Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Dokumentartheater „Komme bald!“: Die Hölle der Jungnazis
> Das Eisenbahntheater „Das letzte Kleinod“ macht aus den Erinnerungen von
> ehemaligen Kriegsgefangenen das einfühlsame Stück „Komme bald!“.
Bild: Jungsträume vom Krieg: Gespielt werden die Soldaten von Frauen
Bad Bederkesa taz | Es ist auch die Frage nach der eigenen
Familiengeschichte. Einiges Verstörendes fand Jens-Erwin Siemssen im Keller
der Verwandten. Diese Funde treiben ihn an, sich immer wieder künstlerisch
mit dem Zweiten Weltkrieg, dem Nationalsozialismus und dem Holocaust
auseinanderzusetzen. Aber damit wird jetzt Schluss sein müssen, denn für
sein Eisenbahntheater „Das letzte Kleinod“ setzt der Regie führende Autor
stets auf Aussagen von Zeitzeugen. Die aber sind jetzt, 75 Jahre nach
Kriegsende, fast ausgestorben.
Schon für das aktuelle Projekt „Komme bald!“ waren sie kaum zu finden.
Gegenübergestellt werden sollten Erfahrungen von Wehrmachtssoldaten und
Rotarmisten in sowjetischer und deutscher Gefangenschaft. Dann kam Corona.
Die Interviews in Russland konnten nicht mehr geführt werden, die in
Deutschland waren zum Glück schon aufgezeichnet. Sechs Männer hat Siemssen
interviewt, der jüngste war 92 Jahre alt.
Wie Geächtete, Ausgestoßene kamen sie in ein Land, in dem sie sich nicht
auskannten. Die Einsamkeit des gedemütigten, reumütigen und traumatisierten
Kriegsheimkehrers, für den die Tür der Gesellschaft verschlossen ist, hat
Wolfgang Borchert mit seiner Figur Beckmann geradezu ikonografisch
beschrieben. Da ist kaum etwas hinzuzufügen. Deswegen beendet auch Siemssen
genau in dem Moment sein Stück, als die deutschen Kriegsgefangenen in den
1950er-Jahren erstmals wieder heimischen Boden betreten und draußen vor der
Tür stehen.
„Was dann passierte, darüber haben meine Gesprächspartner auch kaum etwas
erzählt“, sagt Siemssen. Jugendliche sind es gewesen, eigentlich Kinder,
als sie in den letzten Tagen des längst verlorenen Zweiten Weltkriegs noch
etwas vom Leben als Schlachthaus erfahren mussten. Mehr als drei Millionen
Soldaten waren zu Kriegsende in der Sowjetunion interniert, jeder Dritte
überlebte das nicht. Die Berichte seiner Zeitzeugen konzentrierte Siemssen
zu vier exemplarischen Biografien – als pointierte Impressionen eines
Panoramas der verlorenen Kindheit und einer Jugend in Trümmern.
Kurze, schmucklose Aussagesätze sind zu hören, in schnellem Rhythmus
weitergereicht, als würden sich die Figuren miteinander erinnern, obwohl
die O-Ton-Geber einander nie begegneten. Elisabeth Müller, Natalie
Voskoboynikova, Margarita Wiesner und Regina Winter bilden dabei ein
homogen agierendes Darstellerinnenquartett, das mit großer Empathie
erforscht, was hinter dieser Jungsbegeisterung fürs Militärische als
Abenteuer und den Faschismus als Machodemonstration steckt.
Die Jungnazis werden nicht gleich kritisiert oder lächerlich gemacht,
Siemssen will sie als Menschen verstehbar machen, damit deutlich wird, was
die NS-Ideologie in den Heranwachsenden ansprach, um sie für die
Hitlerjugend (HJ), die Gewalt der Gleichschaltung, für Kriegsterror und
Genozid zu gewinnen.
Dabei hat das Ensemble den großen Vorteil, befreit von Coronabeschränkungen
agieren zu dürfen. Zum Proben hatten sich alle mit Zelten vier Wochen lang
in einen Wald zurückgezogen, Selbstquarantäne. Jetzt ist das Team in den
elf Wagen des Eisenbahntheaterzuges zu Hause und reist damit zu den
insgesamt neun Aufführungsorten. Der nächste wird Frankfurt (Oder) sein.
In Bad Bederkesa im Landkreis Cuxhaven verfolgt das 60-köpfige Publikum das
Breitbandgeschehen mit Abstand auf Liege- und Klappstühlen vor dem Zug. Bei
der Uraufführung auf dem Bahnhof der Museumseisenbahn in Bad Bederkesa war
das diesmal nicht der Kompagnie-eigene, weil schrottreife Waggons das
bespielbare Gleis besetzen, die als Kulisse sogar noch besser zum Thema
passen. Den idyllischen Hoffnungskontrapunkt spendiert die Natur gratis
dazu: Im Sonnenuntergang hinter dem Geschehen turtelt unbeirrt von
inszeniertem MG-Geknatter und Granatendonner ein Storchenpaar auf seinem
Horst.
Die vier ineinandercollagierten Geschichten erzählt Siemssen schlicht
chronologisch. Pures Dokumentartheater ohne Fremdtexte oder andere modische
Zutaten.
Die Schauspielerinnen stellen die anfangs 16-jährigen Figuren Hans, Werner,
Thomas und Willy vor. Ihre Schwärmerei für Hitler, Eroberungsfeldzüge und
Uniformen. Bald zeigen die HJ-Darstellerinnen großen Spaß bei der
Wehrmachtsgrundausbildung.
