Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Online-Eröffnungsrede der Wiener Festwochen: Dieser Wahnsinn muss …
> Wir dokumentieren die Rede von Kay Sara, notiert von Milo Rau, mit der
> die Wiener Festwochen starten. Wegen Corona gibt es das Kunstfestival nur
> im Netz.
Bild: Die Indigene Kay Sara bei den Proben zu „Antigone im Amazonas“
Diese Rede beginnt mit vielen Konjunktiven. Heute hätte ich auf der Bühne
des Burgtheaters stehen und die Wiener Festwochen eröffnen sollen. Ich wäre
die erste Indigene gewesen, die jemals eine Rede in diesem Theater gehalten
hätte, dem größten und reichsten Theater der Welt, wie man mir gesagt hat.
Ich hätte mit einem Zitat aus einem europäischen Klassiker, der „Antigone“
des Sophokles, begonnen: „Vieles ist ungeheuer. Aber nichts ist ungeheurer
als der Mensch.“
Denn ich wäre direkt von unseren Proben im Amazonas zu Ihnen gekommen,
[1][einer europäisch-brasilianischen Neuinszenierung der „Antigone“]. Ich
hätte Antigone gespielt, die sich gegen den Herrscher Kreon auflehnt, der
ihren Bruder nicht beerdigen will, weil er als Staatsfeind gilt. Der Chor
hätte aus Überlebenden eines Massakers der brasilianischen Regierung an
Landlosen bestanden.
Wir hätten diese neue „Antigone“ auf einer besetzten Straße durch den
Amazonas aufgeführt – jenen Wäldern, die in Flammen stehen. Es wäre kein
Theaterstück gewesen, sondern eine Aktion. Kein Akt der Kunst, sondern ein
Akt des Widerstands: gegen jene Staatsmacht, die den Amazonas zerstört.
Doch das alles ist nicht geschehen. Die Straße durch den Amazonas wurde
nicht besetzt, ich habe nicht die Antigone gespielt. Wir sind alle wieder
verstreut über den Globus, und wir sehen uns nur noch auf Bildschirmen –
wie jetzt.
## Eine Tochter des Donnergottes
Meine europäischen Freunde haben mich gefragt, wie es mir geht. Mir geht es
gut. Ich befinde mich im Wald bei meinem Volk, ganz im Norden Brasiliens,
am Ufer des Flusses Oiapoque. Die Natur umgibt mich, sie beschützt und
nährt mich. Ich lebe im Rhythmus des Gesangs der Vögel und des Regens, und
ich führe die Rituale aus, die mich in Kontakt zu meinen Vorfahren bringen.
Zum ersten Mal seit 500 Jahren sind Europa und Amerika wieder voneinander
getrennt.
Ich gehöre zum 3. Clan des Volks der Tariano, des Clans des Donners. Ich
bin eine Tochter des Donnergottes, eine Königstochter, wie Antigone.
Früher, erzählt der Mythos, waren wir Tariano Menschen aus Stein. Aber in
der Moderne nahmen wir einen menschlichen Körper an, damit wir mit den
Menschen, die zu uns kamen, kommunizieren konnten.
Meine Mutter, eine Tucana, gab mir den Namen Kay Sara. Das bedeutet: „Die
sich um andere sorgt“. Von väterlicher Seite bin ich also eine Tariana.
Aber ich spreche in meiner Muttersprache zu ihnen, dem Tucano. Wie jeder
bin ich eine Mischung aus vielem: ich bin Tucana und Tariana, eine Frau,
eine Aktivistin, eine Künstlerin. Ich spreche als all das zu ihnen.
Wir Tucano werden Indianer genannt. Aber ich bestehe darauf, dass wir
Indigene genannt werden. Denn indigen heißt: einheimisch. Ich bin
Schauspielerin geworden, damit ich von uns, den Indigenen, erzählen kann.
Lange Zeit wurde unsere Geschichte mit den Worten von Nicht-Indigenen
erzählt. Nun ist es an der Zeit, dass wir selbst unsere Geschichte
erzählen.
Unser Unglück begann, als die Spanier und Portugiesen in unser Land kamen.
Zuerst kamen die Soldaten, dann kamen die Geistlichen. Mit den Europäern
kamen die Krankheiten zu uns. Millionen starben. Weitere Millionen starben
von der Hand der Soldaten und der Geistlichen, im Namen des einen Gottes
und der einen Zivilisation, im Namen des Fortschritts und des Gewinns.
