erstritt sich übrigens ein Erfolgshonorar, nachdem sich der | |
Roman sehr gut verkauft hatte. Aber der Roman kam 1957 definitiv zur | |
falschen Zeit. Adenauer hatte gerade – und erstmals in der Geschichte der | |
BRD – eine absolute Mehrheit errungen. In der Literatur waren kitschige | |
Landserromane gefragt und nicht die seriöse Auseinandersetzung mit der | |
Vergangenheit. Hans Helmut Kirsts Roman „08/15“, verfilmt mit Joachim | |
Fuchsberger in der Hauptrolle, verkaufte sich 450.000 Mal, und Fritz Wölls | |
„Hunde wollt ihr ewig leben“ (1958) 780.000 Mal. Solche „Heldenschnulzen�… | |
(Heinrich Gerlach) hatten 1957/58 Konjunktur mit nicht weniger als 400 | |
Titeln, wie der kundige Herausgeber Carsten Gansel herausfand. | |
## Rekonstruktion aus dem Gedächtnis | |
Diese Konjunktur brachte auch die Politik in Bewegung. Adenauers Republik | |
finanzierte eine Kommission für „Kriegsgefangenengeschichte“ unter Leitung | |
des Altnazis Erich Maschke, der dem Beraterstab Arthur Rosenbergs angehört | |
hatte und 1956 in Heidelberg Professor wurde. Der Klub aus Naziveteranen | |
produzierte 22 Bände propagandistischer Prosa im Geist des Kalten Kriegs, | |
die Kriegsgefangenen wie Heinrich Gerlach ins Gesicht schlugen. In dieser | |
politisch völlig verbiesterten Atmosphäre machte sich Gerlach an die | |
Niederschrift seiner „Odyssee in Rot“. | |
Dieses Buch, das jetzt mustergültig ediert wieder vorliegt, ist ein | |
einziger Protest gegen das „Bilderbuchheldentum“ (Gerlach) der angeblich | |
sauberen Wehrmacht, das die Adenauer-Partei und die FDP genauso hochhielten | |
wie die NPD und die Veteranenvereinigungen. Gerlach erinnerte sich dagegen | |
an den Krieg, wie er wirklich war: Die Wehrmacht operierte vom ersten Tag | |
des Kriegs gegen die Sowjetunion verbrecherisch: „Ein eingezäuntes Feld [. | |
. .] Darin waren 500 sowjetische Offiziere, dicht zusammengedrängt am Boden | |
liegend. An den Ecken Wachttürme, mit Scheinwerfern und Maschinengewehren | |
bestückt . . . Morgens lagen dort 500 Tote.“ Gerlachs Bericht ist völlig | |
frei von der nationalsozialistischen Propaganda, die in der BRD lange | |
nachhallte. Dieser Propaganda zufolge sah sich die Wehrmacht einem | |
barbarischen Feind gegenüber, dem nur mit barbarischen Mitteln zu begegnen | |
gewesen sei. | |
Mit den Erfahrungen gefangener Deutscher deckte sich das nicht. Offiziere | |
bildeten im Lager Jelabuga eine Gruppe, aus der mit sowjetischer | |
Unterstützung im Juli 1943 das Nationalkomitee Freies Deutschland (NKFD) | |
hervorging. Zur Unterstützung gehörte, dass neben den 20 Offizieren auch | |
ein Dutzend kommunistische Emigranten zu den Gründungsmitgliedern stießen – | |
darunter die Schriftsteller Johannes R. Becher, Erich Weinert und Willi | |
Bredel und die späteren DDR-Politiker Walter Ulbricht, Wilhelm Pieck und | |
Edwin Hoernle. Da diese KPD-Mitglieder das Komitee politisch dominierten, | |
gründeten 95 deutsche Offiziere in Gefangenschaft im Herbst 1943 den „Bund | |
deutscher Offiziere“ (BDO), dem auch Heinrich Gerlach angehörte. | |
Gerlach beschreibt in der „Odyssee in Rot“ unter dem Namen Richard Breuer | |
sein Leben während der sieben Jahre (1943–1950) in verschiedenen Lagern und | |
porträtiert dabei auch viele Mithäftlinge zum Teil unter deren Namen. Er | |
verstand sein Werk jedoch weder als „Roman“ noch als „Anklage“ oder | |