Wie immer bei Siemssen gibt es ein Requisit, das ständig mitspielt. In
diesem Fall sind es Feldbetten, die zu einer dürren Spielpuppe
zusammenzufalten sind, sodass eine Stützstange in die Waagerechte schnappen
kann, als würde ein Gewehr präsentiert – oder ein Penis erigieren. Geht es
doch um Jungs und ihre fehlgeleitete Potenz. Die Objekte können auch prima
Pferde, Geschütze, Leichen, Feind- und Traumbilder darstellen. In einem
Mannschaftszelt lassen sich zudem diverse Spielorte imaginieren.
Todernst wird das naive Toben im Schützengraben an der Ostfront. Der
Aufbruchswille weicht einer zwischen Angst und Neugier changierenden
Haltung, die in sibirischen Straf- und Arbeitslagern in zunehmendes
Entsetzen und Resignieren kippt. Bei Folter, Hunger, Kälte, schwerster
Maloche. Und der Gedankendämmerung, sich mitschuldig gemacht zu haben am
größten Verbrechen der Menschheit. Wenn es nach Jahren endlich zurück nach
Deutschland geht, ist nur ein scheues „Wir sind frei“ zu hören.
Problematisch an der Inszenierung wirkt der Zwang, jedes Wort in Aktion
übersetzen zu müssen, was Hektik verbreitet und verhindert, dass die
Darstellerinnen ihre Figuren entwickeln können. Bestenfalls verniedlichend
ist es zudem, wenn von Explosionen beim Frontgemetzel die Rede geht und
sogleich Zeltplanen in die Luft geworfen, Pfeif- und Krawumm-Geräusch
gemacht werden. Und was bringt es, wenn eindrücklich über quälende Läuse
berichtet wird und sich alle Schauspielerinnen dazu niederlegen, den Körper
schmerzverzerrt winden und wie irr an sich herumkratzen? Statt geradezu
naturalistischer Illustration wäre eine kunstvoll überformende Bildsprache
zielführender, um den Worten mehr Hall- und Assoziationsräume zu öffnen.
Trotzdem ist „Komme bald!“ ein eindringlicher Abend über Furcht und Elend
von Krieg und Kriegsgefangenschaft, ohne reflexhafte Schuldzuschreibungen,
ohne falsches Mitleid, stattdessen: mit Mitgefühl.
10 Aug 2020
## AUTOREN
Jens Fischer
## TAGS
Dokumentartheater
Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg
Wehrmacht
Kriegsgefangene
Theater
Dokumentartheater
Stasi-Unterlagen
Theater
Hamburg
Dokumentartheater
Bremen
Schwerpunkt Nationalsozialismus
Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg
## ARTIKEL ZUM THEMA
Theaterstück zu Hotels der DDR: Erinnerung und Aufruhr
Das Eisenbahntheaterprojekt „Hotel Einheit“ erzählt von Edelhotels der DDR.
Es befördert auch eine Wiederbelebung der oft verfallenen Objekte.
Bremerhavener Theaterstück „No Finer Way“: Bildmächtiger Dampfer-Charme
„Das Letzte Kleinod“ zeigt ein Stück über den Dampfer „United States“.
Parallel dazu verkündet die Hafengesellschaft den Erhalt des
„Columbusbahnhof“.
Dramatikerin über ihr Stasi-Stück: „Eine Bereitschaft, zu denunzieren“
Nicole Heinrich hat Stasi-Spionin Monika Haeger ein Monodrama gewidmet. Ihr
dokumentarisches Stück sucht nach vergleichbaren Motiven in der Gegenwart.
Cum-Ex-Skandal an Lichthof Theater: Tränen aus Elbwasser
Im Hamburger Lichthof Theater widmet man sich mit „Tax for free“ zum
zweiten Mal den Cum-Ex-Geschäften. Mit dabei: ein verwunderter Kohlhaas.
Wolfgang Borchert-Gedenken in Hamburg: „Allesversucher und Nichtskönner“
Im Mai wäre der Schriftsteller Wolfgang Borchert 100 Jahre alt geworden. In
seiner Heimatstadt Hamburg widmen sich diverse Veranstaltungen dem Autor.
Theaterrecherche zum Oktoberfestattentat: Der Wille zum Einzeltäter
Ein Rechercheprojekt über den rechtsextremen Anschlag auf das Oktoberfest
ist nun auch im Netz zu sehen. Es rekonstruiert die Geschehnisse von
damals.
Das Leid der Zwangsarbeiter: „Menschen wie Fleischwaren gehandelt“
Briefe sowjetischer Kriegsgefangenen in Nazi-Deutschland sind erschütternde
Zeugnisse. In einer Lesung werden sie in Bremen vorgestellt
Neuauflage von „Odyssee in Rot“: Linsen, in Stalingrad geschliffen
Heinrich Gerlach beschrieb als einer der ersten das wahre Gesicht der
deutschen Wehrmacht. Sieben Jahre verbrachte er in sowjetischen Lagern.
Sowjetische Kriegsgefangene: Geld für 537 ehemalige Rotarmisten
Deutschland zahlt je 2.500 Euro an ehemalige Gefangene der Wehrmacht.
Bislang hat sie aber nicht mal die Hälfte der Betroffenen erreicht.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.