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# taz.de -- Spurensuche in Ostsibirien: Reise in die Stadt des Gulag
> Die Mutter unseres Autors war als Gefangene im stalinistischen
> Arbeitslager in Magadan. In der Stadt ist die Vergangenheit kaum ein
> Thema.
Bild: Das Denkmal „Maske der Trauer“ für die Opfer des Gulags in der Regio…
Ende November (1938) verließ die „Dalstroj“ mit achttausend Gefangenen,
darunter neunhundert Frauen an Bord, den Hafen Wladiwostok.“ So beginnt in
dem Roman „Ohne Maß und Ende“, den Wanda Bronska-Pampuch, meine Mutter,
1963 veröffentlichte, der Teil, in dem sie ihre Erfahrungen in einem
sibirischen Arbeitslager verarbeitet. Grund der Verurteilung:
„sowjetfeindliche Einstellung und antisowjetische Äußerungen“.
1931 war Wanda als junge Kommunistin von Berlin nach Moskau gegangen. Ihre
Eltern, beide Altbolschewiki polnischer Herkunft, die mit Lenin die Jahre
der Emigration in der Schweiz verbracht hatten, waren bereits 1937 während
der „Säuberungen“ erschossen worden. Wanda wurde zu acht Jahren
Zwangsarbeit verurteilt. Sie kam nach Magadan, und dorthin brachte sie –
nach 40 Tagen Fahrt in einem Güterwagen der Transsibirischen Eisenbahn –
die „Dalstroj“.
Die Fahrt durch das Ochotskische Meer dauerte sieben Tage – ein Albtraum
aus Kälte, Kotze und Läusen. Dazu kamen die ständigen Bedrohungen durch die
„Blatnojs“, die Kriminellen, die den „Politischen“ an Zahl weit überle…
waren. Die Ankunft in der vereisten Nagaevbucht war für die 27-jährige
Wanda (im Buch: Nina) das Ende einer neunmonatigen Odyssee, die in der
Lubjanka begonnen hatte und nun in einer Stadt endete, die erst ein paar
Jahre zuvor von Eduard Berzin als Zentrum des Lager-Industriekomplexes
Dalstroj in der Region Kolyma aufgebaut worden war.
## Symbol des Elends
Bis heute ist Magadan ein Symbol für das Elend von Millionen Gefangenen,
die in der Stalinzeit im Gulag-System unter fürchterlichen Bedingungen
schufteten und dabei oft elend zugrunde gingen. Auf der Webseite
[1][dark-tourism.com], die „Reisen zu Orten, die mit Tod oder Katastrophen
zu tun haben“, vorstellt, wird Magadan auf einem „darkometer“ mit der
Höchstzahl von 10 Punkten bewertet. „Magadan, abandoned Russia“ kann man
buchen: „the biggest, baddest, sexiest, most abandoned and most adventurous
Russia tour yet“.
Es muss nicht der „dark tourism“ sein, der einen nach Sibirien treibt. In
meinem Fall ist es die Familiengeschichte. Was löst es in einem
Nachgeborenen aus, wenn er heute vor der hübsch gelb gestrichenen Lubjanka
steht, dem ehemaligen Geheimdienst- und Foltergefängnis? Früher stand hier
Felix Dzerzinski, der Gründer der Geheimpolizei Tscheka, groß in Bronze,
bevor man ihn 1991 entsorgte.
Kann man die Verzweiflung einer jungen Kommunistin nachempfinden, die wegen
absurder Vorwürfe zusammen mit Tausenden anderen wie Vieh an einen
unbekannten Ort im Fernen Osten gekarrt wurde? Der man die kleine Tochter
weggenommen hatte, die Eltern erschossen, die Freunde und Genossen
verhaftet, deren Träume von einer besseren und gerechteren Welt Stück für
Stück zerplatzt sind. Und die nun erlebt, wie bei jeder Station die Toten
aus dem Waggon gehoben werden.
