# taz.de -- Puppen mit Totenkleidern als Trauerhilfe: „Eine Erinnerung zum Um… | |
> Das Tostedter Ehepaar Lind näht Puppen aus Kleidungsstücken geliebter | |
> Verstorbener. Das kommt überraschend gut an – vor allem bei Erwachsenen | |
Bild: Machen aus der Kleidung Verstorbener eine Trost-Puppe: Jen Arndt-Lind und… | |
taz: Herr Lind, warum haben Sie und Ihre Frau „Mapapu“ erfunden – | |
„Mama-Papa-Puppen“? | |
Hendrik Lind: Das hat innerfamiliäre Gründe. Meine Frau und ich haben | |
jeweils ein Kind in die Ehe gebracht. Als dann unser erstes gemeinsames | |
Kind zur Welt kam, war für die anderen Kinder das Seelenchaos komplett: Wo | |
komme ich her, wo gehöre ich hin – wo ist mein Platz? Das sind typische | |
Fragen von Trennungskindern. Sie brauchten ein klares Zeichen. Das haben | |
sie von uns bekommen – mit einem Mapapu. | |
Inwiefern half das? | |
Meine Frau hat ein T-Shirt von sich mit einem ihres Ex zum Mapapu vernäht. | |
Dasselbe hat sie für mich und meine Ex gemacht. Diese Mapapus haben wir | |
unseren Kindern gegeben und gesagt: Hier ist etwas, das ist genau wie du. | |
Aus dem Stoff deiner leiblichen Eltern. Wir gehen getrennte Wege, aber in | |
dir sind wir für immer vereint. | |
Das klingt wie ein billiger Trost. | |
Nein, gar nicht billig. Da steckt ganz konkret Geruch von Mama und Papa | |
drin, und die kann das Kind immer bei sich haben. Was außerdem oft | |
vergessen wird: Kinder kommunizieren mit Kuscheltieren, führen | |
Selbstgespräche. Beim Mapapu reden sie auf diese Art mit dem abwesenden | |
Elternteil. | |
Aber die leiblichen Eltern sind getrennt, das Zusammennähen eine Illusion. | |
Das Kind besteht genetisch zu 50 Prozent aus Papa und Mama. Der Mapapu | |
symbolisiert diese Tatsache. Wir können Mutter und Vater nicht wieder | |
vereinen, aber wir können Trost geben. | |
Sie sprachen vom Geruch. Dass die Decke nach ihnen selbst oder nach | |
Frauchen oder Hercchen riechen muss, kennt man sonst eher von Hunden und | |
Katzen … | |
Es gilt auch für Menschen. Viele Trennungskinder bekommen ein | |
Schlaf-T-Shirt von Mama mit, wenn Papa-Wochenende ist – weil es nach Mama | |
riecht. | |
Inzwischen fertigen Sie vor allem Trauer-Mapapus. Warum? | |
Weil Trennungs-Mapapus selten gelingen. Denn dafür muss man die Eltern | |
frisch in der Trennungsphase erreichen, wenn sie noch willens sind, | |
zugunsten der Kindes gut zu kooperieren. Danach kommt der Ego-Trip, und | |
dann geht oft nichts mehr. Aber wie soll man Menschen in dieser Phase | |
abpassen? Schwer bis unmöglich, weshalb Trennungs-Mapapus nicht unser | |
Hauptgeschäftsfeld wurden. | |
Und wie kamen Sie auf Trauer-Mapapus? | |
Wir haben beobachtet, wie sehr ein Mapapu aus Lieblingskleidung eines | |
Verstorbenen dem Trauernden hilft. Er macht das unfassbare Thema „Verlust | |
eines geliebten Menschen“ greifbar. Konkreter Auslöser war vor einigen | |
Jahren ein Todesfall an der Schule unserer Kinder. Ein junger Mann starb | |
bei einem Unfall. Seine Eltern baten uns, aus seinem T-Shirt Mapapus für | |
die beiden Geschwister zu nähen. Das waren unsere ersten Mapapus für | |
Trauernde. | |
Wie schwer war der erste Schnitt ins T-Shirt eines Toten? | |
