| # taz.de -- Zeitzeugen und politisches Theater: „Eine exzellente Entscheidung… | |
| > Heidi und Rolf Abderhalden – Preisträger der Goethe-Medaille 2018 und | |
| > Gründer von „Mapa Teatro“ aus Bogotá – über 50 Jahren Gewalt in | |
| > Kolumbien. | |
| Bild: Heidi und Rolf Abderhalden vom kolumbianischen Theaterkollektiv Mapa Teat… | |
| taz am wochenende: Heidi und Rolf Abderhalden, seit über dreißig Jahren ist | |
| „Mapa Teatro“ in Bogotá beheimatet. Ihr Theater beschreiben Sie als ein | |
| interdisziplinär arbeitendes Laboratorium. Was unterscheidet Sie von | |
| anderen Theatern in Kolumbien, und wie drückt sich dies ästhetisch aus? | |
| Heidi Abderhalden: Unsere Geschichte beginnt nicht als ein Laboratorium. | |
| Das hat sich erst im Laufe der Zeit aus unserer Produktionsweise heraus | |
| entwickelt. Und natürlich hatten auch wir am Anfang konventionellere | |
| Vorstellung von Theater. | |
| Erinnern Sie sich an eine besondere Erfahrung, die Ihre Entscheidung, sich | |
| anderen Formen und Disziplinen zu öffnen, befördert hat? | |
| Rolf Abderhalden: Als wir nach Jahren in Europa 1986 nach Bogotá | |
| zurückkamen, hatten wir zunächst die Absicht, ein festes Theater | |
| aufzubauen. Aber wir erkannten bald, dass so etwas in dem Moment gar nicht | |
| entscheidend war. Wir hatten ja auch keine feste Spielstätte. Eines unserer | |
| ersten Projekte in Kolumbien realisierten wir dann im damals größten | |
| Gefängnis Bogotás. | |
| War der Drogenkrieg der Kartelle in Kolumbien damals schon in vollem Gange? | |
| Heidi A.: Ja, die Situation war zu diesem Zeitpunkt sehr kritisch. Im | |
| Gefängnis gab es Drogenhändler, Sicarios, aber auch politische Gefangene | |
| oder Leute der Guerilla, genauso wie ganz normale Verbrecher. | |
| Rolf A.: Tatsächlich war diese Erfahrung, während eines Jahres mit den | |
| Häftlingen dort zu inszenieren – ein Stück von Heiner Müller und eine | |
| Erstaufführung in Kolumbien – etwas, das unserer Arbeit eine neue Richtung | |
| gegeben hat und unsere Haltung veränderte. | |
| 1984 hatten Sie „Mapa Teatro“ gemeinsam mit Ihrer Schwester Elizabeth in | |
| Paris gegründet. Was bewegte Sie dazu, zwei Jahre später nach Kolumbien | |
| zurückzukehren? | |
| Heidi A.: Dafür muss ich kurz ausholen. Mein Vater war Schweizer und lebte | |
| in Kolumbien. Damals war es klar, dass wir nach der Schulzeit in Kolumbien | |
| in die Schweiz gehen und unsere Ausbildung in Europa fortsetzen würden. | |
| Jeder von uns ging zu einem andern Zeitpunkt und einen anderen Weg. Rolf | |
| hat mehr Zeit als ich in Europa verbracht. Nachdem wir unsere Ausbildungen | |
| abgeschlossen hatten, standen wir vor der Frage, wo wir weitermachen | |
| wollten. Wir hatten schon mit Theater begonnen und hätten in Paris oder in | |
| der Schweiz bleiben können. Aber ich glaube, letztlich sind wir wegen der | |
| Kraft, die das Land in uns freigesetzt hat, zurückgekommen. Für mich | |
| persönlich war es eine exzellente Entscheidung. Von dieser Wucht und | |
| Komplexität der kolumbianischen Gesellschaft ist unsere Ästhetik und | |
| unser Handeln geprägt worden. „Mapa Teatro“ hätte nicht zu dem werden | |
| können, was es ist, wären wir in Europa geblieben. | |
| Rolf A.: Wir sind zu keinem einfachen Zeitpunkt nach Kolumbien | |
| zurückgekehrt. Die Politik der Regierung war bedrückend, es gab politische | |
| Verfolgung, und der Drogenhandel begann, in alle Schichten der Gesellschaft | |
| einzudringen. Das veränderte das soziale Leben und seine Dynamik | |
| nachdrücklich. Ich glaube, wir hatten damals einen langen Atem, viel | |
| Energie und den starken Wunsch, ein Projekt auf die Beine zu stellen, um | |
| diese besonders schwierigen Jahre zu überstehen. | |
| Angesichts der bewaffneten Konflikte von Paramilitärs und Farc-Guerilla, | |
| die das Land terrorisierten – welche gesellschaftliche Rolle konnte das | |
| Theater oder die Kultur im Alltag Kolumbiens spielen? | |
| Heidi A.: Das ist eine spezielle Frage, die unsere ganze Arbeit umfasst – | |
| unseren Platz in dieser Gesellschaft, in dieser Gewalt, unsere Rolle als | |
| Erzähler, als Zeugen, unser Künstlersein. Ich will es weder darauf | |
| reduzieren noch spektakularisieren, aber wir kommen aus einem Land, das von | |