Es ist ein merkwürdiges Gefühl, nachts bequem im Stockbett der
„Plazkart“-Klasse durch Sibirien zu brausen und daran zu denken, wie hier
auf denselben Gleisen vor einigen Jahrzehnten der Terror und die Angst
mitratterten. Da schläft man erst einmal nicht so gut. Und fast dankbar
duldet man das Herumwursteln der nachts zusteigenden Fahrgäste, die
umständlich ihre Betten beziehen. Nein, es müssen keine Toten ausgeladen
werden. Und wie angenehm ist es, am Morgen dann mit den freundlichen,
nächtlichen Störern das Frühstück zu teilen. Die Welt ist besser geworden.
## Heute eine bunte Stadt
Magadan, 78 Jahre nach der Ankunft der Gefangenen Wanda Bronska. Die Stadt
empfängt den Sohn, als wolle sie beweisen, dass sich die absurd klingende
Prophezeiung aus dem Buch erfüllt hat: „Hier werden einmal Apfelsinenbäume
wachsen und Kirschen blühen. Unsere Leichen werden den Boden düngen und ein
Paradies entstehen lassen. Ich werde die Stadt lieben.“ So fantasiert Nina,
die eine Zeit lang auch als Bauarbeiterin am Aufbau der Stadt mitwirkt,
gegenüber ihrem Mithäftling und Geliebten, von dem sie später ein Kind
bekommt.
Ja, sie würde sie lieben. Statt auf einem Matratzensack in einer eiskalten
Baracke mit den Filzstiefeln als Kopfkissen würde sie es sich vielleicht im
großzügigen und preiswerten „Hotel Magadan“ bequem machen. In jener
Proletarskayastraße, deren Häuser im Buch in den 50er Jahren gelegentlich
von Kinderbanden ausgeräumt werden. Von diesen Häusern ist nichts mehr zu
sehen. Dafür gibt es eine nagelneue Kirche in Weiß und Gold gleich
gegenüber. Und es gibt das moderne Restaurant, „Moskowkaya“. Magadan hat
sich in den letzten Jahren mit einer Reihe hübscher Restaurants
ausstaffiert.
Und das sogar an der Nagaevbucht. Von der Proletarskajastraße läuft man die
schmucke Hauptstraße ulica Lenina hoch. Sie ist bevölkert von jungen Leuten
– gut aussehend, gut gekleidet, gut gelaunt. Viele mit Kindern, alle haben
ein Smartphone in der Hand. Am Prospekt Karla Marxa befindet sich ein
Denkmal für die Gefallenen des Weltkriegs.
Auch in Magadan gilt die Erinnerungskultur vor allem dem Großen
Vaterländischen Krieg. Am oberen Ende der Straße liegt ein großer Stadtpark
mit Karussells und Riesenrad. Von dort geht es wieder nach unten, ärmliche,
kleine Holzhäuser und Werkstätten säumen den Weg. Eine
Drive-in-Hotdog-Pizza-Bude ist die letzte Station vor der Steilküste an der
Bucht. Rechts liegt der Hafen, der einst für Millionen von Gulag-Häftlingen
der „Eingang zur Hölle“ war. Am Rand der Terrasse steht ein Bronzedenkmal
des bekannten Sängers Wladimir Wyssozkij. Der hat 1968 die Stadt besucht
und ein Lied über sie geschrieben.
In der hübschen Kneipe daneben feiert der dicke Eddy mit Freunden seinen
45. Geburtstag. Spontan lädt er uns ein: „Seid unsere Gäste!“ Es gibt
Wodka, Shrimps mit Dill und Knoblauch, feinste Wurst und einen Trinkspruch
nach dem anderen. „Drushba!“ Herzlicher kann eine Versöhnung mit der
Geschichte nicht ausfallen, denke ich auf dem Weg zurück in die hell
erleuchtete Stadt – jenem Weg, den meine Mutter mit ihren
Leidensgenossinnen von der „Dalstroj“ zur ihrer Baracke ging.
„Es war ein bunter Zug von jungen und alten, schönen und hässlichen Frauen,
der nun, von Wachsoldaten umgeben, den Hafen verließ und durch die
Schneewüste landeinwärts zog. Lehrerinnen gingen neben Dirnen,
Schauspielerinnen neben Mörderinnen, Bäuerinnen neben Funktionärsgattinnen.
