# taz.de -- Friedenspreisträgerin Alexijewitsch: Rede von Swetlana Alexijewits… | |
> Die Dokumentation der Rede der weißrussische Autorin Swetlana | |
> Alexijewitsch zur Verleihung des Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. | |
Bild: Das Denkmal „Maske der Trauer“ für die Opfer des Gulags in der Regio… | |
Ich möchte Sie als „liebe Nachbarn in der Zeit“ ansprechen. Wir haben nicht | |
nur die gleichen Smartphones in der Tasche, uns eint mehr – die gleichen | |
Ängste und Illusionen, die gleichen Verlockungen und Enttäuschungen. Es | |
erschreckt uns alle, dass das Böse immer raffinierter und unbegreiflicher | |
wird. Wir können nicht mehr wie die Helden Tschechows ausrufen, in hundert | |
Jahren würde der Himmel voller Diamanten und der Mensch wunderbar sein. Wir | |
wissen nicht, wie der Mensch sein wird. In Dostojewskis „Legende vom | |
Großinquisitor“ wird über die Freiheit gestritten. Darüber, dass der Weg | |
der Freiheit schwer ist, qualvoll und tragisch... | |
„Warum zum Teufel müssen wir überhaupt erkennen, was gut und böse ist, w… | |
es uns so teuer zu stehen kommt?“ | |
Der Mensch muss sich die ganze Zeit entscheiden: Freiheit oder Wohlstand | |
und gutes Leben, Freiheit mit Leiden oder Glück ohne Freiheit. Die meisten | |
Menschen gehen den zweiten Weg. | |
„Der Großinquisitor sagt zu Jesus, der auf die Erde zurückgekehrt ist: ‚… | |
bist Du gekommen, uns zu stören? Denn uns zu stören bist Du gekommen, und | |
Du selbst weißt es wohl.‘ ‚Indem Du ihn [den Menschen] so hoch achtetest, | |
hast Du gehandelt, als hättest Du kein Erbarmen mehr mit ihm, denn zuviel | |
hast Du von ihm gefordert. [...] Hättest Du ihn geringer geachtet, hättest | |
Du auch weniger von ihm gefordert, und das wäre der Liebe näher gekommen, | |
hätte es doch sein Joch erleichtert. | |
Schwach ist der Mensch und gemein. [...] Was kann die schwache Seele dafür, | |
dass sie nicht die Kraft hat, so furchtbare Gaben aufzunehmen?‘ ‚Es gibt | |
für den Menschen, solange er frei ist, keine dauernde und bedrückendere | |
Sorge als so bald wie möglich etwas zu finden, das er anbeten kann. [...] | |
und keine quälendere Sorge, als jemanden zu finden, dem er so schnell wie | |
möglich das Ge- schenk der Freiheit abtreten kann, mit der dieses | |
beklagenswerte Geschöpf geboren wird.‘“ | |
Ich habe den größten Teil meines Lebens in der Sowjetunion verbracht. Im | |
kommunistischen Versuchslabor. Auf dem Tor des schrecklichen Lagers auf den | |
Solowki-Inseln hing die Losung: „Mit eiserner Hand zwingen wir die | |
Menschheit zum Glück“. | |
Der Kommunismus hatte einen aberwitzigen Plan – den alten Menschen, den | |
alten Adam, umzumodeln. Und das ist gelungen. Es ist vielleicht das | |
Einzige, was gelungen ist. In etwas über siebzig Jahren ist ein neuer | |
Menschentyp entstanden: der Homo sovieticus. Die einen betrachten ihn als | |
tragische Gestalt, die anderen nennen ihn „Sowok“. Wer aber ist er? Ich | |
glaube, ich kenne diesen Menschen, er ist mir vertraut, ich habe viele | |
Jahre Seite an Seite mit ihm gelebt. Er ist ich. Das sind meine Bekannten, | |
meine Freunde, meine Eltern. Mein Vater, er ist vor kurzem gestorben, ist | |
bis ans Ende seines Lebens Kommunist geblieben. | |
Ich habe fünf Bücher geschrieben, doch im Grunde schreibe ich nun seit fast | |
vierzig Jahren an einem einzigen Buch. An einer russisch-sowjetischen | |
