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# taz.de -- Preisträgerin der Goethe-Medaille 2020: „Bolivien ist divers“
> In Deutschland geehrt, in Bolivien gefeuert. Die indigene
> Museumsdirektorin Elvira Espejo Ayca im taz-Gespräch über den Kulturkampf
> in Bolivien.
Bild: Elvira Espejo Ayca, Preisträgerin der Goethe-Medaille 2020
taz am wochenende: Elvira Espejo Ayca, Sie sind Weberin, Musikerin,
bildende Künstlerin und Kuratorin. Was verbindet Ihr vielfältiges
kulturelles Schaffen miteinander?
Elvira Espejo Ayca: Mich begeistert es, den Dingen auf den Grund zu gehen
und sie zu erforschen. Ich denke, das ist der rote Faden, der für mich die
verschiedenen Felder – Poesie, Gesang, das Textile oder die bildende Kunst
verbindet. Forschung ist sehr interessant, um Informationen vergleichen und
ergänzen zu können. So bemühe ich mich, umfassendes Wissen darüber zu
sammeln, was die lokale, regionale und kommunitäre Bildung meines Volkes
ist. Mit dieser komplementären Erfahrung begegne ich einer, sagen wir,
„akademischeren“ oder „universelleren“ Logik. Das ist der rote Faden, u…
er hilft mir, mich in den unterschiedlichen Bereichen zu bewegen.
Haben Sie das Weben schon als Kind gelernt?
Das textile Thema hat viel mit Bildung in unseren Gemeinschaften zu tun.
Bereits im Alter von sechs Jahren wird dir gemeinsam in den Dörfern oder in
der Familie das Weben beigebracht.
Diese Tradition ist in Bolivien heute noch lebendig?
Solche Fähigkeiten sind zu 80 Prozent sicherlich verloren gegangen. Aber
man findet immer noch funktionierende Gemeinschaften, in denen gewebt wird.
Doch eine offizielle Ausbildung für textile Kunst gibt es in Lateinamerika
nicht. Mode oder Design als Studium existieren zwar, nur geht es da um
etwas ganz anderes. Deshalb hat mich auch das Beispiel der [1][Webwerkstatt
am Bauhaus mit Künstlerinnen wie Anni Albers so] beeindruckt.
Wie haben Ihre biografischen Erfahrungen Sie geprägt?
Ich komme aus einer abgeschiedenen, ländlichen Gegend Boliviens, und
natürlich habe ich das Wissen meines Dorfs komplett absorbiert. Es ist eine
andere Vorstellung von Bildung, die sich an den Vorgängen des realen
Lebens orientiert. Wir beherrschen zum Beispiel die Zucht von Kamelen und
die Landwirtschaft. Die Vorstellung über das Universum, die Achtung davor
und all diese Dinge unterscheiden sich jedoch sehr von europäischen. Eine
vertikal ausgerichtete, internationalisierte Bildung, die zum Beispiel die
Philosophie Sophokles’ lehrt, ist für uns schwer zu verstehen. Es
entspricht nicht unserem Denken.
Oder wie Mathematik oder Chemie funktionieren. Es geht um ganz andere
Aspekte, viele Leute haben nicht die Möglichkeit, diese auf sich zu
beziehen und zu reflektieren. So geht sehr viel Information verloren. Ich
habe im Leben diese Hürde nehmen können, um beide Seiten kritisch zu
hinterfragen und zwischen deren Logiken auf andere Weise Brücken
herzustellen. Irgendwie wird das wohl immer meine Aufgabe sein, weil ich
aus einer bäuerlichen Region komme und auch das urbane, akademische Umfeld
kenne.
Sie sind in diesem Jahr Preisträgerin der [2][Goethe-Medaille]. Die Jury
unterstreicht besonders diese Fähigkeit, Brücken zu bauen, und würdigt mit
der Auszeichnung auch Ihre Verdienste als Direktorin des Nationalmuseums
für Ethnografie und Folklore, dem MUSEF in La Paz. Als Sie die Leitung des
Museums 2013 übernahmen, worin bestand für Sie die größte Herausforderung?