Sie trugen zerschlissenen Persianer oder abgeschabte Schafpelze,
ausländische Tuchmäntel oder dünne Baumwollfähnchen? Gemeinsam war allen
Frauen nur die graue Farbe der Gesichter.“
## „Wir lieben unsere Region“
Im Magadan des Sommers 2016 ist wenig grau. Farbige Leuchtinstallationen
mit dem springenden Rentier, dem Wappentier der Stadt, zieren jede Laterne
der ulica Lenina. Viele Häuser sind bunt gestrichen, rosa, grün, gelb. Bei
den Plattenbauten, die sich den Hang hochziehen, gibt es jede Menge
knallbunter Kinderspielplätze. Magadan ist eine junge Stadt.
Tatjana Chiprun etwa, stellvertretende Chefredakteurin der Magadanskaja
Prawda, ist 30 Jahre alt, attraktiv, liebenswert und spricht passables
Englisch. Sie hat in Moskau studiert, sie fährt Ski und Motorrad, sie
wandert und boxt, eine moderne, emanzipierte Frau. „Wir lieben diese
Region, auch wenn das Leben nicht so einfach ist“, sagt sie. Tatjana macht
keinen Hehl daraus, dass ihr Blatt, das rund 6.000 Leser hat, ein
Sprachrohr der Regierung ist. „Die finanziert uns.“ Und sagt sie Ihnen, was
Sie schreiben sollen? „Ja, manchmal.“ Eine freie Presse? „Das ist
unmöglich.“
Mit Politik, so scheint es, hat man in Magadan genügend schlechte
Erfahrungen gemacht. Vielleicht ist deshalb das Interesse an der Geschichte
überschaubar. Stalin, der Gulag, das sei für die meisten hier sehr lange
her, sagt Tatjana. Natürlich habe es da Schlimmes gegeben, „aber mit Stalin
wurde auch der Krieg gewonnen. Was die Menschen hier interessiert, das sind
die Fragen des Alltags, die Kinder, die Familie, frische Tomaten?“
Im Roman bekommt Nina im Lager eine Tochter, Victoria, die ihr weggenommen
wird, in einem Heim aufwächst und sich entschließt, in Magadan zu bleiben,
selbst als ihre Mutter sie nach zwanzig Jahren findet und nach Deutschland
holen will. Als ihr ein Freund vorhält: „Deine Eltern wollten die Welt
verändern, sie wollten das Glück der Menschheit – und du?“, antwortet
Victoria: „Ich will selbst glücklich sein. Und meinen Mann und meine Kinder
glücklich machen.“
## Quälende Erinnerungen
Doch es gibt Erinnerung. Magadans Heimatkunde-Museum bietet im obersten
Geschoss die Ausstellungen: „Dalstroj“ und „Kolyma 1932–1956“. Die
Darstellung ist nicht so hypermodern wie in dem neuen Gulag-Museum in
Moskau, doch sie geht unter die Haut. Mithilfe der Aufsichtsdame finde ich
auf einer alten, handgemalten Karte den kleinen Ort Elgen, in das die
schwangeren Gefangenen geschickt wurden. Im Buch wird dort Ninas Tochter
Victoria geboren.
Die Konfrontation mit den Bildern und Dokumenten am Ort des Geschehens
lässt mich nachts nicht schlafen. Stalins Verbrechen und sein Verrat am
Sozialismus stehen außer Frage. Doch wie ist das mit den „unschuldigen“
Opfern? Kein Zweifel: Im Sinne der absurden Anklagen waren sie unschuldig.
Andererseits: Wären sie nur erfolgreicher „schuldig“ geworden! „Wenn nur
ein Bruchteil all der ,Aufstände', die unter Foltern eingestanden wurden,
tatsächlich geplant gewesen wäre, hätte es eine Stalin-Ära nicht gegeben.
„Ich war kein Held, genauso wenig wie meine Leidensgenossen, und bin, wie
ich das schon oft in bitteren Stunden bereut habe, unschuldig verurteilt
worden“, bekannte Wanda Bronska-Pampuch 1957 in einem Artikel.
