# taz.de -- Werkausgabe für Hermann Borchardt: Ein abgründiger Provokateur | |
> Für Brecht war er der größte lebende Satiriker in deutscher Sprache. Nun | |
> kann er wieder entdeckt werden: der Schriftsteller Hermann Borchardt. | |
Bild: Lichtbild des Schriftstellers Hermann Borchardt 1933 | |
„Lass uns das Kriegsbeil begraben!“ Dieser sprechende Titel des | |
[1][Briefwechsels der Freunde George Grosz und Hermann Borchardt] bildete | |
2019 die 500-seitige Ouvertüre der auf fünf Bände geplanten Werkausgabe zu | |
Hermann Borchardt. | |
Eine Auswahl autobiografischer Schriften liegt nun als erster Band vor und | |
speist sich vornehmlich aus dem im Deutschen Exilarchiv der Deutschen | |
Nationalbibliothek in Frankfurt am Main bewahrten Nachlass Borchardts. | |
Seine Lebensstationen lauteten: Berlin, Paris, Minsk, Sachsenhausen, | |
Esterwegen, Dachau, New York. Wie passt das zusammen? | |
Der zum Auftakt abgedruckte Text „Der Club der Harmlosen. Wahre Geschichte | |
meines Lebens“ erweist sich als trügerisches Versprechen. Die versprochene | |
Selbstauskunft bleibt uneingelöst. Der Ich-Erzähler entzieht sich dem | |
neugierigen Leser zugunsten eines romanhaften Geschehens im wilhelminischen | |
Berlin, das kaum mit dem wahren Leben des Autors in Verbindung gebracht | |
werden kann. | |
Zumindest gesteht Borchardt seinen Lesern vorab: „Auch muß ich diejenigen | |
enttäuschen, die viel von meiner Person wissen wollen; aber ich habe zu | |
wenig selbst erlebt, meistens nur dabeigestanden, wenn etwas erlebt wurde, | |
bis zu meinem sechsundvierzigsten Jahr, als die Geheime Staatspolizei mich | |
in’s Konzentrationslager schaffte.“ | |
## „Tägliche Anzapfungen“ | |
Doch der Reihe nach: Der 1888 in Berlin geborene Hermann Joelsohn | |
arbeitete nach seinem mit Promotion abgeschlossenen Studium als Lehrer für | |
Latein, Deutsch und Geschichte an Gymnasien in Berlin. Ganz offensichtlich | |
ein Brotberuf, denn wie Borchardt sagte: „Studienrat bin ich nicht aus | |
Einsicht oder Passion geworden, sondern weil in der Inflation unser | |
Vermögen dahinschwand.“ | |
Bis 1925 behält er den jüdischen Familiennamen seines Vaters, nahm dann | |
wegen des spürbaren Antisemitismus (Borchardt spricht von „täglichen | |
Anzapfungen“) den Familiennamen seiner Mutter an. | |
Borchardts Verhältnis zur eigenen jüdischen Herkunft ist eher schwierig. | |
Als er im Frühjahr 1934 über die Möglichkeiten einer Emigration in die USA | |
und über Unterstützungszahlungen durch ein jüdisches Hilfskomitee | |
nachdachte, schrieb er an George Grosz: „Ich werde stumm, wenn ich über | |
mein Schlemihltum nachdenke.“ | |
Ein Jahr zuvor war Borchardt von Grosz ironisch „als jüdischer Staatsbürger | |
deutschen Glaubens“ bezeichnet worden. Von einem Lehrerkollegen wurde | |
Borchardt wegen einer angeblich antideutschen Abituraufgabe denunziert. | |
## Kein Emigrantengemauschel | |
Er floh zunächst allein über die Tschechoslowakei und die Schweiz nach | |
Paris, wohin ihm seine Frau mit den beiden Kindern folgte. Auch wenn er die | |
Cafès der Emigranten mied, das „Emigrantengemauschel“ nicht hören wollte, | |
war Borchardt vom französischen Exil durchaus fasziniert: „Ich bin | |
hingerissen, noch immer … von den kaufenden, genießenden Menschen, der | |
Apéritifs, dem Klappern der Billards … Ich verstand kein Französisch, | |
niemand nahm es übel. Universitätsprofessoren luden mich ein … erkundigten | |
sich nach Hitler wie nach der sagenhaften Seeschlange von Loch Neß, und | |
gibt es irgendwo auf der Welt eine herzlichere Straße als die Seineufer von | |
St. Michel …“ | |
Trotz dieser Begeisterung entschied er sich gegen eine Anstellung in Dijon, | |
aber im Januar 1934 für eine Professur für deutsche Sprache in Minsk. | |
Erstaunlich. Borchardt war durch Grosz Mitte der zwanziger Jahre mit | |
Schriftstellern und Künstlern wie Wieland Herzfelde, John Heartfield, | |
Walter Mehring in Verbindung gekommen. Einige Monate war er auch Mitglied | |
der KPD. Seit 1924 veröffentlichte er in der parteinahen Satirezeitschrift | |
Der Knüppel literarische Texte und Spottgedichte. | |
Mitte der Zwanzigerjahre entfremdeten sich Borchardt wie Grosz zusehends | |
von der Partei und ihren Doktrinen. Borchardt im Jahr 1927 an Grosz: „Die | |
Marxisten sind Dummköpfe, lieber Böff.“ Er wandte sich entschieden gegen | |
die „Massenbezüngler und die, die vor Gesinnung sich selbst nicht mehr | |
kennen, weil ihnen ihre Maske festgewachsen ist wie Herz und Haut“. | |