Viele der international anerkannten Museen arbeiten mit einer Chronologie
der Objekte – archäologisch, historisch oder ethnografisch. Was ich mit dem
Einstieg im MUSEF ändern wollte, war, sichtbar zu machen, woraus ein Objekt
besteht und wie man sein Ursprungsmaterial erhält. Welche verschiedenen
Bearbeitungsschritte es zu einem Objekt machen, das wiederum ein Teil des
sozialen Lebens wird.
Üblicherweise zeigen Museen diese Ketten nicht, weil sie nur die Theorie
und nicht die Praxis kennen. Natürlich gibt es Wissenschaften wie die
Anthropologie oder die Ethnologie, die Informationen dazu geben, aber nicht
mit der selben Präzision. Unsere Herausforderung war es diese Dynamik zu
verändern und die Vermittlung zu stärken, um der Gesellschaft den Wert der
Praxis und die Zeit bewusst zu machen, die es bedarf, um solch ein Objekte
herzustellen. Ich glaube, das hat sehr dazu beigetragen, die Dinge auf eine
andere Art zu verstehen und nicht nur vereinfacht in einer zeitlichen
Abfolge zu sehen.
„Widerspruch ertragen – der Ertrag des Widerspruchs“ gilt als der
Leitspruch des diesjährigen Goethe-Preises. Wie könnte man diese Forderung
im bolivianischen Kontext verstehen?
Ich denke, es geht für uns um die Entwicklung einer Denkweise, die von
einer Bildung abstrahiert, die für privilegierte Gesellschaften, aber nicht
für die ländlich geprägten Gemeinschaften gemacht ist. Mit unseren
Überlegungen haben wir dazu beigetragen, andere Perspektiven zuzulassen.
Wie machen Sie diese sichtbar?
Das Überdenken der Konzeption des Museums hat dazu geführt, dass wir
angefangen haben, im MUSEF auch Kataloge zu machen. Zum ersten Mal in der
Geschichte Boliviens veröffentlichte das Museum Publikationen, teilweise
mit über 500 Seiten. Mit diesen Katalogen haben wir Ausstellungen wie etwa
„Tejiendo la vida“ über die Produktionsketten des Webens oder „Vistiendo
Memorias“ über die kulturelle Transformation der Kleidung geplant.
Daraus ist direkt die Idee zum „MUSEF Pórtatil“, dem beweglichen Museum,
entstanden. Denn es ist notwendig, dass eine Gesellschaft ihr Kulturerbe
kennt. Und dass ein Museum nicht nur in urbanen Gegenden besucht werden
kann, sondern auch in die Dörfer und entlegenen Gemeinden kommt. Es ist
wichtig, zwischen dem, was sie sehen und wir kommunizieren, eine
Wechselbeziehung besteht.
Neben den Folgen der Coronapandemie leidet Bolivien besonders unter der
aktuellen politischen Krise. Ex-[3][Präsident Evo Morales befindet sich in
Argentinien im Exil], während eine konservative Übergangsregierung unter
Jeanine Áñez die Regierung übernommen hat. Zu deren ersten Amtshandlungen
zählte die Schließung des Kulturministeriums. Nun erhielten auch Sie im
Juli überraschend Ihre Kündigung als Museumsdirektorin. Welche Rolle spielt
die Kultur in der aktuellen politischen Auseinandersetzung?
Das ist die große Schwierigkeit mit dem Staat momentan. Er sieht nur eine
Monokultur, während Bolivien divers und vielstimmig ist. Es gibt mehr als
36 Nationalitäten in den verschiedenen Regionen, dem Tiefland, den Tälern
oder dem Altiplano. Wir haben eine große Vielfalt, die wichtig war im Kampf
für ein Kulturministerium. Das war ein gewonnener Raum, der mit dieser
Regierung nun wieder abhanden gekommen ist. Wir Kulturleiter sind wie eine
überflüssige Ausstellung übrig geblieben. Ich glaube, dass es da ein
mangelndes Verständnis für das eigene Land gibt. Deshalb ist die Ignoranz
und der Wunsch, monokulturell geweißt zu sein, so stark. Aber Bolivien ist
groß, und die Vielfalt kann uns auf vortreffliche Weise dienen, uns neu zu
positionieren.
26 Aug 2020
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## AUTOREN
Eva-Christina Meier
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