## Heute sind nur noch wenige von uns übrig
Einige verließen die Wälder, um auf den Feldern zu arbeiten. Aber am Ende
der Arbeit tötete man sie, um sie nicht zu bezahlen. Heute sind nur noch
wenige von uns übrig. Ich bin eine der Letzten der Turiano. Und vor einigen
Wochen also kam die nächste Krankheit aus Europa zu uns: Corona. Vielleicht
haben Sie davon gehört, dass in Manaus, der Hauptstadt des Amazonas, die
Krankheit besonders schrecklich wütet. Es ist keine Zeit mehr für richtige
Beerdigungen. Menschen liegen in Massengräbern, Traktoren schütten sie zu.
Andere liegen in den Straßen, unbeerdigt wie Antigones Bruder.
Die Weißen nutzen das Chaos, um noch tiefer in die Wälder einzudringen. Die
Feuer werden nicht mehr gelöscht. Von wem auch? Wer den Holzfällern in die
Hände fällt, wird ermordet. Und was hat Bolsonaro getan? Das, was er immer
getan hat: Er schüttelt die Hände seiner Unterstützer und verspottet die
Toten. Er hat seine Mitarbeiter beauftragt, die indigenen Völker zu
benachrichtigen, dass eine Krankheit ausgebrochen sei. Das ist ein Aufruf
zum Mord an uns. Bolsonaro will den Genozid an den Indigenen, der seit 500
Jahren anhält, zu Ende bringen.
Ich weiß: Ihr seid Reden wie diese gewohnt. Wenn es schon zu spät ist,
kommt immer eine Seherin oder ein Seher zu euch. Wenn in den griechischen
Tragödien Kassandra oder Teiresias auftreten, dann weiß man, dass das
Unglück bereits seinen Lauf genommen hat. Denn ihr hört uns gern singen,
aber ihr hört uns nicht gern reden. Und wenn ihr uns zuhört, dann versteht
ihr uns nicht. Das Problem ist nicht, dass ihr nicht wisst, dass unsere
Wälder brennen und unsere Völker sterben. Das Problem ist, dass ihr euch an
dieses Wissen gewöhnt habt.
Ich sage euch also, was ihr alle wisst: Vor einigen Jahren trockneten die
Nebenflüsse des Amazonas zum ersten Mal seit Menschengedenken aus. In zehn
Jahren wird das Ökosystem des Amazonas kippen, wenn wir nicht sofort
handeln. Das Herz dieses Planeten wird aufhören zu schlagen. Das sagen
unsere und das sagen eure Wissenschaftler, und vielleicht ist es das
Einzige, worin sie sich einig sind. Wir werden untergehen, wenn wir nicht
handeln.
## Weniger rauben, weniger töten
Man hat uns in den letzten Wochen viele Pamphlete geschickt, unterzeichnet
von Berühmtheiten. Weniger fliegen wollt ihr, weniger rauben, weniger
töten. Aber wie könnt ihr glauben, dass euch nach 500 Jahren der
Kolonisierung, nach Tausenden Jahren der Unterjochung der Welt ein Gedanke
kommen kann, der nicht nur weitere Zerstörung bringt?
Wenn ihr in euch hineinhört, dann findet ihr nur euer schlechtes Gewissen.
Und wenn ihr durch die Welt reist, findet ihr nur den Schmutz, mit dem ihr
sie besudelt habt. Es gibt nichts, wozu ihr zurückkehren könnt. Ich fürchte
mich nicht um mich, ich fürchte mich um euch.
Es ist für euch also Zeit zu schweigen. Es ist Zeit, zuzuhören. Ihr braucht
uns, die Gefangenen eurer Welt, um euch selbst zu verstehen. Denn die Sache
ist so einfach: Es gibt keinen Gewinn in dieser Welt, es gibt nur das
Leben. Und deshalb ist es gut, dass ich nicht auf der Bühne des
Burgtheaters stehe. Dass ich nicht als Schauspielerin zu euch spreche. Denn
es geht nicht mehr um Kunst, es geht nicht mehr um Theater. Unsere Tragödie
findet hier und jetzt statt, in der Welt, vor unseren Augen.