Chronik: Revolution, Gulag, Krieg ... Tschernobyl ... der Untergang des | |
„roten Imperiums“ ... Ich folgte der Sowjetzeit. Hinter uns liegen ein Meer | |
von Blut und ein gewaltiges Brudergrab. In meinen Büchern erzählt der | |
„kleine Mensch“ von sich. | |
Das Sandkorn der Geschichte. Er wird nie gefragt, er verschwindet spurlos, | |
er nimmt seine Geheimnisse mit ins Grab. Ich gehe zu denen, die keine | |
Stimme haben. Ich höre ihnen zu, höre sie an, belausche sie. Die Straße ist | |
für mich ein Chor, eine Sinfonie. Es ist unendlich schade, wie vieles ins | |
Nichts gesagt, geflüstert, geschrien wird. Nur einen kurzen Augenblick lang | |
existiert. | |
Im Menschen und im menschlichen Leben gibt es vieles, worüber die Kunst | |
nicht nur noch nie gesprochen hat, sondern wovon sie auch nichts ahnt. Das | |
alles blitzt nur kurz auf und verschwindet, und heute verschwindet es | |
besonders schnell. Unser Leben ist sehr schnell geworden. Flaubert sagte | |
von sich, er sei „ein Mensch der Feder“, ich kann von mir sagen: Ich bin | |
ein Mensch des Ohres. | |
Jeder von uns trägt ein Stück Geschichte in sich, der eine ein großes, der | |
andere ein kleines, und aus all dem entsteht die große Geschichte. Die | |
große Zeit. Ich suche den Menschen, der eine Erschütterung erlebt hat... | |
durch die Begegnung mit dem Mysterium des Lebens, mit einem anderen | |
Menschen. Manchmal werde ich gefragt: Reden die Leute wirklich so schön? | |
Der Mensch spricht nie so schön wie in der Liebe und in der Nähe des Todes. | |
Wir Menschen aus dem Sozialismus sind wie alle Menschen, und wir sind | |
anders, wir haben unsere eigenen Vorstellungen von Helden und Märtyrern. | |
Und ein besonderes Verhältnis zum Tod. | |
Stimmen... Stimmen... sie sind in mir... verfolgen mich... | |
Ich erinnere mich an einen hochgewachsenen schönen Greis, der noch Stalin | |
gesehen hat. Was für uns ein Mythos war, war für ihn sein Leben. 1937 wurde | |
zuerst seine Frau verhaftet, sie ging ins Theater und kam nicht zurück, und | |
drei Tage später wurde auch er abgeholt. | |
„Sie schlugen mich mit einem Sack voll Sand auf den Bauch. Alles wurde aus | |
mir herausgepresst wie aus einem zerquetschten Wurm. Sie hängten mich an | |
Haken auf. Mittelalter! Alles läuft aus dir raus, du hast deinen Körper | |
nicht mehr unter Kontrolle. Überall fließt es aus dir heraus... Diesen | |
Schmerz auszuhalten... Diese Scham! Sterben ist leichter...“ | |
1941 wurde er entlassen. Er hatte lange darum gekämpft, an die Front zu | |
dürfen. Aus dem Krieg kam er mit Orden zurück. Er wurde ins Parteikomitee | |
bestellt, und dort sagte man zu ihm: „Ihre Frau können wir Ihnen leider | |
nicht zurückgeben, aber Ihr Parteibuch bekommen Sie zurück...“ „Und ich… | |
glücklich!“, sagte er. Ich konnte seine Freude nicht verstehen. | |
„Man darf uns nicht nach den Gesetzen der Logik beurteilen. Verdammte | |
Buchhalter! Verstehen Sie doch! Uns kann man nur nach den Gesetzen der | |
Religion beurteilen. Des Glaubens!“ | |
Oder eine andere Geschichte... „Ich hing sehr an unserer Tante Olja. Sie | |
hatte lange Haare und eine schöne Stimme. Als ich erwachsen war, erfuhr | |
ich, dass Tante Olja ihren leiblichen Bruder denunziert hatte, der dann im | |
Lager umkam. In Kasachstan. Sie war schon alt, und ich fragte sie: ‚Tante | |
Olja, warum hast du das getan?‘ ‚Wo hast du zur Stalin- zeit einen | |
