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# taz.de -- Film „Das neue Evangelium“ als Stream: Jesus gegen die Globalis…
> Der Film „Das neue Evangelium“ des Regisseurs Milo Rau verknüpft
> Dokumentation, Re-Enactment und politische Aktion. Ein Teil der Erlöse
> geht an Kinos.
Bild: Jesus (Yvan Sagnet) mit dem Kreuz, im Hintergrund die Stadt Matera
Am Ende, der Abspann läuft schon, kann man sehen, was die
crowdfunding-gestützte [1][„Revolte der Würde“ in Italien] erreicht hat.
Eine Kamerafahrt besucht die neuen, sauberen Unterkünfte und autonom
bestellten Gemüsefelder und die neue Schneiderei der „Casa Sankara“, die
migrantische Tomatenpflücker in San Severo aus dem Elend der Ghettos und
den Händen der Mafia befreit hat.
In einer anderen Einstellung hält Hauptdarsteller Yvan Sagnet mit Maske und
dennoch sichtlich stolz die fair produzierte Tomatensauce seiner NGO
„NoCap“ in die Kamera, die er nun in zwei großen italienischen Supermärkt…
verkauft. Der italienische Biobauer Vito Castoro, der einen von Jesu
Aposteln spielt, zeigt die Felder seiner neu vernetzten Kooperative, in der
er nun unter anderem mit Hilfe von Migranten, afrikanisches Gemüse anbaut
und neue Absatzmärkte erreicht.
Es sind direkte Ergebnisse dessen, was die Dreharbeiten von [2][Milo Rau]
vor Ort erreicht oder beschleunigt haben, und sie zeigen, dass der Film
„Das neue Evangelium“ eine neue, ermutigende wie zukunftsweisende
Verbindung von Kunst und politischer Aktion erfindet: Es ist möglich zu
handeln. Allein durch die Vernetzung der Isolierten, in kleinen,
gemeinschaftlichen Schritten, kann viel erreicht werden.
Doch tatsächlich verweben sich in Milo Raus neuem Film noch weitere Ebenen:
Einerseits ist „Das neue Evangelium“ ein säkulares Passionsspiel in
historischen Kostümen, das emotional ergreifend die Bilder des legendären
Films „Das 1. Evangelium – Matthäus“ des Kommunisten Pier Paolo Pasolini
von 1964 reinszeniert.
## Reale Aktivisten und Geflüchtete
Zugleich dokumentiert der Film aber auch das heutige Elend der
Tomatenpflücker in Süditalien, die in matschigen, isolierten und
heruntergekommenen Bretterbaracken hausen, ausgebeutet von der Mafia, ganz
nah und doch unsichtbar für Touristenaugen: symbolisch für den desolaten
Zustand einer Welt, in der Großkonzerne durch Sklaverei Gewinne machen,
symbolisch auch für etwas, was Jesus vielleicht heute getan hätte: sich als
Sozialrevolutionär für die Verlierer der Globalisierung einzusetzen.
Mit ruhiger Kraft und charismatischer Aura schreitet Yvan Sagnet, der erste
schwarze Jesus der Filmgeschichte, durch die Ghettos und sammelt seine
Jünger ein für den politischen Kampf, die bei Milo Rau ebenfalls
Laiendarsteller, reale Aktivisten und Geflüchtete sind, etwa der Musiker
Ras Bamba, der heute in den Ghettos ein Radio betreibt, die Gründer der
Casa Sankara Papa Latyr Faye und Mbaye Ndiaye, die Nigerianerin Blessing
Ayomonsuro, die heute Prostituierten hilft und im Film zu Maria Magdalena
wird.
Auch Yvan Sagnet ist seit vielen Jahren politisch aktiv: 2007 kam er als
Ingenieurstudent aus Kamerun nach Turin und arbeitete erst selbst auf den
Feldern, bevor er 2011 den ersten Generalstreik der Gemüsepflücker
organisierte, der die korrupte Arbeitsvermittlung der „Carporalati“ unter
Strafe stellte. Immer wieder wurde Sagnet selbst massiv bedroht von der
Mafia, aber 2017 auch mit dem italienischen Verdienstorden ausgezeichnet
und in ganz Italien bekannt.
Während der Dreharbeiten wurde er allerdings trotzdem mit
zynisch-rassistischen Zeitungsartikeln konfrontiert: „Ein schwarzer Jesus
lockt die Migranten zu uns. Könnten sie tatsächlich über Wasser gehen,
hätten wir ein echtes Problem“, schrieb etwa die größte rechte Zeitung
Italiens La Verità mit ihm auf dem Titelblatt.
## Das eigene „Making of“ thematisiert
Doch was Milo Raus Film jenseits dessen zum Meisterwerk und zur großen
Metapher macht, ist die Art, wie eine dritte Ebene hineinspielt, die stets
das eigene „Making of“ thematisiert – und den Zuschauer quasi selbst in d…
filmischen Vorgang hineinzieht. Elegant erübrigt sich so zugleich auch die
alte Frage, ob ein weißer, privilegierter Regisseur seinen politischen
Kampf – aber auch seine eigene Karriere – auf dem Leid politisch Rechtloser
aufbauen darf.
