| # taz.de -- Theaterrecherche zum Oktoberfestattentat: Der Wille zum Einzeltäter | |
| > Ein Rechercheprojekt über den rechtsextremen Anschlag auf das Oktoberfest | |
| > ist nun auch im Netz zu sehen. Es rekonstruiert die Geschehnisse von | |
| > damals. | |
| Bild: Alle wollten aus ihrem Alltag ausbrechen: Szene aus dem Theaterprojekt zu… | |
| Am 26. September 1980 wurde der schwerste Terroranschlag in der Geschichte | |
| der Bundesrepublik begangen. Der Dramaturg Harald Wolff erzählt es in dem | |
| Intro zum Streaming von „9/26 – Das Oktoberfestattentat“. Von den sechs | |
| Schauspielern, die in Christine Umpfenbachs im Oktober an den Münchner | |
| Kammerspielen herausgekommenen Inszenierung einigen Überlebenden ihre | |
| Stimmen und Körper leihen, haben die wenigsten je davon gehört. | |
| Teils weil sie zu jung sind, teils weil der Eintrag im kollektiven | |
| Gedächtnis fehlt: 9/11 ist weit weg passiert, aber ein Marker aus | |
| gewaltigen Bildern und unermesslichem Schmerz – unauslöschbar vermutlich, | |
| und das zu Recht. Aber 9/26? | |
| Bereits einen Tag, nachdem im Eingangsbereich des [1][Münchner | |
| Oktoberfestes 13 Menschen starben und 221 weitere schwer verletzt] wurden, | |
| war der Boden neu geteert und die Sause ging weiter. Ein Großteil der 504 | |
| Asservate wurde noch im selben Jahr vernichtet, darunter eine herrenlose | |
| Hand. Ein möglicher Zusammenhang mit dem rechtsradikalen Anschlag in | |
| Bologna sechs Wochen zuvor wurde ignoriert. | |
| Man muss das immer wieder lesen oder hören, um es zu glauben. Aber klar: | |
| Der 21-jährige Bombenleger Gundolf Köhler starb am Tatort, seine | |
| Mitgliedschaft in der Wehrsportgruppe Hoffmann wurde wie diese selbst nicht | |
| nur von Franz Josef Strauß bagatellisiert, der Helmut Schmidt als Kanzler | |
| beerben wollte. Keine zwei Jahre später kam der Fall zu den Akten: | |
| Verwirrter Einzeltäter! Klingelt was? | |
| ## Unermessliches Leid, unermessliches politisches Versagen | |
| 2014 hat [2][Christine Umpfenbach am Münchner Residenztheater das | |
| NSU-Projekt „Urteile“] inszeniert. Unter einem kopfunter hängenden Baum | |
| traten Schauspieler als Stellvertreter der Überlebenden auf, der Ankläger, | |
| die nicht lockerlassen wollten, und der behäbigen Behördentiger, die es zu | |
| früh getan hatten: unermessliches Leid und unermessliches politisches | |
| Versagen, herzzerreißend, haarsträubend, aber szenisch eher trocken | |
| Schwarzbrot. | |
| So ist es auch jetzt, wo sich die Münchner Förderpreisträgerin „Theater“ | |
| (2014) dem Ereignis widmet, das zeigt, dass die Vorliebe für das | |
| Einzeltäternarrativ im Falle von rechter Gewalt schon älter ist. Und | |
| Umpfenbach ist die Richtige für diesen Job. Nicht, weil daraus | |
| atemberaubende Kunst entstünde. „9/26“ ist geschichtsdidaktisches | |
| Textablieferungstheater mit Politiker-Kasperltheatereinlagen. Aber | |
| Umpfenbach hat als gründliche Rechercheurin ein Ohr für die menschlichen | |
| und ein Auge für die politischen Details und weiß beides miteinander zu | |
| kombinieren. | |
| Der Beginn des Stückes lässt die Zeit wiederaufleben, in der man doofe | |
| Glitzerjacken zu Vokuhilas trug und zu „Daddy Cool“ von Boney M. Aerobic | |
| machte. Jedenfalls manche. Die RAF war noch aktiv, die Grünen wurden | |
| gegründet. | |
| Dann erklären die Schauspieler, von denen nur Stefan Merki vor vierzig | |
| Jahren schon auf der Welt war, wessen Sprechparts sie übernehmen. Als | |
| Authentizitätsbeweis werden ab und an O-Töne der Opfer zugeschaltet, später | |
| auch ihre Fotos neben die der Akteure projiziert. Meist aber wird „nur“ | |
| erzählt: Da war der junge Mann, den Merki spielt. Er war in Gabi verliebt, | |
| die noch bleiben wollte, ihn aber zur U-Bahn begleitete und am Anschlagsort | |
| starb. | |
| Da war der Junge, der das Loch in der Stirn seines jüngsten Bruders und die | |
| Innereien seiner kleinen Schwester sah, aber seine zerfetzten Füße nicht. | |
| Seine überlebenden Geschwister haben sich später das Leben genommen. | |
| ## Kein Interesse an ihren Aussagen | |
| Alle wollten aus ihrem Alltag ausbrechen, Romantik, Alkohol, die | |
| glitzernden Lichter sehen, noch einmal vor der Auswanderung Spaß auf dem | |
| größten Volksfest der Welt haben. Sie wurden nicht nur mit ihren Toten | |
| alleine gelassen und vom Versorgungsamt als Simulanten beschimpft, es hat | |
| sich auch keine Ermittlungsbehörde für ihre Aussagen interessiert. | |
| All das hat Umpfenbach in langen Gesprächen herausgefunden. Vor allem mit | |
| den Opfern, aber auch mit dem Anwalt, der seit 1982 an der Wiederaufnahme | |
| des Falles gearbeitet hat, die 2014 gelang. Die zum großen Teil erstmaligen | |
| und erniedrigenden Verhöre der Überlebenden 35 Jahre nach dem Anschlag | |
| ließen auch ohne den didaktischen Furor, mit dem sie hier nachgestellt | |
| werden, keinen anderen Schluss als vorsätzliche Verschleierung zu. | |
| Geschichte wiederholt sich, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. | |
| [3][Erst am 8. Juli 2020 kam der Generalbundesanwalt offiziell zu dem | |
| Schluss, dass dem Anschlag aufs Oktoberfest ein rechtsextremes Motiv | |
| zugrundegelegen hat]. Man mag nicht daran denken, wie viele gestrige Nazis | |
| und heutige Reichsbürger hätten verhindert werden können, wären Justiz und | |
| Ermittlungsbehörden weniger vorsätzlich blind gewesen. | |
| 28 Dec 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Oktoberfest-Attentatsopfer-ueber-Behoerdenversagen/!5714309 | |
| [2] /Stueck-zum-NSU-im-Residenztheater/!5044245 | |
| [3] /Ermittlung-zu-Oktoberfestattentat-eingestellt/!5698570 | |
| ## AUTOREN | |
| Sabine Leucht | |
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