# taz.de -- Gründerin über Festival Plataforma: „Wir sind komplett verloren… | |
> Die Konfrontation mit einer fast apokalyptischen Realität, darum geht es | |
> in dem Festival Plataforma Berlin. Martha Hincapié Charry hat es | |
> entwickelt. | |
Bild: Die Performance „Hybris“ nähert sich teils aus einem indigenen Verst… | |
taz: Frau Charry, die diesjährige Ausgabe des Festivals Plataforma Berlin | |
heißt „A Brave Post-Colonial World“. Das klingt nach Huxley, also fast | |
sarkastisch. | |
Martha Hincapié Charry: Kann sein. Wir leben in einer Welt, in der Utopie | |
und Dystopie sehr nah aneinander sind beziehungsweise in der wir | |
eigentlich mit beiden Beinen in der Dystopie stehen und es nicht leicht | |
ist, zu verstehen, was unser Erbe ist und was wir davon mit in die Zukunft | |
nehmen können. Oder auch ganz physisch gesprochen: Es geht um die | |
Konfrontation der Künstler_innen aus Lateinamerika mit einer brutalen, fast | |
apokalyptischen Realität. | |
Welche Art von Konfrontation? | |
Zur Eröffnung zeigen wir zum Beispiel „El cuerpo vacío“ – der leere Kö… | |
– von dem in Mexiko arbeitenden Netzwerk Cuatro X Cuatro. Die Schwester | |
der Performer wurde vor vier Jahren in Mexiko ermordet. Sie war Aktivistin | |
und Produzentin des Festivals, das sie in Xalapa geschaffen haben. Dieser | |
Ort liegt mitten in einer Gegend, die stark von der [1][Narco-Kultur], die | |
ganze Landstriche in Lateinamerika kaputt macht, geprägt ist. | |
Wenn Sie von „Narco-Kultur“ sprechen, dann meinen Sie in erster Linie | |
Drogen und Gewalt und nicht die subkulturelle Ästhetik, die daraus | |
entstanden ist? | |
Ja, ich beziehe mich auf die Narco-Welt, in der die Gewalt keine Grenzen | |
mehr kennt, in der menschliche Körper keine Bedeutung mehr haben, sondern | |
eine Sache sind, die aus dem Weg geräumt wird. Ich bin in Kolumbien | |
aufgewachsen und habe die dortige Ausprägung davon erlebt. Die Gewalt ist | |
Teil des Alltags geworden und damit Teil unserer Kultur. Klingt schlimm, | |
aber es ist wahr. | |
Welchen Einfluss hat Gewalt auf die künstlerische Arbeit? | |
Ich erwähne als ein weiteres Beispiel aus Mexiko die Arbeit von Lukas | |
Avendaño. Er stammt von den Zapoteken ab, einer Bevölkerungsgruppe im Süden | |
Mexikos. In deren Tradition gibt es Männer, „Muxheidad“ genannt, die in der | |
Gesellschaft weibliche Rollen übernehmen und auch untereinander heiraten. | |
Diese soziale Rolle reflektiert er in seiner Arbeit. Gleichzeitig ist auch | |
er auf brutale Art konfrontiert mit der Realität. Im letzten Jahr ist sein | |
Bruder verschwunden, und Lukas hat eine Kampagne ins Leben gerufen, um ihn | |
zu suchen und die Politik dazu zu bringen, ihm zu helfen. Es ist | |
erbärmlich: Es scheint schon fast normal in Mexiko, dass Menschen, vor | |
allem Frauen, verschwinden. Wie aber lebt man mit dieser Art von präsenter | |
Abwesenheit? Diese Frage wird zu einem Subtext im Leben, aber auch im | |
Körper. | |
Sie haben schon erwähnt, dass Sie in Kolumbien aufgewachsen sind. Kamen Sie | |
aufgrund einer künstlerischen oder politischen Entscheidung nach | |
Deutschland? | |
Beides. Ich wollte Tänzerin werden, und es gab zu jener Zeit keine | |
Studienmöglichkeiten dafür. Andererseits war die Zeit, als ich Kolumbien | |
verlassen habe, die gewalttätigste unserer jüngeren Geschichte. Im Jahr | |
2000 haben 6 Millionen Menschen das Land verlassen. Es passierte auf eine | |
sehr stille Art. Die internationale Presse hat es kaum thematisiert. | |
Heute hat Kolumbien, unter anderem infolge des vom Farc-Abkommen | |
hinterlassenen Machtvakuums, immer noch sehr viele Binnenflüchtlinge. | |
Gleichzeitig sind aktuell mehr als 2 Millionen venezolanische Geflüchtete | |
über die Grenzen gekommen. Soweit ich weiß, haben Sie gerade drei Monate in | |