redlichen Menschen gesehen?‘ ‚Bereust du, was du getan hast?‘ ‚Ich war | |
damals glücklich. Ich wurde geliebt.‘ Verstehen Sie, das Böse, das ist nie | |
chemisch rein... Das sind nicht nur Stalin und Berija, das ist auch die | |
schöne Tante Olja...“ | |
Ich hörte diese Stimmen seit meiner Kindheit. In dem weißrussischen Dorf, | |
in dem ich aufgewachsen bin, lebten nach dem Krieg nur noch Frauen, sie | |
arbeiteten von früh bis zum Dunkelwerden, am Abend aber graute ihnen vor | |
ihren leeren Hütten, sie gingen hinaus auf die Straße, saßen auf Bänken | |
zusammen. Und redeten über den Krieg, über Stalin, über ihren Kummer. Von | |
ihnen hörte ich, dass der Krieg im Frühling und im Herbst am schlimmsten zu | |
ertragen war, wenn die Vögel fortzogen oder wiederkehrten; sie wussten ja | |
nichts von den Angelegenheiten der Menschen. Sie gerieten oft in | |
Artilleriebeschuss. Zu Tausenden stürzten sie vom Himmel. | |
Die Frauen sprachen über Dinge, die ich mit meinem kindlichen Verstand | |
nicht begriff, aber im Gedächtnis behielt. Wie ganze Dörfer mit allen | |
Einwohnern niedergebrannt wurden. Wer weglaufen und sich in den Sümpfen | |
verstecken konnte, kehrte nach einigen Tagen an einen leeren Ort zurück. | |
Keine Menschenseele mehr, nur noch Asche. Und zwei zufällig im | |
Kolchosgarten vergessene Pferde. „Wir dachten: Dass sich die Leute nicht | |
schämen, so etwas vor Tieren zu tun! Die Pferde haben ihnen doch | |
zugesehen... | |
Oder dies... Vor der Erschießung warfen junge SS- Soldaten Bonbons in die | |
Grube, in der sie jüdische Kinder lebendig begruben... | |
Oder dies über Partisanen... Sie nahmen aus dem Ghetto geflohene Juden in | |
ihre Abteilung auf. Die- se Partisanen kämpften tapfer gegen den Feind, in | |
ihrer Freizeit aber vergewaltigten sie das „Jiddenmädchen“ Rosa. Dann wur… | |
sie schwanger, und die Partisanen erschossen sie... | |
Bei Nietzsche heißt es: „Kultur ist nur ein dünnes Apfelhäutchen über … | |
glühenden Chaos.“ „Der Mensch ist fließend“, schrieb Tolstoi, alles hi… | |
davon ab, was in ihm die Oberhand gewinne. Die Ideen sind schuld, aber auch | |
der Mensch selbst ist schuld. Vor allem er selbst. Er trägt die | |
Verantwortung für sein Leben. Erinnern Sie sich? „Wo hast du in der | |
Stalinzeit einen redlichen Menschen gesehen?“, rechtfertigte sich die | |
schöne Tante Olja vor ihrem Tod. Ungeheuerlich, unsagbar und unvorstellbar | |
ist die „Banalität des Bösen“ in „finsteren Zeiten“. | |
Was ich auf der Straße hörte, konnte ich in den Büchern im Haus meiner | |
Eltern, die beide Lehrer auf dem Land waren, nicht finden. Wie alle trug | |
auch ich das Abzeichen mit dem lockenköpfigen Lenin als Kind. Ich träumte | |
davon, Pionier zu wer- den und Komsomolzin. Ich bin diesen Weg bis ans Ende | |
gegangen... | |
Erinnerungen sind ein launisches Ding. Da legt der Mensch alles hinein: Wie | |
er gelebt, was er in der Zeitung gelesen und im Fernsehen gesehen hat, wem | |
er in seinem Leben begegnet ist. Und ob er glücklich war oder nicht. | |
Zeitzeugen sind weniger Zeugen, sie sind vielmehr Schauspieler und | |
Geschichtenerfinder. Man kann sich der Realität nicht vollkommen annähern, | |
zwischen der Realität und uns stehen unsere Gefühle. Ich weiß, dass ich es | |
mit Versionen zu tun habe, jeder hat seine eigene Version, und daraus, aus | |
ihrer Gesamtheit und ihrer Schnittmenge, entsteht das Bild der Zeit und der | |