Es ist meiner Frau, die die Mapapus näht, sehr schwer gefallen. Aber | |
hinterher hat sie gesagt: Dies war einer der schönsten Momente. Denn beim | |
Tod geht es um Transformation. Und sie hat aus dem alten T-Shirt ja | |
wirklich etwas Neues geschaffen. Genau das für den Trauerprozess so | |
wichtig: die alte Form aufzugeben und zu akzeptieren, dass sie nicht mehr | |
besteht. | |
Und wonach richtet sich das Äußere des Mapapu? Äußern die Kunden Wünsche? | |
Die meisten Päckchen kommen ohne spezielle Wünsche hier an. Wenn es welche | |
gibt, können wir sie meist erfüllen. Es gibt eine intensive Kommunikation | |
mit den Kunden, bevor genäht wird. | |
Treffen Sie die Kunden persönlich? | |
Nein, das meiste läuft über Telefon und Mail. Aber es gibt auch immer mal | |
wieder persönliche Treffen. Und obwohl es da um schwere Schicksale geht, | |
ist das immer gut und schön. | |
Ein Beispiel? | |
Neulich war eine Frau hier, die noch zwei Wochen zu leben hatte und ihrer | |
Tochter und ihrem Lebensgefährten je ein Mapapu schenken wollte. Eine | |
bleibende Erinnerung. Solche Begegnungen sind schwer, aber auch schön, weil | |
sehr intensive Momente entstehen. | |
Weinen Sie manchmal mit? | |
Ja. Für mich persönlich sehr schwer war der Absturz der „German | |
Wings“-Maschine im März 2015. Dort kam auch eine Schulklasse ums Leben. Sie | |
stammte von dem Gymnasium, das ich selbst besucht hatte. Mehrere meiner | |
Bekannten haben bei dem Absturz ihr Kind verloren. | |
Hat Ihre Frau Mapapus für „German Wings“-Opfer gemacht? | |
Ja. Die T-Shirts wurden an der Fundstelle eingesammelt und den Familien | |
zugeordnet. Aus einigen dieser Kleidungsstücke hat meine Frau Mapapus | |
genäht. | |
Püppchen mit Kleidern des Toten, die ständig an den Verlust erinnern: | |
Verlängern sie nicht die Trauer? | |
Die Deutschen haben zwei Weltkriege erlebt – mit so vielen Toten, dass es | |
ein Trauma wurde. Tod gleich Weggucken! Auch heute werden Trauernde gern | |
ausgeblendet. Wenn wir dann selbst in einer Trauersituation sind, verfallen | |
wir in Schockstarre, können nicht mehr woanders hingucken. Und weil diese | |
Schockstarre da ist, wollen die meisten schnell vergessen. Das ist eine | |
ungesunde Trauerkultur. | |
Inwiefern? | |
Weil wir darüber vergessen: Warum ist Trauer da? Die Antwort ist simpel: | |
weil Liebe da ist! Durch den Blick auf die Liebe entsteht Dankbarkeit: | |
Danke, dass dieser Mensch in meinem Leben war. Wenn wir so denken, kommen | |
wir zu einer gesunden Trauerverarbeitung. | |
Sehen Ihre Kunden das genauso? | |
Wir haben gelegentlich Kunden, deren erster Impuls ist: nein, lieber nicht. | |
Aber hinterher sagen sie, dass es gut ist, diesen Mapapu zu umarmen. Denn | |
auch bei Erwachsenen entsteht über den Mapapu eine Art Kommunikation mit | |
dem Verstorbenen. Das kann man Selbstgespräch nennen; spirituell kann man | |
es noch anders nennen. Jedenfalls hilft es. | |
Aber hält man den Toten so nicht künstlich lebendig? | |
Um dieses Missverständnis zu vermeiden, nennen wir das Ganze Mapapu-Geburt. | |
Die bezahlte Rechnung Mapapu-Geburtsgeld. Es gibt eine Geburtsurkunde. | |
