# taz.de -- Totenkopf-Verehrung in Bolivien: Der Tag der Plattnasen | |
> Viele Bolivianer leben mit Totenschädeln zusammen, von denen sie sich | |
> Schutz und Rat erhoffen. Am „Día de las Ñatitas“ werden sie gefeiert. | |
Bild: Ñatitas finden sich in La Paz auch im Stadtbild, wie auf diesem Wandgem�… | |
La Paz taz | Sie ist hübsch, hat schwarze schulterlange Haare und trägt ein | |
geschmackvolles Kostüm. Sie arbeitet als Lehrerin in einer Grundschule. Sie | |
heißt Alejandra. Und sie ist tot. | |
Alejandra starb bei einem Autounfall, mehrere Jahre ist das schon her. Ihre | |
Geschichte hat sie Diego Calle in einem Traum erzählt, als sie bereits bei | |
ihm wohnte. Als Ñatita. | |
Ñatitas, das sind Totenschädel; der Name leitet sich von ñato ab, | |
plattnasig. Laut der Tradition der Aymara, einer indigenen Volksgruppe aus | |
Bolivien, sind in ihnen Seelen gefangen. Ñatitas sollen den Haushalt oder | |
das eigene kleine Unternehmen schützen. Manchmal bewirken sie aber auch | |
größere Wunder. Der 8. November ist in Bolivien ihr Fest: „Día de las | |
Ñatitas“. | |
Am Montag zogen, nach einem Jahr pandemieerzwungener Pause, wieder Hunderte | |
zum Cementerio General, dem Hauptfriedhof von La Paz. Viele brachten ihre | |
Ñatitas von zu Hause mit, andere Schädel wurden exhumiert. Den ganzen Tag | |
über wurden sie mit Blumen gekrönt, ihnen wurden Getränke und Kokablätter | |
angeboten und brennende Zigaretten zwischen die Kiefer gesteckt. Menschen | |
kamen, um sie zu verehren, zu ihnen zu beten, für sie zu singen. | |
Als er klein war, hatte Diego Calle nicht wirklich an Ñatitas geglaubt. | |
Doch dann erkrankte er als Jugendlicher schwer, niemand konnte ihm helfen. | |
In solchen Situationen macht man Dinge, die man sonst niemals tun würde. | |
Und so ging Calle am 8. November 2014 auf den Cementerio General. Dort | |
bekam er von einer maestra eine neue Diagnose: Er sei nicht krank, sondern | |
verhext. Ein Gebet an eine Ñatita könne ihm helfen. Und das hat es auch, | |
sagt Diego Calle. | |
## Eine Ñatita fühlt sich schnell einsam | |
Zwei Jahre später bekam er seine erste eigene Ñatita: Alejandra. Inzwischen | |
hat er sieben, denn eine Ñatita fühlt sich schnell einsam und kann | |
eifersüchtig werden. So sind da außerdem noch Pedro und Mario, Ángel, | |
Ariel, Misael und Jessica. | |
Diego Calle, 25 Jahre alt, lebt in einem bescheidenen Viertel von La Paz. | |
Im Erdgeschoss ist sein kleiner Friseursalon, seine Familie lebt in der | |
ersten und zweiten Etage, ganz oben aber wohnen die Ñatitas. Morenada, | |
bolivianische Volksmusik, wummert durch den Raum. In einem Halbkreis sind | |
Stühle aufgestellt, auf der anderen Seite steht das Regal, auf dem | |
Alejandra und die anderen Schädel ruhen. Vor allem montags, am Tag der | |
Seelen, versammeln sich hier diejenigen, die an die Gunst der Ñatitas | |
glauben, Nachbarn und Bekannte Calles. Der Freitag hingegen wird von | |
Menschen genutzt, die Ñatitas für dunkle Wünsche nutzen wollen – etwas, das | |
Diego Calle stark verurteilt. | |
Ñatitas sind nicht einfach nur Schädel. Die Bolivianer glauben, dass es | |