Menschen, die in ihr gelebt haben. | |
Genau dort, in der warmen menschlichen Stimme, in der lebendigen | |
Widerspiegelung der Vergangenheit, verbirgt sich die ursprüngliche Freude | |
und offenbart sich die unabwendbare Tragik des Lebens. Sein Chaos und seine | |
Leidenschaft. Seine Einzigartigkeit und seine Unbegreiflichkeit. Alles ist | |
echt. | |
Ich habe eine Geschichte des „häuslichen“, des „inneren“ Sozialismus | |
geschrieben. Darüber, wie er in der menschlichen Seele aussah. Eine Ge- | |
schichte der Gefühle: Was der Mensch über sich selbst gelernt, was er aus | |
sich geschöpft hat. Die ganze Welt seines Lebens. Das Kleinste und | |
Menschlichste. Meine Aufzeichnungen habe ich in Wohnungen und in Dorfhütten | |
gemacht, auf der Straße, in Cafés und im Zug. Im Frieden und im Krieg. In | |
Tschernobyl. | |
Stimmen... Stimmen... Die Gesichter verschwinden aus meiner Erinnerung, die | |
Stimmen aber bleiben. Moskau. Tag des Sieges. Wir können uns noch immer | |
nicht trennen von diesem Feiertag, denn ohne ihn bliebe nur der Gulag. | |
„Nach dem Gefecht gehst du über ein Feld, die Toten sind darüber verstreut | |
wie Kartoffeln. Und schauen zum Himmel. Alle sind jung und schön. Sie tun | |
dir leid, die einen wie die anderen. Töten ist unangenehm. Du willst | |
überhaupt nicht töten.“ | |
„Als der Krieg vorbei war, habe ich mich lange gescheut, zum Himmel zu | |
blicken. So viele unserer jungen Männer waren gefallen! Nach dem Gefecht | |
warfen wir die Toten in eine Grube und liefen weiter. Am nächsten Morgen | |
wieder eine volle Grube. Wir marschierten von Grube zu Grube.“ | |
Kabul 1988. Ein afghanisches Hospital. Eine junge Afghanin, ein Kind auf | |
dem Arm. Ich gehe hin und reiche dem Kind einen Plüschteddy, und es nimmt | |
ihn mit den Zähnen. „Warum nimmt er ihn mit den Zähnen?“, frage ich. Die | |
Afghanin reißt die dünne Decke herunter, in die der Kleine eingewickelt | |
ist, und ich sehe einen kleinen Rumpf ohne Arme und Beine. „Das haben deine | |
Russen gemacht.“ „Sie versteht nicht“, erklärt mir ein sowjetischer | |
Hauptmann, der daneben steht, „wir haben ihnen den Sozialismus gebracht.“ | |
„Geh nach Hause und bau da den Sozialismus auf. Warum bist du | |
hergekommen?“, sagt ein alter Afghane, ihm fehlt ein Bein. Ich erinnere | |
mich an einen riesigen Saal – er war menschenleer... „Das haben deine | |
Russen gemacht.“ | |
In einer Kaserne. Verstörte Gesichter unserer Jungen, die nicht verstehen, | |
wofür sie hier sterben. Sie antworten mir böse: Schießen oder nicht | |
schießen, solche Fragen stellt man nach dem Krieg. Wenn du schießt, tötest | |
du als Erster, tötest du nicht, wirst du getötet. Alle wollen nach Hause | |
zurückkehren. Zu ihrer Mutter... | |
Manche wurden mit Wodka betrunken gemacht, in ein Flugzeug gesetzt, und in | |
der Nacht waren sie in Kabul. Sie heulten, schrien, griffen die Offiziere | |
an. Zwei brachten sich um. Erhängten sich auf der Toilette. Andere kamen | |
freiwillig her. Kin- der von Dorfschullehrern, von Ärzten ... sie wurden | |
dazu erzogen, der Heimat zu vertrauen... | |
In einem Jahr werden sie heimkehren, und die Heimat, die sie zum Morden | |
geschickt hat, wird nicht mehr existieren. Das große kommunistische | |
Experiment wird vor ihren Augen enden ... | |
Die Explosion in Tschernobyl... ich fuhr hin... auf dem Reaktorgelände | |
liefen Männer mit Maschinenpistolen herum, standen einsatzbereite | |