Damit machen wir klar: Wir bringen nicht deinen verstorbenen Ehemann zurück | |
ins Leben. Sondern eine greifbare Erinnerung. | |
Vergleichbar mit einem Erbstück, dem Ring der Oma? | |
Ja. Nur dass hier Kommunikation entstehen kann. Ein Selbstgespräch. Eine | |
Reflektieren über Probleme, die teils überraschende Antworten bringt. | |
Sie sagten eben, man könne das Selbstgespräch auch spirituell deuten. | |
Inwiefern? | |
Das ist ein Thema, bei dem viele die Augen verdrehen. Aber spätestens seit | |
unserer Arbeit mit Mapapus wissen wir: Es geht weiter nach diesem | |
Erdenleben. Und zwar gut. | |
Woher wissen Sie das? | |
Wir lassen uns von den Kunden erzählen, worum es bei dem jeweiligen Mapapu | |
geht: von wem und für wen er ist. Meine Frau weiß meist sofort, wie der | |
Mapapu auszusehen hat, wenn sie die T-Shirts sieht. Aber manchmal klappt es | |
nicht, und es gibt keine rationale Erklärung. Und dann kommt von | |
irgendwoher ein Impuls, und dem folgt sie. Dann entstehen Details, die noch | |
kein anderer Mapapu hatte. Darüber bekommen wir dann überraschte | |
Rückmeldungen. | |
Zum Beispiel? | |
Einmal hat eine Mutter angerufen und gesagt: Ihr konntet es nicht wissen, | |
aber meine verstorbene Tochter hatte am Frühstückstisch immer einen Turban | |
auf. Das hatte sie uns vorher nicht gesagt – aber das war unser erster | |
Mapapu mit Turban. | |
Wie kam es? | |
Meine Frau sagte, irgendwann habe sie wahrgenommen: „Dieser Mapapu soll | |
einen Turban haben, ich weiß auch nicht, warum.“ Und so hat sie es gemacht. | |
Zufall? | |
Sie liefern auch Mapapus für Demente. Hilft das? | |
Ja, denn Geruch ist elementar. Es ist das erste, was wir können, wenn wir | |
auf die Welt kommen. Und das Letzte, wenn wir sie verlassen. Und über | |
Geruch erreicht man demenziell Erkrankte. Wenn ich mit Zuhause-Geruch | |
arbeite – dem gewohnten Waschmittel oder dem Geruch von Angehörigen –, | |
erzeugt das wache Momente beim Betroffenen. Es ist wie ein Anker ins alte | |
Leben. | |
Aber der Geruch verfliegt. | |
Das macht nichts. Er muss nur da sein, wenn der Mapapu beim Kunden ankommt. | |
Dann entsteht diese Verlinkung. Die bleibt, auch wenn der Geruch nach | |
einiger Zeit weg ist. Die Beziehung ist gesetzt. | |
Und wie funktionieren Ihre Mapapus für Borderliner? | |
Borderliner können sich nicht fassen. Sie verletzen sich manchmal extrem, | |
um sich zu fühlen. Wenn ich Lieblingskleidung eines Borderliners bekomme | |
und ihm daraus ein Mapau mache, hat er sich zum ersten Mal im Außen. Er | |
kann sich in den Arm nehmen. Und auch bei ihm entsteht eine Kommunikation | |
mit dem Mapapu, in dem das wohlige Ich steckt. Eine Kommunikation mit dem | |
inneren Ich. | |
Wie kamen Sie darauf? | |
Sind wir gar nicht. Eine Borderlinerin hat uns zwei Lieblings-T-Shirts für | |
ein Mapapu gegeben und danach berichtet, das es geklappt hat. | |
Warum machen Sie eigentlich nur Puppen-Mapapus und keine Hunde, Katzen, | |
Elefanten? | |
Wir hatten mal über eine Artenvielfalt nachgedacht. Das ist aber schwer, | |
weil sich Kleidung verschieden gut dehnt und sich nicht aus jedem T-Shirt | |
alles machen lässt. Und damit nicht alle plötzlich eine Katze wollen und | |