sich um die Seelen von vergessenen Personen handelt, die nach einem Zuhause | |
suchen. Sie werden zu Familienmitgliedern, werden oft auch wawas genannt, | |
die Babys. Man soll sie füttern, rauchen lassen, mit ihnen reden – dann | |
seien sie zufrieden und beschützten das Haus vor dem Bösen, heißt es. Je | |
älter die Ñatita, desto stärker ihre Kraft. | |
## Eine gefangene Seele | |
Aber nicht jeder Schädel ist eine Ñatita. In der Weltansicht der Aymara | |
kann ein Mensch bis zu elf Seelen haben, die er üblicherweise schon als | |
Kind verliert, wenn er krank wird – eine nach der anderen. Damit ein | |
Schädel zu einer Ñatita wird, muss eine Seele im dazugehörigen Körper | |
gefangen sein; das ist möglich, wenn ein Mensch gewaltsam zu Tode kommt, | |
etwa ermordet wird, oder auch nach einer Krankheit. | |
Deshalb seien auch die Kinder-Ñatitas so selten, erklärt Milton Eyzaguirre. | |
Ihre Seelen sind meist zerbrechlich und erschrocken, sie entkommen dem | |
Körper. Eyzaguirre arbeitet im Museum für Ethnografie und Folklore in La | |
Paz und hat ein Buch über die Ñatitas veröffentlicht, seine Diplomarbeit. | |
Passenderweise hat eine Ñatita – Andrés – ihm dabei geholfen, als er erst | |
keinen Termin für die Verteidigung seiner Arbeit bekommen konnte. Selbst | |
hat Eyzaguirre keine Ñatitas zu Hause. Das sei nicht für jeden etwas, sagt | |
der Anthropologe. Schließlich müsse man sich jeden Tag um sie kümmern, | |
nicht nur am 8. November. | |
„Ich werde nicht lügen: Manchmal vergesse ich sie für einen Tag oder so. | |
Und sie werden wütend“, gibt Diego Calle zu. „Aber dann gebe ich ihnen | |
Süßigkeiten, Kokablätter, ich rede mit ihnen“, sagt er oben in seinem | |
Dachzimmer, während er einen der Schädel aus dem Regal nimmt und ihm einen | |
Kuss dorthin gibt, wo bei Menschen die Lippen sind. „Es tut mir heute sehr | |
leid, das zuzugeben, aber es hat mich früher immer ein bisschen angeekelt, | |
wenn ich gesehen habe, wie manche Leute den Schädeln so nah waren.“ Jetzt | |
sei es anders. Die Ñatitas seien schließlich auch Wesen, die sich umsorgt | |
fühlen wollen, und geliebt. | |
In den Anden, sagt Milton Eyzaguirre, wird der Tod nicht als etwas | |
Schlechtes oder Beängstigendes angesehen. Vielmehr dient er der Erneuerung | |
des Lebens. Eine Ñatita zu finden bedeutet Glück. Denn ein Ahne ist in der | |
andinen Welt ein Beschützer, der physisch oder symbolisch anwesend sein | |
kann. | |
Es gibt eine Theorie, wonach der Ñatita-Kult seinen Ursprung in Tiwanaku | |
hat, einer bedeutenden Ruinenstätte der Prä-Inka-Zeit. Dort fanden | |
Archäologen Keramikgefäße und Textilien, auf denen Kopfjäger dargestellt | |
sind. Schädel zu sammeln sei ein Brauch, den es ebenfalls in anderen Teilen | |
des heutigen Boliviens gab, sagt Eyzaguirre. Die Jäger kümmerten sich um | |
die Köpfe, als ob sie zu ihrer eigenen Familie gehörten. Im Gegenzug wurden | |
die Schädel zu einer schützenden Einheit. | |
## Wahrsagerin mit Ñatita-Unterstützung | |
Dieser Brauch hielt sich während und über die Kolonialzeit hinaus. Aber die | |
Funktionen der Ñatitas änderten sich. Elizabeth Portugal und ihr Ehemann | |
