| # taz.de -- Historikerin über Gedenkkultur: „Konstruktion einer Ideologie“ | |
| > Putin entwirft ein mächtiges Russland und schürt antiwestliche | |
| > Ressentiments. Das erinnert an die 1930er, sagt die Historikerin Irina | |
| > Scherbakowa. | |
| Bild: Der russische Präsident Wladimir Putin auf einer Militärparade zum 9. M… | |
| taz: Frau Scherbakowa, in Russland gibt es diesen Spruch: Wladimir Putins | |
| größter Sieg sei der von 1945. Erinnert man sich an die gigantische | |
| Militärparade zum 9. Mai in diesem Jahr, scheint da etwas Wahres dran zu | |
| sein. Warum ist der Zweite Weltkrieg heute so wichtig? | |
| Irina Scherbakowa: Der „neue Mensch“ sieht in Russland sehr alt aus. Das | |
| liegt daran, dass keine gesellschaftliche Gruppe eine Zukunftsperspektive | |
| oder Utopie anzubieten hat. Und da dieser gesellschaftliche Klebstoff | |
| fehlt, wird aus dem Sieg im Großen Vaterländischen Krieg ein Kult gemacht, | |
| eine Religion. Das sieht man am 9. Mai. An den großen Sieg muss man heute | |
| einfach glauben! Frei nach Fjodor Tjutschews Zeile „An Russland muss man | |
| einfach glauben“. Es geht weniger um die Geschichte als um die Konstruktion | |
| einer Ideologie. | |
| Und ein vor 71 Jahren beendeter Krieg kann so etwas wie ein gemeinsame | |
| Glaubensbekenntnis sein? | |
| Die Todeszahlen waren so enorm, dass jede Familie betroffen war. Die | |
| aktuelle Inszenierung ist ein gelungener Versuch, diese Gefühle ideologisch | |
| aufzuladen. Der Mensch lebt schließlich nicht von Brot allein, gerade nicht | |
| in der Wirtschaftskrise, und das hat die offizielle Propaganda begriffen. | |
| Es gab bereits eine Bewegung, die die familiäre Erinnerung auf die Straße | |
| brachte: Im „Unsterblichen Regiment“ wurde selbstorganisiert an tote | |
| Verwandte erinnert. Dieses Jahr führte Putin den Trauermarsch von | |
| Hunderttausenden an. Was halten Sie davon? | |
| Das ist eine Vereinnahmung dieser Initiative von unten. Eine sehr | |
| gelungene. Das „Unsterbliche Regiment“ ist ein großer Erfolg, denn es | |
| appelliert an Gefühle und Erinnerungen, die die Familien noch haben. Und | |
| hier knüpft die Regierung an, mit dem Nationalstolz, dem Ideal eines | |
| mächtigen Russlands mit starkem Führer. Stalin wird so zu einer positiven | |
| Figur, dem starken Herrscher, der den Sieg ermöglichte. Alles, was dieses | |
| Bild trüben könnte, wird weggewischt. Es ist schwierig, die Menschen in | |
| diesem Moment auf die Geschichtswissenschaft hinzuweisen. | |
| Und was ist mit der Erinnerung an den stalinistischen Terror? Lange gab es | |
| sie kaum, nun hat in Moskau ein städtisches Gulag-Museum eröffnet. | |
| Es gibt die Tendenz, den Terror getrennt von den Siegen darzustellen. Als | |
| zu verurteilende Auswüchse. Das Museum gibt es und es soll in Moskau auch | |
| ein Denkmal für die Opfer errichtet werden. Auch Memorial pflegt die | |
| Erinnerungen an sie, in dem Projekt „Die letzte Adresse“ werden zum | |
| Beispiel russlandweit die Häuser der Opfer markiert. Viele Menschen | |
| unterstützen das, aber andere Tendenzen sind leider stärker. | |
| Ist das Interesse an den individuellen Schicksalen der Kriegs- und | |
| Nachkriegszeit gestiegen? | |
| Nur ein kleiner Teil der Gesellschaft interessiert sich für diese | |
| Zeugnisse. Es ist ein großer Widerspruch, denn wenn der Große | |
| Vaterländische Krieg solch eine Rolle spielt, müsste die Parole lauten: | |
| Lest, was Zeitzeugen hinterlassen haben, die Bücher, in denen sie | |
| schreiben, dass sie damals nur die Hälfte der Wahrheit hatten sagen können, | |
| schaut ihre Filme, die noch unter Zensurbedingungen entstanden sind. Aber | |
| das ist heute kaum möglich. Die Aussagen von Schriftstellern wie Wassil | |
