Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Literatur: Die Menschen sprechen lassen
> Swetlana Alexijewitsch, die diesjährige Trägerin des Friedenspreises des
> Deutschen Buchhandels, erzählte im Deutschen Theater vom postsowjetischen
> Alltag.
Bild: Swetlana Alexijewitsch, diesjährige Trägerin des Friedenspreises des De…
Die Plätze im zweiten Rang waren nicht verkauft worden, wohl weil das dem
intimen Charakter einer Lesung nicht angemessen gewesen wäre. Überall sonst
ist das Deutsche Theater bis auf den letzten Platz besetzt, als Swetlana
Alexijewitsch, in Deutschland in den neunziger Jahren bekannt geworden mit
„Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“ und Autorin der aktuellen
Post-Sowjetunion-Bestandsaufnahme „Secondhand-Zeit“ am Freitagabend
auftritt.
Natürlich verdankt sich dieses Interesse vor allem der Tatsache, dass die
Arbeit der Swetlana Alexijewitsch durch die Verleihung des Friedenspreises
des deutschen Buchhandels am vorigen Wochenende frisch geadelt worden war.
Der derzeit eher schwächelnden Konjunktur von Russland- oder gar
Weißrussland-Themen in der hiesigen Wahrnehmung kann das nur gut tun.
Fünf Ensemblemitglieder des DT lasen aus „Secondhand-Zeit“, das – wie al…
Alexijewitsch-Bücher – komponiert ist wie eine Symphonie der menschlichen
Stimmen. Die Autorin, die ursprünglich Journalistin ist, erklärte im
anschließenden Podiumsgespräch ausdrücklich, was sie betreibe, sei kein
Journalismus. Wenn sie einen Menschen gefunden habe, mit dem sie reden
wolle, so komme sie fünf- oder sechsmal zum Gespräch. Und zwar „nicht als
die große Schriftstellerin“, sondern als Mensch, der die Realität genauso
wenig versteht wie die Gesprächspartner selbst. Das sei sehr anstrengend,
„weil man dabei die ganze Zeit auch selbst sehr wahrhaftig sein muss“.
Die längere Passage, die von den SchauspielerInnen gelesen wird,
verdeutlicht gut die enorme Bandbreite an Haltungen und Meinungen, die
Alexijewitsch mit ihrer empathischen Gesprächsführung einzufangen in der
Lage ist, und die Besonderheit ihrer Montagetechnik. Studenten, Arbeiter,
ein Funktionär und eine Chronistin berichten von Ereignissen aus der
Jelzin-Zeit, angeordnet um ein Kernthema, zu dem der Text immer wieder
zurückkehrt: Ein hoher Militär, ein Offizier im Marschallsrang, ist im
Anschluss an die erfolgreiche Verteidigung des „Weißen Hauses“ durch Jelzin
und seine Anhänger erhängt aufgefunden worden. Offensichtlich Selbstmord,
doch nicht alle wollen das glauben. Abschließend berichtet die Chronistin,
nach der Beisetzung seien aus dem Grab des Marschalls die Uniform sowie
sämtliche Orden gestohlen worden.
Durch die leitmotivische Wiederkehr der Erzählungen vom Schicksal des toten
Marschalls nimmt dieses allmählich den Charakter von etwas an, das größer
ist als es selbst, wird gleichsam zur Metapher für das Ende der
Sowjetunion.
Aber was ist eigentlich an deren Stelle getreten? Wurde aus dem
sowjetischen lediglich der postsowjetische Mensch? Im Podiumsgespräch wird
dieselbe fragende Haltung zum Gegenstand ihres Schreibens deutlich, die
Swetlana Alexijewitsch auch in ihrer Dankesrede zur Preisverleihung
eingenommen hat. Und während die Moderatorin Katharina Narbutovic
hartnäckig versucht, der Preisträgerin allgemeingültige Wahrheiten zu
entlocken und fragt, wie der Mensch widerstehen könne, und was das
Schweigen mit ihm mache, so bescheidet die Geehrte freundlich, Antworten
auf derart große Fragen habe sie auch nicht.
Alexijewitsch erklärt und erzählt schlicht, wie die Menschen, mit denen sie
spricht, vor allem ganz normal ihr Leben leben – zu jeder Zeit und ganz
egal, was die Politik gerade mit ihnen vorhat. Swetlana Alexijewitsch, so
stellt sie damit klar, sieht sich als Chronistin von Lebenswirklichkeiten,
nicht als politische Analytikerin.
Ambivalenz kennzeichnet ihre eigene Haltung. Sie sieht zwar eine deutliche
gesamtgesellschaftliche Tendenz zum allzu unkritischen Rückgriff auf alte
sowjetische Werte. „Man kann nicht einfach sagen, Putin oder Lukaschenko
sind schuld“, erklärt Alexijewitsch, denn es gebe eine starke
gesellschaftliche Basis für die Bejahung autoritärer Regierungsformen.
Andererseits setzt sie aber eine gewisse Hoffnung auf die Jugend.
Allerdings ist auch an dieser Stelle, wie so oft, nicht ganz klar, ob sie
gerade von Weißrussland spricht, in dessen Hauptstadt Minsk die Weißrussin
Alexijewitsch auch lebt, oder von Russland, dessen Sprache sie spricht und
schreibt – oder ob das ohnehin egal ist. Auch im politischen
Abhängigkeitsverhältnis zwischen Moskau und Minsk setzt sich ja letztlich
eine sowjetische Tradition fort.
Zum Abschluss sagt Alexijewitsch: „Man muss den Menschen lieben. Aber ich
sage nicht, dass das einfach ist.“ Und weil es danach nichts mehr zu sagen
gibt, steht sie auf, lächelt freundlich und geht.
20 Oct 2013
## AUTOREN
Katharina Granzin
## TAGS
Swetlana Alexijewitsch
Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
## ARTIKEL ZUM THEMA
Friedenspreis des Deutschen Buchhandels: Die Archäologin des Kommunismus
Die Weißrussin Swetlana Alexijewitsch gibt den menschlichen Stimmen in
ihren Büchern eine Bühne. In ihrer Heimat muss sie mit zahlreichen
Schikanen leben.
Friedenspreisträgerin Alexijewitsch: Rede von Swetlana Alexijewitsch
Die Dokumentation der Rede der weißrussische Autorin Swetlana Alexijewitsch
zur Verleihung des Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
Friedenspreis für Swetlana Alexijewitsch: Chronistin des Leidens
Sie gilt als moralisches Gedächtnis der zerfallenen UdSSR. Nun hat die
weißrussische Autorin Swetlana Alexijewitsch den Friedenspreis des
Deutschen Buchhandels erhalten.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.