besitzen in ihrem Haus in La Paz derzeit 86 Schädel. Der erste, Óscar, kam | |
vor mehr als zwei Jahrzehnten zu ihnen. Doña Elizabeth, Mitte 50, ist eine | |
adivina, Wahrsagerin. Sie liest die Zukunft aus einer Zigarette. Portugal | |
kann in der Asche erkennen, was ihre Kunden wirklich beunruhigt – und | |
entscheidet dann, welche ihrer Ñatitas dabei am besten helfen kann. Viele | |
haben eine Spezialisierung: Óscar war Polizist, er hilft bei der Aufklärung | |
von Verbrechen. Sandra ist gut fürs Geschäft. Clara hilft beim Lernen – und | |
in der Liebe. Cielito, ein Baby, kann eine gewünschte Schwangerschaft | |
bringen. | |
Jedes Jahr am 8. November organisieren die Gläubigen ein Fest für die wawas | |
von Doña Elizabeth. Dieses Jahr war es eine Frau, für die Portugals Ñatitas | |
viele Wunder gewirkt haben. Sie mietete einen Veranstaltungsraum, bezahlte | |
eine Messe, Musikkapellen, Essen und Alkohol. Zur Zeremonie am Vormittag | |
kamen Dutzende Menschen. Abends waren es mehr als 500, so viele, dass sie | |
auf der Straße anstehen mussten, um reinzukommen. „Wir wissen nicht, wie | |
viel die Gläubigen ausgeben“, sagt Doña Elizabeth. „Und es ist auch nicht | |
wichtig. Sie bieten sich an, es zu machen. Es ist nur für die Ñatitas“. | |
Normalerweise müsse man für die Gunst der Ñatitas nichts bezahlen, sagt | |
Milton Eyzaguirre: „Es gibt eine gewisse Kommerzialisierung der Kultur, des | |
Rituals.“ | |
Diego Calle war nicht dort und auch nicht auf dem Cementerio General, | |
angesichts von Corona ist er lieber zu Hause geblieben. Wie jedes Jahr aber | |
hat er neue Wollmützen für Alejandra und seine anderen Ñatitas gekauft – am | |
Montag änderte er ihren Look von Rosa zu Beige. „Diese Kultur, dieser | |
Glaube, das ist zu hundert Prozent bolivianisch“, sagt Calle: eine perfekte | |
Symbiose zwischen Christentum und andiner Weltansicht. | |
Aber es kommt ein Tag, an dem eine Ñatita müde wird. Sie will descansar, | |
sich ausruhen. Dann muss der Besitzer sie auf einem Friedhof begraben. „Es | |
wird mir das Herz brechen, wenn dieser Tag kommt“, sagt Calle. Alejandra | |
war so lange ein Teil seines Lebens. „Aber sie hat mich respektiert, und | |
ich werde sie auch respektieren müssen. Denn wir sind Erde und sollen zu | |
Erde werden.“ | |
12 Nov 2021 | |
## AUTOREN | |
Michalina Kowol | |
## TAGS | |
Bolivien | |
Schädel | |
Religion | |
Aberglaube | |
Bolivien | |
Bolivien | |
Trauer | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Bolivianisches Essen-Lieferservice: Sonntag ist Salteñas-Tag | |
Süß, herzhaft und etwas scharf: Luis und Luis kochen bolivianisch in | |
Berlin. Ihre Erdnusssuppe, Cuñapés und Empanadas schmecken nach Heimat. | |
Preisträgerin der Goethe-Medaille 2020: „Bolivien ist divers“ | |
In Deutschland geehrt, in Bolivien gefeuert. Die indigene Museumsdirektorin | |
Elvira Espejo Ayca im taz-Gespräch über den Kulturkampf in Bolivien. | |
Puppen mit Totenkleidern als Trauerhilfe: „Eine Erinnerung zum Umarmen“ | |
Das Tostedter Ehepaar Lind näht Puppen aus Kleidungsstücken geliebter | |
Verstorbener. Das kommt überraschend gut an – vor allem bei Erwachsenen |