Militärhubschrauber. Niemand wusste, was tun, aber alle waren ohne zu | |
zögern bereit zu sterben. Das haben wir gelernt. | |
Ich schrieb mit... das waren ganz neue Texte... | |
Die Feuerwehrleute, die in der ersten Nacht das Feuer bekämpft hatten, | |
starben einer nach dem anderen. Ein Atomreaktor brannte, sie aber wurden | |
gerufen wie zu einem ganz normalen Einsatz, sie hatten keine Schutzkleidung | |
dabei. Sie bekamen Strahlendosen ab, die mehr als hundertfach über der Norm | |
lagen. Tödliche Dosen. Die Ärzte ließen die weinenden Ehefrauen nicht zu | |
ihnen. | |
„Nicht nahe rangehen! Nicht küssen! Nicht streicheln! Das ist nicht mehr | |
der geliebte Mensch, das ist ein strahlenverseuchtes Objekt.“ | |
In einem Umkreis von dreißig Kilometern um das Kraftwerk herum verließen | |
Zigtausende Menschen ihre Häuser – für immer. Aber noch glaubte das | |
niemand. Volle Busse und eine Stille wie auf einem Friedhof. Um die Busse | |
drängten sich Hau- stiere – Hunde, Katzen. Die Tiere wurden zurück- | |
gelassen. Die Menschen wagten nicht, ihnen in die Augen zu sehen. | |
„Die Vögel am Himmel ... die Tiere im Wald ... wir alle haben sie verraten. | |
Unserem geliebten Hund Scharik haben wir einen Zettel dagelassen: ‚Verzeih | |
uns, Scharik!‘“ | |
Leiden ist unsere Gabe und unser Fluch. Der große Streit der russischen | |
Literatur: Solschenizyn behauptete, Leiden mache den Menschen besser, aus | |
dem Lager komme der Mensch zurück wie aus dem reinigenden Fegefeuer, | |
Schalamow dagegen war überzeugt, dass die Lagererfahrung den Menschen | |
verderbe, dass die Lagererfahrung nur im Lager gebraucht werde. Die Zeit | |
hat gezeigt, dass Schalamow recht hatte. Der Mensch, den der Sozialismus | |
hinterlassen hat, verstand sich nur auf das Leben im Lager. | |
Die 90er Jahre... alle redeten von der Freiheit... warteten auf ein Fest, | |
doch das Land um sie herum war zerstört. Veraltete Betriebe wurden | |
geschlossen, unzählige Militärstädtchen starben, es gab plötzlich Milli… | |
Arbeitslose, die schlechten Wohnungen aber kosteten auf einmal Geld, eben- | |
so medizinische Versorgung und Bildung. Alles lag in Trümmern... | |
Wir entdeckten, dass Freiheit nur auf der Straße ein Fest war, im Alltag | |
aber war das etwas ganz anderes. Freiheit ist eine anspruchsvolle Pflanze, | |
sie gedeiht nicht an jedem Ort, aus dem Nichts. Allein aus unseren Träumen | |
und Illusionen. | |
Ich erinnere mich, wie erschüttert ich war, als ich im Gerichtssaal, wo der | |
Prozess gegen mein Buch „Zinkjungen“ begann, ich war wegen Verleumdung der | |
Sowjetarmee verklagt worden, die Mutter eines gefallenen Soldaten | |
entdeckte. Das erste Mal waren wir uns am Sarg ihres Sohnes begegnet, er | |
war ihr einziges Kind gewesen, sie hatte ihn allein großgezogen. | |
Verzweifelt schlug sie mit dem Kopf auf den Sarg und flüsterte: „Wer liegt | |
da drin? Bist du da drin, mein Junge? Der Sarg ist so klein, und du warst | |
doch so groß. Wer ist da drin?“ | |
Als sie mich sah, rief sie: „Erzähl die ganze Wahrheit! Sie haben ihn zur | |
Armee geholt. Er ist Tischler, er hat für die Generale Datschen renoviert. | |
Sie haben ihm nicht mal das Schießen beigebracht. Dann haben sie ihn in den | |
Krieg geschickt, und dort wurde er gleich im ersten Monat getötet.“ Im | |
Gerichtssaal fragte ich sie: „Warum sind Sie hier? Ich habe die Wahrheit | |