| Gewalt geprägt ist. Dieser Drang nach Gewalt ist etwas, das schwierig zu | |
| verstehen und schwierig zu lesen ist. Davon umgeben stellen wir uns Fragen. | |
| Und unsere Antworten darauf sind poetische. Wir machen ein poetisches | |
| Theater. | |
| Rolf A.: Es war immer deutlich erkennbar, dass wir in unseren Projekten | |
| keine Ideologien vertreten haben. Obwohl wir über ein ausgeprägtes | |
| soziales Empfinden verfügen, haben wir uns nie in irgendeiner politischen | |
| Partei engagiert. Sehr leicht hätte man aus einer Inszenierung mit | |
| Beteiligten wie den Gefängnisinsassen eine ideologische Sache machen | |
| können. Das haben wir aber nicht. | |
| Sie inszenierten Stücke von Cortázar, Beckett oder Heiner Müller. Welches | |
| Publikum erreichte „Mapa Teatro“ damit? | |
| Rolf A.: Zunächst kam ein junges, universitäres Publikum mit großer Neugier | |
| für unsere Art von Theater, das anders war, als das in Bogotá übliche. Es | |
| gab bis dahin eine gewisse Tradition des politischen, sehr ideologischen | |
| Theaters, oder es wurden eher leichte Formate in den kommerziellen Theatern | |
| inszeniert. | |
| Heidi A.: Wir begannen an verschiedenen Orten in Bogotá in leerstehenden | |
| Häusern und Ruinen zu spielen, eine bis dahin unübliche Praxis. Für unsere | |
| Zuschauer, unsere Freunde und die Leute unserer Generation hatte das etwas | |
| sehr Vitales, sich mit poetischen Fragen zu Cortázar, der Stadt und ihren | |
| Problemen an solch unkonventionellen Orten zu beschäftigen. | |
| Sehr viel internationale Aufmerksamkeit erhielt „Mapa Teatro“ für seine | |
| vierteilige „Anatomie der Gewalt“, die mit der Aufführung von „Los Santos | |
| Inocentes“ (Das Fest der unschuldigen Kinder) 2010 eröffnet wurde. Markiert | |
| diese als Montage von Bildern, Texten und Tönen virtuos inszenierte | |
| poetische Auseinandersetzung mit der kolumbianischen Geschichte einen | |
| Wendepunkt in Ihrem Schaffen? | |
| Rolf A.: Mit diesem Zyklus haben wir zu einer Reife und künstlerischen | |
| Qualität gefunden, die mit einer allgemeinen politischen Entwicklung | |
| einherging. Wir empfanden eine Notwendigkeit, uns der Geschichte der | |
| letzten fünfzig Jahre auf unsere eigene Weise anzunähern. Daraus ist eine | |
| vielfältige Verbindung entstanden zwischen unseren Biografien als Bürger | |
| Kolumbiens, den Zeugnissen von Gewalt und der kollektiven Erzählung eines | |
| Landes, das ein Kapitel abzuschließen versucht, um eine neue Seite | |
| aufzuschlagen. | |
| Heidi A.: Wir haben mit diesen vier Produktionen, an denen wir zehn Jahre | |
| arbeiteten und in die zwanzig Jahre Erfahrung einflossen, vor allem eine | |
| große künstlerische Freiheit erreicht. Unterstützt wurden wir dabei aus | |
| Deutschland. | |
| Rolf A.: Unsere erste Produktion aus der Reihe „Los Santos Inocentes“ war | |
| eine Koproduktion mit dem Berliner HAU. Ein Jahr zuvor hatten sie uns auf | |
| dem Theaterfestival in Bogotá gesehen. | |
| Heidi A.: Solche Koproduktionen wie mit dem HAU oder Einladungen zu | |
| Theaterfestivals sind Gelegenheiten, die uns ökonomisch ermöglichen, auch | |
| hier vor Ort weiterzuarbeiten. | |
| Nach jahrelangen, zähen Verhandlungen kam 2016 schließlich der | |
| Friedensvertrag zwischen der kolumbianischen Regierung und der | |
| Farc-Guerilla zustande. In Ihrem Stück „La Despedida“ (Der Abschied), das | |
| im April an der Berliner Schaubühne präsentiert wurde und mit dem Sie den | |
| Zyklus zur Gewalt in Kolumbien abschließen, verhandeln Sie diese | |
| historische Einigung und die Folgen. Was wird in Zukunft die größte | |
| Herausforderung für die kolumbianische Gesellschaft sein? | |
| Rolf A.: … zu lernen, ohne Feind zu leben. | |
| Heidi A.: Das ist das eine. Auch wenn das Abkommen der Regierung mit der | |
| vielleicht ältesten Guerilla der Welt ein mutiger, wichtiger Schritt | |
| gewesen ist, muss dieser Frieden weiterhin hergestellt werden. Wir alle | |
| müssen uns für das historische Ereignis verantwortlich fühlen und die | |
| Umsetzung nicht nur als Auftrag der Regierung begreifen. | |
| Das Gespräch wurde auf Spanisch und per Skype geführt. | |
| 26 Aug 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Eva-Christina Meier | |
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