„Rechtfertigung“, sondern als „Bericht“, obwohl er nur über wenige | |
schriftliche Quellen verfügte und praktisch alles aus dem Gedächtnis | |
beziehungsweise aus Gesprächen mit ehemaligen Mithäftlingen nach dem Krieg | |
in langjähriger Arbeit neben seinem Beruf als Lateinlehrer rekonstruieren | |
musste. | |
## Keine Spur Selbstmitleid | |
Dieser Balanceakt zwischen Fiktion und Dokumentation gelingt auch deshalb, | |
weil sich Gerlach einer schlanken, am Lateinischen orientierten und | |
unpathetischen Prosa bedient, selbst wenn er über unglaubliche Strapazen | |
des Lagerlebens, zwischenmenschliche Gemeinheiten, unmenschliche Zumutungen | |
und Intrigen der Lagerleitung berichtet, dabei aber nie vergisst, dass die | |
Überlebensbedingungen in Offizierslagern besser waren als in Gefangenlagern | |
für Soldaten oder gar Arbeits- und Straflagern. | |
In Gerlachs Bericht findet sich nicht die Spur von Larmoyanz oder | |
Selbstmitleid. Er sieht die Gefangenschaft nüchtern: „Kein Schritt mehr | |
allein, aus eigenem Antrieb. Preisgegeben fremdem Willen.“ Und er | |
reflektiert zusammen mit anderen Gefangenen in der „Zeitwüste“ des | |
Lagerlebeneinerleis darüber, wie es dazu gekommen ist und warum die Phrasen | |
von „Freund, Feind, Offizier, Haltung, Ehre, Treue, Tapferkeit, Eid“ auf | |
den „Leichenhügeln von Stalingrad“ verrotteten. | |
Gerlach und seine Kameraden sahen den Krieg, in dem sie verheizt wurden, | |
„durch die Linsen, die in Stalingrad geschliffen“ wurden, und nicht mehr | |
aus der sicheren Distanz von Stabsoffizieren an ihren Schreibtischen oder | |
der von Veteranen in behaglichen Wohnungen in der Nachkriegszeit. Ernst | |
Hadermann, Studienrat aus Kassel, erkannte: „Wir haben es gewusst, und wir | |
sind mitmarschiert“, bis „die Welt von gestern“ in Stalingrad „zerbrach… | |
Freilich bekamen es Offiziere wie Gerlach, Hadermann oder Carl Fleischer | |
außer mit der Lagerleitung schnell mit zwei weiteren Gegnern zu tun: auf | |
der einen Seite mit unbelehrbaren Nazioffizieren, die an der Fiktion eines | |
„Endsiegs gegen das bolschewistische Untermenschentum“ glaubten, und auf | |
der anderen Seite mit linientreuen Kommunisten im NKFD. Mit diesen strebten | |
sie ein Bündnis gegen Hitler und für Frieden und Demokratie an. | |
## Arbeitslager als Drohkulisse | |
Doch wurde dieses Bündnis immer wieder auf die Probe gestellt, weil | |
deutsche Kommunisten, mit der sowjetischen Staatsmacht und der Lagerleitung | |
im Rücken, den gefangenen Offizieren offen mit der Abschiebung in | |
Arbeitslager drohten, um aus ihnen dort „gute Antifaschisten“ (Walter | |
Ulbricht) zu machen. Da alle zu dieser Drohung schwiegen, schloss Gerlach: | |
„Der ‚Bund der Offiziere‘ war tot.“ | |
Gerlach widerstand lange dem Spitzelsystem und den Anwerbungsversuchen des | |
sowjetischen Geheimdienstes, der eine „Mitarbeit“ mit der Repatriierung | |
belohnte. Er hielt sich an „die Regel eins für Gefangene: Stolzes | |
Schweigen“ und bezahlte dafür teuer. | |
Schließlich gab er zermürbt nach, erklärte sich zur „Mitarbeit“ bereit, | |
floh aber sofort aus der DDR nach Westberlin und von dort nach | |
Westdeutschland. Der Herausgeber Carsten Gansel hat zum Buch ein Nachwort | |
geschrieben, das dessen Entstehung im Klima des Kalten Kriegs sehr gut | |
dokumentiert. | |
31 Jul 2017 | |
## AUTOREN | |
Rudolf Walther | |
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