Und vielleicht ist es das, was mich am meisten beunruhigt, wenn ich Kreon
sprechen höre: Er weiß, dass er im Unrecht ist. Er weiß, dass das, was er
tut, nicht richtig ist. Dass es falsch ist, in jeder Hinsicht. Dass es
seinen Untergang bringen wird, den Untergang seiner Familie, die
Apokalypse. Und trotzdem tut er es. Er kritisiert sich selbst, er hasst
sich selbst, aber er fährt fort, zu tun, was er hasst.
Dieser Wahnsinn muss aufhören. Hören wir auf, wie Kreon zu sein. Seien wir
wie Antigone. Denn wenn Rechtlosigkeit Gesetz wird, wird Widerstand zur
Pflicht. Lasst uns gemeinsam Widerstand leisten, lasst uns Menschen sein.
Jeder in seiner Art und an seinem Ort, vereint durch unsere
Unterschiedlichkeit und unsere Liebe zum Leben, das uns alle vereint.
16 May 2020
## LINKS
[1] /Theaterprojekt-mit-Landlosen-in-Brasilien/!5670534
## AUTOREN
Kay Sara
## TAGS
Theater
Wiener Festwochen
Brasilien
Indigene
Amazonas
Kunst
Theater
Film
taz.gazete
Bolivien
Theater
Schwerpunkt Coronavirus
Theater
Schwerpunkt Coronavirus
Milo Rau
Mossul
Milo Rau
## ARTIKEL ZUM THEMA
Ausstellung José Leonilson in Berlin: Ein stickender Popstar
Der brasilianische Künstler José Leonilson starb mit 36 Jahren an Aids.
Eine große Retrospektive macht mit seinem berührenden Werk vertraut.
Interview mit Regisseur Milo Rau: „Widerstand heißt überleben“
Regisseur Milo Rau kommt mit der School of Resistance nach Berlin. Ein
Gespräch über Widerstand, Mozart und digitale Praktiken während der
Pandemie.
Film „Das neue Evangelium“ als Stream: Jesus gegen die Globalisierung
Der Film „Das neue Evangelium“ des Regisseurs Milo Rau verknüpft
Dokumentation, Re-Enactment und politische Aktion. Ein Teil der Erlöse geht
an Kinos.
Milo Rau an der Schaubühne Berlin: Brief an eine Schauspielerin
Die Theatersaison ist eröffnet. „Everywoman“ von Milo Rau und der
Schauspielerin Ursina Lardi entstand im Dialog mit einer kranken Frau.
Preisträgerin der Goethe-Medaille 2020: „Bolivien ist divers“
In Deutschland geehrt, in Bolivien gefeuert. Die indigene Museumsdirektorin
Elvira Espejo Ayca im taz-Gespräch über den Kulturkampf in Bolivien.
Kultur-Festivals in Corona-Krise: Neue Konzepte müssen her
Digital, national oder translokal – wie KünstlerInnen auf die
eingeschränkten Reisemöglichkeiten in Coronazeiten reagieren.
Diskussion über Kunst in Coronakrise: Lieber Maler, male mir!
Die Bundestagsfraktion der Grünen lud zu einer Diskussion über „Kunst in
der Coronakrise“. Gestritten wurde im Internet.
Mühlheimer Theatertage im Netz: Am Schluss ein Tattoo auf der Brust
Mit einem Porträt-Format im Netz weisen die Mülheimer Theatertage auf ihr
ausgefallenes Festival „Stücke 2020“ über neue Dramatik hin.
Theaterprojekt mit Landlosen in Brasilien: Corona trifft Antigone
Regisseur Milo Rau arbeitete mit Landlosen im Amazonasgebiet Brasiliens –
bis Corona kam. Für die taz berichtet er über die dramatische Lage.
Inszenierung mit Flüchtlingen: Die Waffe der Entrechteten
Regisseur Milo Rau fordert in seinem Gastbeitrag eine „Revolte der Würde“.
Für die Inszenierung in Italien bringt er Aktivismus und Kunst zusammen.
Gastbeitrag Theatermachen im Irak: Der endlose Zyklus der Gewalt
Vor fünf Jahren rief der „Islamische Staat“ in Mossul das Kalifat aus, nun
wird an diesem Ort ein antikes Stück aufgeführt. Es ist nur ein Anfang. Ein
Essay.
Milo Rau am Nationaltheater in Gent: „Klassiker verboten!“
Regisseur Rau schlug eine Intendanz am Züricher Schauspielhaus aus und geht
nach Belgien. Ein Gespräch über Homophobie und die Banalität des Bösen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.