geschrieben.“ „Ich brauche deine Wahrheit nicht! Ich will, dass mein Sohn | |
ein Held war!“ Vor Gericht traf ich einen Granatwerferschützen wieder, der | |
im Krieg erblindet ist... Der arme schreckliche „rote Mensch“! | |
Neue Stimmen fielen einander ins Wort ... | |
„Die Neunziger... wunderbare Jahre, das Beste, was ich je erlebt habe. Ein | |
Schluck Freiheit...“ | |
„Wenn es um die Neunziger geht... ich würde nicht sagen, dass das eine | |
schöne Zeit war, sie war abscheulich. Eine Hundertachtzig-Grad- Wende in | |
den Köpfen ... manche haben das nicht ausgehalten und wurden verrückt, | |
andere haben sich umgebracht. Auf den Straßen wurde ständig geschossen. | |
Unglaublich viele Menschen wurden ermordet. Jeden Tag gab es kriminelle | |
Auseinandersetzungen. Sie teilten Russland unter sich auf... jeder wollte | |
etwas an sich reißen, den anderen zuvorkommen.. | |
Ich weiß sehr gut, was ein Traum ist. Meine ganze Kindheit lang wünschte | |
ich mir ein Fahrrad, aber ich bekam keins. Wir waren arm. In der Schule | |
habe ich unter der Hand mit Jeans gehandelt, am Institut mit sowjetischen | |
Armeeuniformen und diversem Sowjetkram. Die Ausländer kauften das. Das war | |
gewöhnlicher Schwarzhandel. Zu Sowjetzeiten bekam man dafür zwischen drei | |
und fünf Jahren Gefängnis. Mein Vater rannte mit dem Riemen hinter mir her | |
und schrie: ‚Du Spekulant! Ich habe vor Moskau Blut vergossen, und mein | |
Sohn macht solche Scheiße!‘ | |
Was gestern noch als Verbrechen gegolten hatte, war nun ein Geschäft. Ich | |
kaufte an einem Ort Nägel und woanders Absatzflicken, packte das zusammen | |
in eine Plastiktüte und verkaufte es als neue Ware. Ich brachte Geld nach | |
Hause und kaufte ein, der Kühlschrank war immer voll. Meine Eltern | |
rechneten dauernd damit, dass man mich verhaften würde. (Er lacht laut.) | |
Ich handelte mit Haushaltswaren. Mit Schnellkochtöpfen und Dampfgarern. | |
Einen ganzen Autoanhänger mit dem Zeug hab ich aus Deutschland | |
hergeschafft. Das ging haufenweise weg... | |
In meinem Zimmer stand ein alter Computerkar- ton voller Geld, nur so war | |
das Geld für mich real. Du nimmst immer wieder Geld aus dem Karton, und es | |
wird nicht alle. Ich hatte mir im Grunde schon alles gekauft: ein Auto, | |
eine Wohnung... eine Rolex... ich erinnere mich an diesen Rausch ... du | |
kannst dir alle deine Wünsche erfüllen, alle deine geheimen Phantasien. Ich | |
habe viel über mich selbst erfahren: erstens, dass ich keinen Geschmack | |
habe, und zweitens, dass ich Komplexe habe. Ich kann nicht mit Geld | |
umgehen. Ich wusste nicht, dass viel Geld arbeiten muss, dass es nicht | |
einfach so rumliegen darf. Geld ist für den Menschen genauso eine | |
Versuchung wie Macht oder die Liebe... ich träumte... und fuhr nach Monaco. | |
Im Casino von Monte Carlo verspielte ich viel Geld, sehr viel. Ich konnte | |
nicht aufhören... ich war ein Sklave meines Kartons. Ist noch Geld drin | |
oder nicht? Wie viel? | |
Es musste immer mehr und mehr sein. Ich interessierte mich für nichts mehr, | |
wofür ich mich früher interessiert hatte. Politik... Kundgebungen... | |
Sacharow war gestorben. Ich ging mit zum Abschiednehmen. Hundert- tausende | |
Menschen... alle weinten, auch ich weinte. Und jetzt stand kürzlich über | |
ihn in einer Zeitung: ‚Ein großer Narr Russlands ist gestorben.‘ Da dachte | |
ich: Er ist zur rechten Zeit gestorben. Als Solschenizyn aus Amerika | |