traurig sind, wenn es nicht geht, sind wir beim Standardmodell geblieben. | |
Welche Kleidungsstücke eignen sich überhaupt? | |
Gut dehnbare Stoffe: T-Shirts, Fleecepullover, Sweatshirts, Poloshirts. | |
Was geben Sie dazu? | |
Abgesehen von unserem Herzblut: nur Garn und Füllstoff. Wir nähen Augen | |
auf. | |
Warum keine Nase, keinen tröstlich lächelnden Mund? | |
Wenn ich einen sehr traurigen Moment habe, bringt es nichts, wenn ich einen | |
Dauergrinser vor mir habe. Übrigens ein Waldorf-Prinzip: Alle | |
Waldorf-Puppen haben nur Augen, damit jedes Gefühl, das im Menschen ist, | |
widergespiegelt werden kann. | |
Sind Sie und Ihre Frau Anthroposophen? | |
Halbe. Aber unsere Kinder besuchen eine Waldorf-Schule. | |
Sind eigentlich die meisten, die Mapapus geschenkt bekommen, Kinder? | |
Nein. Die mit Abstand meisten sind Erwachsene. Das hat uns auch überrascht. | |
Sind das trauernde Eltern? | |
Nicht nur; es gibt auch viele trauernde Ehepartner. Unser älteste Kundin | |
war kurz vor 90 und hatte fast ihr ganzes Leben mit ihrem Mann verbracht. | |
Der Mapapu war dann wie ein Stück von ihm. | |
Überhaupt erinnern Ihre Mapapus an archaische Fetische. Spielen Sie mit | |
dieser Parallele? | |
Durchaus. In vielen ursprünglicheren Kulturen enthielten Puppen Haare der | |
Großmutter, der Eltern und Geschwister. Da war dann deren Energie drin. | |
Dieses Einflechten authentischer Bestandteile ist verbreitet – nicht nur im | |
Zusammenhang mit Trauerkultur. | |
Sie selbst sind in Venezuela aufgewachsen. Trauert man dort entspannter? | |
Ja. In ganz Lateinamerika gibt es eine fröhlichere Trauerkultur. In Mexiko | |
zum Beispiel wird im November der fröhlich-bunte „Día de los muertos“ | |
gefeiert, der „Tag der Toten“. Da feiert und lebt man die Dankbarkeit, | |
diesen Menschen gekannt zu haben. Die Leute verkleiden sich, tanzen, es | |
gibt Straßenumzüge für die Lebenden und die Toten. | |
16 Nov 2016 | |
## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
## TAGS | |
Trauer | |
Demenz | |
Trennung | |
Flugzeugabsturz | |
Bolivien | |
Friedhof | |
Beerdigung | |
Friedhof | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Totenkopf-Verehrung in Bolivien: Der Tag der Plattnasen | |
Viele Bolivianer leben mit Totenschädeln zusammen, von denen sie sich | |
Schutz und Rat erhoffen. Am „Día de las Ñatitas“ werden sie gefeiert. | |
Kolumne Ich meld mich: Ruht in Frieden | |
Warum steht am Grab des Ehepaars Dimitrov im bulgarischen Kucerinovo ein | |
Schälchen frisch gepflückter Kirschen? | |
Friedhofsforscher über digitale Trauer: „Im Internet gibt es keine Regeln“ | |
Unsere Gedenkkultur wird lockerer. Weil die Gesellschaft ungleicher wird, | |
trauern wir individueller, sagt der Soziologe Thorsten Benkel. | |
Norbert Fischer über Sterbeforschung: „Die Himmelsleiter ist in den Köpfen�… | |
Weil er nicht ertrug, dass man Todkranke abschob, wurde Norbert Fischer | |
Sterbeforscher. Und Vogelwart an der Ostsee. | |
Grabredner: Zum Abschied ein Gedicht | |
Immer mehr Bestattungen werden von Trauerrednern begleitet - für | |
Sozialwissenschaftler jenseits der 40 ein neues Berufsfeld. Reich wird | |
damit keiner. |