Ja, er darf es, weil immer wieder zu sehen ist, wie sehr sich Milo Rau
zurücknimmt und selbst befragt, wie er die Realität in die Dreharbeiten
eingreifen lässt (als etwa das Ghetto neben Matera von der Polizei geräumt
wird und die Migranten zerstreut werden) und weil immer wieder deutlich
wird, wie stark er der Arbeit seiner Hauptfigur Yvan Sagnet den Raum
überlässt.
Gleich zu Beginn sehen wir, wie die beiden die schneebedeckten, pittoresk
bebauten Hügel von [3][Matera, Süditalien, bewundern, berühmt für die
Höhlensiedlungen, Weltkulturerbe, Kulturhauptstadt 2019]: eine Stadt, die
von ferne so sehr an Jerusalem erinnert, dass hier Pier Paolo Pasolini und
Mel Gibson legendäre Jesus-Filme drehten, aber auch der letzte James Bond
hier spielt.
## Künstlerisches Vermächtnis
Pasolinis „Das 1. Evangelium – Matthäus“ ist auch die direkte Vorlage f�…
Milo Rau, immer wieder verweben sich Realität und Inspirationsquelle: In
der Casa Sankara sehen wir etwa, wie Migranten und Filmteam gemeinsam den
Pasolini-Film angucken.
Der so umwerfend sanfte und eindrucksvolle Jesus-Laiendarsteller von 1964,
Enrique Irazoqui, spielt in Raus „Neuem Evangelium“ Johannes den Täufer
oder Schauspieltrainer für Yvan Sagnet. Er gibt ihm quasi sein
künstlerisches Vermächtnis weiter – und das sogar im traurigen Wortsinn,
weil Irazoqui, 76-jährig, nur wenige Tage nach der Premiere bei den
Filmfestspielen von Venedig im September 2020 starb.
Manchmal ist diese „Making of“-Ebene im Film ziemlich lustig, wenn man etwa
sieht, wie Yvan Sagnet sich zum Maßnehmen auf das Holzkreuz legt oder
fachmännisch die Lederpeitsche begutachtet, mit der er später gefoltert
wird.
In abgefilmten Casting-Szenen sieht man, wie abgeklärt die Stadtbürger von
Matera als Statisten sind, denn nicht zuletzt ist der Film auch ein
Gemeinschaftsprojekt der Stadt: Einer sammelt Selfies mit Filmstars, eine
andere weint für „Kinder in Afrika“, und selbst jener Bürgermeister, der
gerade noch brutal das Ghetto neben Matera räumen ließ, spielt eine Rolle
als demütiger und treusorgender Kreuzträger Simon von Cyrene.
## Peitschenschläge in der Kirche
Kaum auszuhalten ist dann aber jene Szene, in der sich ein gläubiger
Materaner als Soldat und Folterer bewirbt, um „den heiligen Gott zu
massakrieren“, mit nacktem Oberkörper und Liegestützen kampfbereit macht
und schließlich minutenlang einen schwarzen, glänzenden Stuhl foltert und
rassistisch beleidigt.
Lange hallen die Peitschenschläge in der Kirche, während Pergolesis „Stabat
Mater“ einsetzt und man sieht, wie sehr der sanfte Yvan Sagnet in Matera
geherzt und umjubelt wird: eine Metapher, die jenen strukturellen Rassismus
kondensiert, der Migranten passieren kann, wenn keine Filmteams
draufgucken.
Zum Schluss hin übernimmt die historische Bibelerzählung in großen,
gleißenden Bildern. Das Abendmahl in einer alten Industrieruine, der Verrat
des schwitzenden Judas. Der blutüberströmte Yvan Sagnet schleppt das Kreuz
die Gassen von Matera hinauf, Soldaten und Stadtbürger hetzen ihm
Affengeräusche hinterher.
Auf den Hügeln hinter Matera bricht Maria zusammen, gespielt von der großen
rumänischen Mel-Gibson-Schauspielerin Maia Morgenstern, stirbt zitternd
Jesus am Kreuz, während sich der Himmel real verdunkelt, „Cut“, ruft Milo
Rau.
Und auch wenn der Film sehr langsam beginnt, es eine Weile braucht, seine
Ebenen zu durchdringen, manches sich nicht ganz von selbst erklärt, hat er
am Ende emotional gepackt, ist die historische Fiktion so sehr mit Realität
getränkt, dass man weinen könnte und trotzdem Hoffnung hat. Ein gewaltiger
Aufschlag, eine neue Form von Kunst, die passender zur Weihnachtszeit nicht
sein könnte.
18 Dec 2020
## LINKS
[1] /Inszenierung-mit-Fluechtlingen/!5631752
[2] /Milo-Rau-an-der-Schaubuehne-Berlin/!5718549
[3] /Europaeische-Kulturhauptstadt-2019/!5581915
## AUTOREN
Dorothea Marcus
## TAGS
Film
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