# taz.de -- Erhard Eppler über die Wehrmacht: „Die Verbrechen sind weiße Fl… | |
> Vor 75 Jahren überfiel die deutsche Wehrmacht die UdSSR. Die Aufarbeitung | |
> des damaligen Unrechts wurde über Jahrzehnte kaum angegangen. | |
Bild: Das Ende folgte in Stalingrad | |
taz: Herr Eppler, wie haben Sie den 22. Juni 1941 erlebt? | |
Erhard Eppler: Das weiß ich noch genau. Da war ich auf einem Sportfest der | |
Hitlerjugend. Da ging es um Weitsprung, Ballwerfen und 100-Meter-Lauf. Und | |
da wurde dann über Lautsprecher mitgeteilt, was da an der Grenze zur | |
Sowjetunion passierte. | |
Und wie reagierten die Sportler? | |
Zuerst einmal mit großer Überraschung. Es gab ja einen Nichtangriffspakt, | |
der noch keine zwei Jahre alt war. Natürlich konnten wir jungen Leute noch | |
nicht wissen, was das auch für uns selbst bedeuten wird. Von einer | |
Begeisterung kann trotzdem keine Rede sein. Eher von dumpfen Ahnungen. | |
Was ahnten Sie persönlich? | |
Ich hatte ja schon ein bisschen was von Geschichte gehört. Von Napoleon und | |
von allen Versuchen, dieses riesige Reich zu erobern. Und das hat natürlich | |
gewirkt. | |
Wie haben Sie den Krieg gegen die Sowjetunion in den folgenden vier Jahren | |
erlebt? | |
Mit knapp 18 Jahren kam ich als Soldat an die Westfront, aber in eine | |
Kompanie, die lange Zeit im Osten war. Vor dem Einschlafen haben die | |
Obergefreiten davon erzählt, wie es dort zugegangen ist. So habe ich einige | |
schauerliche Geschichten erfahren. | |
Zum Beispiel? | |
Wie man mit Gefangenen umging. Mehr als drei Millionen sowjetischer | |
Gefangener sind schlicht verhungert. Man hatte den deutschen Soldaten | |
gesagt, die Sowjetvölker seien rassisch minderwertig, und ein sowjetischer | |
Soldat sei etwas anderes als ein deutscher, französischer oder englischer. | |
Und entsprechend haben sich die Deutschen häufig verhalten. | |
Ihre Kameraden wussten also von den Verbrechen, haben sie aber nicht als | |
Unrecht wahrgenommen? | |
Zumindest nicht ausreichend. Es gab sogar Soldaten, die mit dem Nazismus | |
eigentlich nichts am Hut hatten, die die Partei richtig hassten und die | |
trotzdem der Meinung waren, man könne in Russland anders handeln als in | |
Frankreich. Da kam auch der Stolz der höheren Zivilisation raus: Wenn man | |
auf den Dörfern nur Plumpsklos gefunden hat, dann fühlte man sich eben | |
unendlich überlegen. | |
Auch in der Bundesrepublik gab es später jahrzehntelang keine kritische | |
Auseinandersetzung mit den Verbrechen im Osten. Warum nicht? | |
Der Kalte Krieg verhinderte eine wirkliche Beschäftigung mit diesem | |
kriminellen Feldzug. Wir Deutschen wissen sehr genau, was in Oradour in | |
Frankreich passierte, wo ein Dorf samt Einwohnern ausgelöscht wurde. Wir | |
wissen aber nicht, dass es allein in Weißrussland mehr als 200 solcher | |
Oradours gab. Im Kalten Krieg war es eben nicht opportun, darüber zu | |
forschen. Deshalb hat noch in den Neunziger Jahren die | |
Wehrmachtsausstellung vom Reemtsma einen solchen Aufruhr erzeugt. | |
1995 haben Sie in Stuttgart auf der Ausstellungseröffnung gesprochen. War | |
das eine schwierige Rede? | |
Ja, so wie die am Mittwochabend auch eine schwierige Rede ist. Es geht | |
darum, den ganzen kriminellen Charakter dieses Krieges darzustellen, ohne | |
den Eindruck zu erwecken, alle Soldaten seien Kriminelle gewesen. Mein | |
Bruder ist in Russland umgekommen. Er war Leutnant bei den Funkern, und | |
wenn er in den Heimaturlaub kam, verlor er nie ein ungutes Wort über die | |
Russen. Er kannte die ganzen kriminellen Befehle zwar, aber er musste sie | |
nicht ausführen. | |