„Unschuldig“ zu sein war ja auch ein Zeichen von Naivität: In den ersten
Wochen nach dem Urteil weinte ich manchmal. Wozu hat man mich denn zur
Konterrevolutionärin stempeln müssen, ich wäre auch so im Parteiauftrag ans
Ende der Welt gefahren!“, schreibt Nina an ihren Geliebten. Und manchmal
denke sie, dass wir vielleicht, wenn schon nicht für unsere Schuld, so doch
für unser Versagen büßen. Das Versagen wohlgemerkt, den Sozialismus nicht
schnell genug aufgebaut zu haben, den Hunger in der Sowjetunion zugelassen
zu haben. Das Opfer erklärt sich selbst für schuldig – wenn auch nicht ganz
im Sinne der Anklage. Vielleicht weil so das Leiden einen Sinn bekommt.
## Die Nachkommen wollen vergessen
Die Debatten meiner Eltern, jener ganzen Generation enttäuschter
Kommunisten, fallen mir wieder ein. Die Fragen, wer Opfer war und wer
Täter, was alles schiefgelaufen war und warum, sind nicht immer einfach zu
beantworten. Manche Opfer des Stalinismus waren zuvor selbst Täter. Eduard
Berzin, der Begründer des Systems von Kolyma, dessen Denkmal vor dem Weißen
Haus von Magadan steht, wurde 1938 erschossen, ebenso wie Genrich Jagoda,
der Chef des NKWD, und viele seiner Helfershelfer. Jagodas Nachfolger,
Nikolai Jeshow, wurde 1940 erschossen. Manche Opfer des Gulag wurden aber
auch zu Tätern – zu Wächtern, Spitzeln, Mitläufern. Es haben nicht nur
Helden die Hölle überlebt.
Da mag es verständlich sein, dass in Magadan heute die Vergangenheit nicht
so präsent ist, wie man erwartet. Für die Urenkelgeneration ist die
Gulag-Stadt weit weg und deren Erbe ziemlich kompliziert. Vielleicht will
man gar nicht so genau wissen, was die Vorfahren gemacht haben. Manche
kamen übrigens freiwillig nach Magadan.
Der Großvater von Sergeij Reismann, einem jüngeren Historiker, der
gelegentlich „Abenteuertouren“ zu den verlassenen Minen-Camps von Kolyma
führt, etwa kam in den 30er Jahren als Geologe. „Weniger als die Hälfte der
heutigen Bevölkerung sind Nachkommen der Gefangenen“, sagt Reismann. „Viele
Bewohner sind erst in den 1970ern oder noch später in verschiedenen
Einwanderungswellen hierhergezogen.“ Es gebe kaum noch Bauten aus der
Lagerzeit. Und auch nur noch wenige Überlebende jener Tage. „Diese
Generation ist weg.“
1940 hatte Magadan 240.000 Bewohner, heute sind es knapp 100.000. Die
meisten scheinen zufrieden. Die Stadt wirbt für Sport-, Öko- und
Eventtourismus, sie bemüht sich um Sportfischer und Jäger. Über die Lager
wird kaum gesprochen. Seit zwanzig Jahren immerhin wacht auf einem Hügel
über der Stadt „Die Maske der Trauer“, eine 18 Meter hohe Statue des
Bildhauers Ernst Neisvestnyj – Gedenkstätte für die Opfer des Stalinismus
und Mahnmal zugleich. Und es gibt auch noch das „Apartmentmuseum“ des
Sängers Vadim Kosin, eines berühmten Tenors, der 1944 zu fünf Jahren
Zwangsarbeit in Magadan verurteilt wurde und dann bis zu seinem Tod 1994 in
der Stadt lebte. Er hat ein Lied über Magadan gesungen. Neben dem Haus
sitzt Kosin in Bronze mit einer Katze auf dem Schoß.
„Politik hassen wir, denn davon kommt alles Übel“, schreibt Victoria an
ihre Mutter aus Magadan, wo sie mit ihrem Mann einfach ein friedliches
Leben führen möchte. Vielleicht hätte sie ja später mit dem alten Kosin auf
dem Bänkchen gesessen und das Lied vom Wind über Magadan mitgesummt. Eine
Revolutionärin – wie ihre Mutter und Großmutter – wäre sie nie geworden.
Die Revolution hat Stalin den Russen ausgetrieben. In Magadan.
Die Reise wurde unterstützt von der Robert Bosch Stiftung.
28 Nov 2016
## LINKS
[1] http://dark-tourism.com
## AUTOREN
Thomas Pampuch
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