Dass er sich gleichwohl zur Übersiedelung in die Sowjetunion entschloss und | |
dort eine Stellung als Sprachlehrer antrat, lässt sich vermutlich nur mit | |
der bescheidenen Situation im französischen Exil sowie der adäquaten | |
beruflichen Perspektive in Minsk erklären. Kurz vor seiner Abreise nach | |
Weißrussland schrieb er an Grosz, er begebe sich in „pauvreté, Kälte, | |
Verstellung und Maulhalten: alles Sachen, die ich so gut leiden kann“. | |
## Erstmal für ein deutsches Lesepublikum | |
Es kann kaum verwundern, dass Borchardts Aufenthalt in der von ihm ironisch | |
als „Arbeiterparadies“ bezeichneten Sowjetunion nur zwei Jahre währte. | |
Unter der Überschrift „Ich lehre Deutsch in Minsk“ versammeln die | |
Herausgeber vornehmlich im amerikanischen Exil veröffentlichte Texte | |
Borchardts, die nun erstmals ein deutsches Lesepublikum erreichen. Ähnlich | |
wie André Gide und gänzlich anders als der beschönigende Lion Feuchtwanger | |
schilderte Borchardt die trüben Lebensverhältnisse fern von Moskau. | |
Aus seinen Texten spricht der Widerwille gegen politische Kontrolle, | |
politische Dreinrede und pädagogische Bevormundung. Als er sich weigerte, | |
die russische Staatsbürgerschaft anzunehmen, wurde er unter dem Vorwurf | |
konterrevolutionärer Agitation im Januar 1936 des Landes verwiesen. In | |
seiner Hilflosigkeit suchte das Ehepaar Borchardt, nach | |
nationalsozialistischer Terminologie eine „Mischehe“, Zuflucht in | |
Deutschland. | |
Desillusioniert kehrte Borchardt zurück, es sei aus ihm „kein | |
aufbaufreudiger Sowjetmensch“ geworden, wie er an Grosz schrieb. Die zwei | |
Jahre in Minsk hätten, „was ich in meiner Jugend und bis 1933 noch für | |
möglich und wünschbar gehalten habe, nach und nach bis auf den Rest | |
verschüttet.“ | |
Borchardts „Lehrjahre“ waren mit der Rückkehr nach Deutschland keineswegs | |
beendet. Auch wenn Borchardt dank seines Namens sein Judentum unsichtbar | |
gemacht hatte, stand er als ein aus dem sowjetischen Exil Zurückgekehrter | |
sofort unter polizeilicher Beobachtung und wurde im Juli 1936 verhaftet. | |
Unter der Überschrift „Ein Jahr meines Lebens“ fassen die Herausgeber von | |
Borchardt gesammelte „Lagerbuch-Fragmente“ zusammen, die seinen erzwungenen | |
Aufenthalt in den Konzentrationslagern Sachsenhausen, Esterwegen und Dachau | |
schildern. | |
## Nüchterne Beschreibung der Lagerrealität | |
Erlebnisse, die, wie Borchardt schrieb, ohne „romantische Beleuchtung“ | |
auskommen, wie sie in bekannter Lagerliteratur, zum Beispiel Willi Bredels | |
Roman „Die Prüfung“ vorkommt und die insbesondere kommunistische | |
Lagergemeinschaft heroisierte. Borchardt beeindruckt durch Nüchternheit in | |
der Beschreibung der Lagerrealität, der menschenverachtenden Brutalität der | |
SS-Bewacher. | |
Borchardt beschreibt die vulgäre wie bedrohliche Befragung durch die SS, | |
die tägliche Drangsalierung und Willkür gegenüber den Gefangenen, | |
kulminierend in angedrohten wie vollzogenen Prügelstrafen. | |
Halsschnürend liest sich Borchardts Text: „Ich grabe mein Grab.“ Im fernen | |
New York schrieb Grosz: „Menschlich auch einer dieser Grenzfälle, die nicht | |
in die amtlichen Korrespondenzen und behördlich genehmigten Ansichten | |
passen. Der Mann, dem die ‚Wahrheit‘ das liebste Hobby war – und nun daf�… | |
bezahlt. Erst fliegt er aus dem freiesten Arbeetaparadies raus, und dann, | |
in der freiesten Diktatur, wird er ins Konzentrationslager gesperrt.“ | |
Es waren Eva und George Grosz, die für Borchardt ein Affidavit für die | |
Einreise in die USA besorgten, der Hilfsverein deutscher Juden zahlte die | |
Schiffspassage. Im Mai 1937 aus der Haft entlassen, erreichte Borchardt mit | |
Familie einen Monat später New York. | |
Es ist ein Verdienst der Herausgeber dieser Werkausgabe, dass ein schon zu | |
Lebzeiten weitgehend unbekannter, nach seinem Tod 1951 fast völlig in | |
Vergessenheit geratener Schriftsteller nunmehr kenntnisreich vorgestellt | |
wird. Kritische Leser mögen prüfen, ob sie Bertolt Brecht zustimmen, der | |
urteilte, Borchardt sei „bösartig wie viele moralisten, ein abgründiger | |
provokateur, übertreiber von beruf als satiriker.“ Mit Spannung darf man | |
auf die weiteren Bände dieser literarischen Neuentdeckung warten. | |
4 Jul 2021 | |
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## AUTOREN | |
Wilfried Weinke | |
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