Auch ein Funker war Teil der Maschinerie. Und drei Millionen Gefangene | |
starben nicht durch Zufall. | |
Das war eine Entscheidung der Wehrmachtsführung. Die Frontsoldaten waren | |
daran nicht beteiligt, die Gefangenenlager waren ja weiter hinten, und | |
viele in Deutschland. Und auch die Wachen bestimmten nicht über die | |
Ernährung. Das geschah ganz oben. | |
Die Wachen haben keine Schuld auf sich geladen? | |
Natürlich haben sie Schuld auf sich geladen. Aber in dem Augenblick, in dem | |
sie die Leute rausgelassen hätten, wären sie selbst vor einem | |
Exekutionskommando gelandet. | |
Die Wehrmachtsausstellung ist jetzt zwanzig Jahre her, der Kalte Krieg fast | |
dreißig. Sind die Verbrechen im Osten inzwischen präsent genug? | |
Sie sind immer noch ein weißer Fleck. Der 22. Juni ist im politischen | |
Kalender immer noch nicht präsent. Und soweit ich weiß, haben weder die | |
Bundesregierung noch der Bundespräsident die Absicht, sich zum 75. | |
Jahrestag dieses Datums zu äußern. | |
Was wäre denn angemessen? | |
Ich wünsche mir ein Zeichen, dass wir diesen schrecklichen Teil unserer | |
Vergangenheit nicht vergessen haben. Es würde mir schon reichen, wenn der | |
Bundespräsident am sowjetischen Ehrenmal, wo ich am Mittwoch reden soll, | |
einen Kranz niederlegen würde. | |
Die Politprominenz macht sich rar, weil der Jahrestag vor dem Hintergrund | |
des Ukrainekonflikts stattfindet. Das erschwert das Gedenken. Auch für Sie? | |
Meine Rede am Mittwochabend ist wahrscheinlich noch schwieriger als die bei | |
der Wehrmachtsausstellung, weil ich darin auch meine politischen | |
Folgerungen ziehe. Auch zum jetzigen Verhältnis zu Russland. | |
Welche Folgerungen ziehen Sie? | |
Um es mit Frank-Walter Steinmeier zu sagen: So können wir nicht | |
weitermachen. | |
Der Angriff auf die Sowjetunion war nicht nur ein Angriff auf Russland, | |
sondern auf alle Völker der Sowjetunion. Auch auf Ukrainer und Balten. | |
Da haben sie recht. Aber weil wir uns mit den Schrecken dieses Krieges | |
nicht befasst haben, sprechen wir noch heute mit einem Gefühl der | |
moralischen Überlegenheit über die Russen und ihren Präsidenten, auch in | |
den Medien. Dieses Gefühl hat keinerlei Berechtigung. | |
Muss man zwischen Weltkrieg und Putin nicht unterscheiden? | |
Natürlich. Aber wenn der Herr Netanjahu in Israel etwas | |
Völkerrechtswidriges tut, sagen wir höchstens, dass wir das nicht wollen. | |
Punkt. Russland und seinen Präsidenten behandeln wir dagegen polemisch. Im | |
einen Fall haben wir akzeptiert, was da Schreckliches passiert ist. Und im | |
anderen Fall nicht. | |
Mit der gleichen Begründung könnten die Ukrainer Rücksicht verlangen. Auch | |
sie haben unter dem Krieg der Deutschen gelitten. | |
Sicher. Nur polemisieren wir in Deutschland ja nicht gegen die Ukraine – | |
obwohl dort viel Kritikwürdiges geschieht –, sondern gegen Russland und | |
seinen Präsidenten. Ohne jede Hemmung. Immer mit diesem Gefühl: Wir sind | |
moralisch überlegen. | |
Dennoch könnten Ihnen Ukrainer vorwerfen: Sie wollen nicht verstehen, dass | |
unsere Angst vor den Russen ebenfalls mit der Geschichte zusammenhängt – | |
und mit den Schrecken des Weltkriegs. | |
Dazu werde ich am Mittwoch auch ein paar Worte sagen. Das Thema Russland, | |
Ukraine und EU ist nur so kompliziert, dass ich es jetzt nicht in zwei | |
Worten zusammenfassen kann. Ich wäre aber gerne bereit, dazu einmal einen | |
Artikel in der taz zu schreiben. | |
Vielen Dank für das Angebot. Wir melden uns bei Ihnen. | |
22 Jun 2016 | |
## AUTOREN | |
Tobias Schulze | |
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