| Bykau oder Viktor Astafjew über die schreckliche Tragik des Krieges würden | |
| heute einen Skandal auslösen. | |
| Gehört zu dieser Instrumentalisierung eines Teils der Geschichte auch das | |
| wachsende antiwestliche Ressentiment? | |
| Natürlich. Es heißt heute, der Westen wolle uns unseren Sieg absprechen und | |
| wir seien eine belagerte Festung. Das ist nicht einmal die Sprache des | |
| Kalten Kriegs, sondern die der 1930er! Das Gesetz über „Ausländische | |
| Agenten“, die Rede von der „Fünften Kolonne“, das ist die Rhetorik der | |
| Mobilisierung zu einem imaginären Krieg. | |
| Es scheint fast so, als würden manche unverarbeiteten historischen Traumata | |
| aufs Neue durchlebt. Ist das eine Art der Bewältigung? | |
| Es ist viel schlimmer. Das Trauma der fehlenden Selbstidentifizierung – | |
| wer sind wir, wohin geht Russland, wie stehen wir zu unserer Vergangenheit? | |
| – bricht gerade erst wieder auf. Es gibt darauf keine Antworten. Deshalb | |
| hält man sich an den nationalen Stolz, das ist einfacher als Reflexion und | |
| Trauerarbeit. | |
| Gerade hat das Justizministerium das „Agentengesetz“ zugespitzt mit der | |
| Verlautbarung: Wer das Gesetz kritisiere, sei selbst ein „Agent“. Wie | |
| erklären Sie diese Verengung des öffentlichen Raums? | |
| Man hat keine Lehre aus der Geschichte gezogen. Ich habe das Gefühl, dass | |
| heute ganz bewusst dieser Weg der Verschärfung gegangen wird, dass bewusst | |
| Dinge wiederholt werden, etwa aus den 1930er Jahren der Sowjetzeit. Der | |
| aggressive Populismus wird zum wichtigsten Machtinstrument. | |
| Durch die Gegensanktionen und den Extremismusparagrafen wurde das Reisen | |
| erschwert oder verboten. Wie kann man da noch einen Blick aus Russland | |
| hinauswerfen? | |
| Es gibt natürlich das Internet. | |
| Letztes Jahr ist ein Mann zu zehn Monaten Haft verurteilt worden, weil er | |
| einen kritischen Text zur Ukraine im Netz geteilt hat. Das schüchtert ein. | |
| Die Atmosphäre der Angst und des Misstrauens breitet sich aus. In dieser | |
| Situation wird es auch schwierig mit den Umfrageergebnissen – man sagt eben | |
| lieber nichts Kritisches. | |
| Und trotzdem gibt es Proteste. Seit letztem Jahr demonstrieren Zehntausende | |
| Lkw-Fahrer gegen Mautgebühren, mit Kolonnenfahren und anderen Aktionen . . | |
| . | |
| Viele Leute sind unzufrieden, vor allem in der Provinz. Das bedeutete aber | |
| nicht, dass sie etwas bewirken können. Die Proteste ersticken einfach. Es | |
| entsteht aus ihnen nicht so etwas wie die polnische Solidarność. Und einige | |
| Menschen verlassen das Land, vor allem junge und aktive. | |
| Und die Lage spitzt sich zu. Befindet sich Russland nicht in einer | |
| wirtschaftlichen und sozialen Krise? | |
| Russland isoliert sich, aber so eindeutig ist die Krise nicht. Europa und | |
| die USA stecken auch in Krisen, ideologischen und Krisen des | |
| Parteiensystems. Solche Banalitäten wie „Der Westen steckt in der Krise“ | |
| sind mir zuwider. Es gibt aber Zeiten, in denen das real wird. Jenseits des | |
| Populismus von links und rechts begreift man, dass manches nicht so einfach | |
| zu bewältigen ist. In Russland wird das aufmerksam beobachtet und | |
| missbraucht. | |
| Nicht nur in Russland. Es verbrüdern sich auch europäische Linke und Rechte | |
| mit Putin. Was verbindet sie – die Freude über das Scheitern der westlichen | |
| Demokratie? | |
| Die Schadenfreude ist ein überragendes Gefühl. Aber sie ist nicht das | |
| einzige Verbindende. Man braucht sich gegenseitig. In Russland bezieht man | |
| sich gern auf diese Stimmen. | |
| 12 Jul 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Sonja Vogel | |
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