den betroffenen Regionen verbracht? | |
Ja, bis vor einem Monat war ich mit einem Stipendium der | |
Pina-Bausch-Stiftung dort. Ich komme aus der Stadt Bucaramanga, die nahe an | |
der Grenze zu Venezuela liegt. Die Situation dort ist sehr kritisch, obwohl | |
die kolumbianische Regierung relativ angemessen reagierte. So ist die | |
kostenlose gesundheitliche Versorgung der Geflüchteten gewährleistet, | |
Frauen mit Kindern wird prioritär geholfen, und Zehntausende Kinder wurden | |
bereits ins Schulsystem integriert. Aber ähnlich wie 2015 in Europa konnte | |
noch keine ausreichende Infrastruktur geschaffen werden. Ungezählte | |
Menschen schlafen im Freien und sind weiterhin auf Hilfe angewiesen. Sie | |
können nicht zurück, es gibt in Venezuela keine Nahrungsmittel, und sie | |
haben keinen Besitz. Manche haben Berge von Geld dabei, das nichts wert | |
ist. Nun gestalten sie kunsthandwerkliche Produkte aus den Scheinen. Zum | |
Beispiel nähen sie Taschen daraus. Sie verarbeiten sie mit sehr | |
ansprechenden Stickereien, sie sehen absurderweise richtig toll aus. | |
Es gab in den vergangenen Jahren in der Performanceszene ein großes | |
Interesse an traditionellen südamerikanischen Praktiken und indigener | |
Spiritualität. Drei Begriffe scheinen dominant: die Figur des Jaguar, | |
Ayahuasca-Rituale sowie das „Anthropophage Manifest“ des brasilianischen | |
Modernisten Oswald de Andrade. | |
Nicht alles, was hier ankommt, steht wirklich im Verhältnis zu der Art, wie | |
es in der dortigen Gesellschaft praktiziert wird, und dazu, welchen | |
Stellenwert es hat. Es gibt sehr viele indigene Kulturen, ich selbst stamme | |
zum Beispiel von den nicht mehr existenten Quimbaya, einer | |
Goldschmiedekultur, ab. Aber es ist sehr komplex, zu verstehen, welche | |
Beziehungen wir zu unseren Vorfahren haben und welche Techniken wir in | |
Bezug auf diese Frage nutzen. Darüber hinaus stecken wir im selben Dilemma | |
wie die westlich-okzidentale Welt: Wir müssen die Natur retten, haben aber | |
keinerlei Verbindung mehr zu ihr. Wir sind komplett verloren. Die Leute | |
suchen also nach einem Ausweg, und es entwickeln sich Trends. Was auch | |
wieder absurd ist, wenn jemand für sein seelisches Gleichgewicht einmal im | |
Monat zu einer Ayahuasca-Zeremonie in den Amazonas fliegt. Okay, ich | |
übertreibe, aber dieser Konsum von Spiritualität führt letztlich wieder nur | |
dazu, dass der Ort, der 20 Prozent unseres Sauerstoffs herstellt, weiter | |
verwüstet wird. | |
Im Festival gibt es auch Positionen, die das Verhältnis zur Natur | |
thematisieren. Welche Herangehensweisen gibt es? | |
Die Performances „Hybris“ nähert sich teils aus einem indigenen | |
Verständnis, teils aus Neue-Medien-Perspektive dem Thema Klimawandel. Und | |
zur Eröffnung wird es ein Podium geben, auf dem unter anderen auch Sônia | |
Guajajara vertreten sein wird. Die Umweltaktivistin war 2018 die erste | |
indigene Kandidatin im Wahlkampf um die Vizepräsidentschaft in Brasilien. | |
Ich selbst war im April zum Unterrichten in Brasilia. Zu jener Zeit gab es | |
zufällig die bisher größte Demonstration von First-Nation-Gruppen, | |
einschließlich der Besetzung des Parlaments. Ich war sehr beeindruckt | |
davon, zu sehen, wie sie das holistische Weltbild ihrer Kulturen umsetzen: | |
Tanz wird nicht von Politik geschieden, Singen nicht von Ökonomie, Natur | |
nicht vom Menschen. Diese Erfahrung ist ein Teil dessen, was ich mit dem | |
Festival versuche: Qualitäten zu verstehen und zu etwas zurückzufinden – ob | |
auf Ebene der Politik, der Wirtschaft oder der Kunst –, von dem wir nicht | |
wissen, was es war. | |
18 Jul 2019 | |
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## AUTOREN | |
Astrid Kaminski | |
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