zurückkam, haben sich alle auf ihn gestürzt. Aber er verstand uns nicht, | |
und wir verstanden ihn nicht. Ein Ausländer. Er wollte zurück nach | |
Russland, aber draußen war Chicago... | |
Was ich ohne die Perestroika heute wäre? Ein kleiner Ingenieur mit | |
lächerlichem Gehalt... (Er lacht.) Und jetzt habe ich meine eigene | |
Augenklinik. Mehrere Hundert Menschen mitsamt ihren Familien, ihren | |
Großmüttern und Großvätern sind von mir abhängig. Leute wie Sie wühle… | |
ihrem Inneren herum, reflektieren – ich habe dieses Problem nicht. Ich | |
arbeite Tag und Nacht. Ich habe brandneue Ausrüstungen gekauft und meine | |
Chirurgen zum Praktikum nach Frankreich geschickt. Aber ich bin kein | |
Altruist, ich verdiene gut. Ich habe alles selbst erreicht ... ich hatte | |
nur dreihundert Dollar in der Tasche ... | |
Angefangen habe ich mit Partnern, bei deren An- blick Sie in Ohnmacht | |
fallen würden, wenn die jetzt hier reinkämen. Gorillas! Grimmiger Blick! | |
Die sind nicht mehr da, sie sind verschwunden wie die Dinosaurier. Ich bin | |
mit einer kugelsicheren Weste rumgelaufen, auf mich wurde auch schon | |
geschossen. Wenn jemand schlechtere | |
Wurst isst als ich, kümmert mich das nicht. Ihr habt den Kapitalismus doch | |
alle gewollt. Habt davon geträumt! Also schreit jetzt nicht, dass man euch | |
betrogen hat ...“ | |
Es gibt wenige Gewinner, aber viele Verlierer. Und zwanzig Jahre danach | |
lesen die jungen Leute wieder Marx. Wir hatten gedacht, der Kommunismus sei | |
tot, aber diese Krankheit ist chronisch. In den Küchen werden noch immer | |
die gleichen Gespräche geführt: Was tun und wer ist schuld? Da wird von | |
einer eigenen Revolution geträumt. Umfragen zufolge sind die Menschen für | |
Stalin, für eine „starke Hand“ und für den Sozialismus. Das Ende des �… | |
Menschen“ ist aufgeschoben. Ein alter KGB-Mann erklärte mir gegenüber im | |
Zug ganz offen: „Ohne Stalin geht bei uns nichts. Was ist der Mensch? Ramm | |
ihm ein Stuhlbein in den Hintern, und er ist kein Mensch mehr. Nur noch | |
physisch. Ha-ha.“ Das hatte ich schon mal gehört... | |
Alles wiederholt sich... in Russland... in meinem kleinen Weißrussland | |
gehen Tausende junge Leute erneut auf die Straße. Sitzen im Gefängnis. Und | |
reden über die Freiheit.Vor der Revolution von 1917 schrieb der russische | |
Schriftsteller Alexander Grin: „Die Zukunft ist nicht mehr an ihrem Platz.“ | |
Auch jetzt ist die Zukunft nicht mehr an ihrem Platz ... Manchmal frage ich | |
mich, warum ich immer wieder in die Hölle hinabgestiegen bin. Um den | |
Menschen zu finden... | |
Zum Schluss möchte ich den Mitgliedern der Jury für die hohe, mir erwiesene | |
Ehre danken. Danken möchte ich auch dem deutschen und dem schwedischen | |
PEN-Zentrum und den französischen Schriftstellern, die mich in einer | |
schwierigen Situation unterstützt haben, als ich aus politischen Gründen | |
meine Heimat verlassen musste. Mein Dank gilt auch meiner langjährigen | |
Verlegerin Elisabeth Ruge, die mich seit Jahrzehnten begleitet, und meiner | |
Agentin Galina Dursthoff. | |
Ich danke allen meinen Helden, die ihr Geheimnis mit mir geteilt, mir ihr | |
Leben erzählt haben. Viele von ihnen leben nicht mehr. Aber ihre Stimmen | |
bleiben. Ich danke Ihnen allen. | |
Aus dem Russischen übersetzt von Ganna Maria Braungardt. | |
13 Oct 2013 | |
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