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# taz.de -- Cum-Ex-Skandal an Lichthof Theater: Tränen aus Elbwasser
> Im Hamburger Lichthof Theater widmet man sich mit „Tax for free“ zum
> zweiten Mal den Cum-Ex-Geschäften. Mit dabei: ein verwunderter Kohlhaas.
Bild: „Tax for Free“ mit Günter Schaupp, Jonas Andreas, Ruth Marie Krüger…
Fünf Jahre und sechs Monate Gefängnis: So lautet das Urteil, das am
[1][Dienstag, 2. Juni, am Landgericht Bonn über Christian S]. gefällt
wurde. Als ehemaliger Generalbevollmächtigter der Hamburger Privatbank M.
M. Warburg war er mitverantwortlich dafür gewesen, dass die Bank in den
Jahren von 2007 bis 2011 falsche Steuererklärungen abgegeben hatte – und so
über 160 Millionen Euro vom Staat kassierte. Das Urteil ist zwar noch nicht
rechtskräftig, wird aber schon als „historisch“ bezeichnet. Zum ersten Mal
wurde ein Banker wegen Cum-Ex-Geschäften zu einer Haftstrafe verurteilt.
Michael Kohlhaas hätte sich gefreut.
2018 deckte eine Investigativrecherche den größten Steuerskandal in der
Geschichte Europas auf: Mindestens 55 Milliarden Euro ließen sich
Investor*innen und Banken durch den Dreieckshandel von Aktien zu
Unrecht vom Finanzamt erstatten. Mit dabei: die 1789 gegründete
Warburg-Bank.
Auch wenn jetzt ein erstes Urteil gefällt wurde und drei weitere
Warburg-Banker in Bonn angeklagt sind, bleiben viele Fragen offen: Warum
waren der Hamburger Senat und die Steuerverwaltung bereit, Steuern in
Millionenhöhe mit Blick auf die Cum-Ex-Geschäfte verjähren zu lassen? Hatte
der Sozialdemokrat Olaf Scholz – damals Erster Bürgermeister Hamburgs –
bestimmte Dokumente absichtlich nicht „veraktet“? Standen die Bankinhaber
Christian Olearius und Max Warburg also unter dem Schutz des Hamburger
Senats?
Oder, anders gefragt: „Welchen Politiker rufen Sie eigentlich an, wenn Sie
Probleme mit Ihrem Steuerbescheid haben?“ So bringt es einer der
Darsteller*innen in „Tax for free – Scholz und Tschentscher geben einen
aus und Michael Kohlhaas wundert sich“ auf den Punkt. Das Stück kam im
Lichthof Theater Hamburg zur Premiere, coproduziert vom asphalt Festival
Düsseldorf und dem TD Berlin.
## Die kurzen Wege zwischen Politik und Wirtschaft
Der Warburg-Fall zeige in einer Nussschale, wie kurz die Wege zwischen
Wirtschaft und Politik tatsächlich sind, sagt [2][Oliver Schröm] an diesem
Abend. Er ist einer der Politik- und Finanzexperten, mit denen Regisseur
Helge Schmidt die Inszenierung entwickelt hat und die darin in kurzen
Einspielern zu Wort kommen. Mit den Darsteller*innen Jonas Anders, Ruth
Marie Kröger, Günter Schaupp und Laura Uhlig dröselt Schmidt die
verwirrende Chronik der Ereignisse auf. Unermüdlich erklären die
Schauspieler*innen auf der puristischen Bühne von Anika Marquardt und
Lani Tran-Duc die Fakten, zitieren aus Tagebüchern und Briefen.
Die verschiedenen Protagonisten werden lediglich über wunderbar trashige
Requisiten markiert: ein prall gefüllter Geldsack, eine funkelnde
HipHop-Halskette mit Olearius-Schriftzug, zwei Pappschilder mit den
Konterfeis von Olaf Scholz und Peter Tschentscher.
Fast jede*r spielt hier jede*n, zwischendurch werden „Fun Facts“ zu
verarmenden Millionären und eng verwobenen Blankeneser Freundeskreisen
eingestreut, werden Szenarien visualisiert, wie sie in den schalldichten
Besprechungszimmern des Hamburger Rathauses stattgefunden haben könnten.
Dann läuft manchem Politiker vor Bankier-Mitleid „das Elbwasser“ in die
Augen.
Zwischen diesen (fast zu) faktenreich geratenen Szenen spielt Günter
Schaupp mit Michael Kohlhaas jenen Kleist’schen Rosshändler, dessen
Gerechtigkeitssinn sich an einem Schlagbaum entzündet und in einen blutigen
Rachefeldzug mündet. Die Idee, diese für Gerechtigkeit brennende Figur den
Scholz-Tschentscher-Warburg-Verwicklungen gegenüberzustellen, ist
interessant. Doch so ganz geht das Konzept nicht auf.
## Aus Verzweiflung Selbstjustiz
Zu vage bleibt die Haltung, die dahintersteckt. Will dieser Kohlhaas die
Hamburger Bürger*innen zum Protest aufrufen? Oder ist er vor allem ein
historisches Beispiel für wütenden Widerstand?
Impulsiv spielt Schaupp den um Recht ringenden Agitator, unvermittelt und
abrupt sind seine Szenen zwischen die des Cum-Ex-Skandals geschnitten. Eine
richtige Verzahnung gibt es nicht. Zu verschoben sind die Perspektiven, zu
unterschiedlich die Text- und Sprecherebenen, zu unentschieden wirkt die
Haltung der Regie.
Auf der einen Seite ist das ein dichter, dokumentarischer Theaterabend, der
mit Kenntnis, Humor und Zynismus einen skandalösen Betrugsfall erzählt. Auf
der anderen Seite die in Kleists komplexer Sprache und mit ironischen
Mitteln erzählte Geschichte eines Bürgers, der aus Verzweiflung
Selbstjustiz übt. Die verblüffende Leichtigkeit, die Schmidts großartige
und kluge Vorgänger-Inszenierung „Cum-Ex Papers“ im Jahr 2018, die mit dem
Theaterpreis Faust ausgezeichnet wurde, kennzeichnete, entsteht an diesem
Abend leider nicht.
4 Jun 2021
## LINKS
[1] /Urteil-zum-Dividendenstripping/!5772388
[2] /Ermittlungen-gegen-Correctiv-Chef/!5555890
## AUTOREN
Katrin Ullmann
## TAGS
Theater
Dokumentartheater
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