# taz.de -- Norbert Fischer über Sterbeforschung: „Die Himmelsleiter ist in … | |
> Weil er nicht ertrug, dass man Todkranke abschob, wurde Norbert Fischer | |
> Sterbeforscher. Und Vogelwart an der Ostsee. | |
Bild: "Bestattungskultur verändert sich fundamental": Norbert Fischer. | |
taz: Herr Fischer, wollten Sie schon immer Sterbeforscher werden? | |
Norbert Fischer: Nein. Es gibt einige lebensgeschichtliche Erfahrungen, die | |
mich dazu gebracht haben. Eine der wichtigsten war die in einem | |
Behinderten-Langzeitkrankenhaus, wo ich nach dem Abitur einige Jahre als | |
Krankenpfleger gearbeitet habe. Dort hatte ich zum ersten Mal Kontakt mit | |
Sterbenden. Das war in den 1970er-Jahren, und mich hat sehr betroffen | |
gemacht, wie man dort mit dem Tod umging. | |
Nämlich wie? | |
Man hat die Sterbenden abgeschoben: Ihre Zimmer wurden abgeschlossen, | |
Angehörige durften nur auf Anfrage hinein. Nach dem Tod wurden die Menschen | |
in den Keller geschoben … Es war absolut pietätlos. Das war für mich eine | |
wichtige, bedrückende Erfahrung. Ich habe mir dann überlegt, wie ich mich | |
wissenschaftlich mit dem Thema befassen kann und bin auf die | |
Kulturwissenschaften gestoßen. | |
Arbeitet man durch abstrakte Wissenschaft ein Trauma auf? | |
Wissenschaft muss nicht abstrakt sein. In den Kulturwissenschaften gehen | |
wir auch „ins Feld“, sprechen mit den Leuten, befassen uns mit den | |
alltäglichen Praktiken. Aber es stimmt natürlich: Das ist erst mal keine | |
Aufarbeitung, sondern der Versuch, sich auf neutrale, reflektierte Art dem | |
Thema zu nähern. In meinem Fall durch die Erforschung von Friedhöfen und | |
Grabsteinen. | |
Was haben Sie herausgefunden? Hat sich die Trauerkultur markant verändert? | |
Da gibt es mehrere Zäsuren. Zum einen ändert sich seit 20, 30 Jahren der | |
Umgang mit Sterbenden erheblich: Es gibt zum Beispiel Hospize und | |
ausgebildete Sterbebegleiter. Aber auch die Bestattungs- und | |
Erinnerungskultur wandelt sich fundamental. | |
Inwiefern? | |
Es gab lange eine sehr funktionale Routine: Man überließ das | |
Organisatorische dem Bestatter, den Friedhofsverwaltungen, eventuell | |
Geistlichen. Heute nehmen immer mehr Menschen die Bestattung selbst in die | |
Hand und überlegen: Was können wir tun, um dem Verstorbenen gerecht zu | |
werden? Bestattungskultur ist eine Art Stilfrage geworden. | |
Das klingt nach Design. | |
Kulturkritische Stimmen sprechen tatsächlich von „schöner sterben“, | |
„schöner bestatten“. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass das Thema | |
Sterben jahrzehntelang fast nicht diskutiert wurde. Die Sexualität wurde in | |
den 1960er-Jahren enttabuisiert. Der Tod nicht. Darüber kann man erst seit | |
Mitte der 1990er-Jahre öffentlich reden. | |
Das Thema war ja nicht immer tabu. | |
Mit dem Begriff „tabu“ muss man vorsichtig sein. Ich habe mal geschrieben: | |
„Der Tod ist uns enteignet worden.“ Der Tod ist bürokratisiert worden, es | |
gab auf den Friedhöfen Vorschriften bis ins Detail. Das führte dazu, dass | |
dem Menschen der Tod aus der Hand genommen wurde. Im 20. Jahrhundert kam | |
noch etwas hinzu, das Abstand schuf: die fehlende biografische Erfahrung. | |
Angesichts der gestiegenen Lebenserwartung machen wir oft erst mit 45 | |
Jahren im Familien- und Freundeskreis die direkte Erfahrung des Todes. | |
Diese Konfrontation fand in den vergangenen Jahrhunderten viel früher | |
statt. | |
Aber ist es nicht paradox, dass wir heute mehr Angst vorm Tod haben, obwohl | |
wir länger leben und mehr „schaffen“ können? | |
Ich würde es nicht als Angst bezeichnen. Aber die Unsicherheit ist größer | |
geworden. Bis ins 19. Jahrhundert hinein haben uns die Kirchen Sicherheit | |
gegeben. Es gab eine Jenseitserwartung, es gab Engel als Wegbegleiter. Das | |
hat Trost gespendet und die Angst vor dem Tod verringert. Diese Sicherheit | |
ist mit dem Bedeutungsverlust der christlichen Kirchen verloren gegangen. | |
Seither herrscht eine große Suche. | |
Wie äußert sie sich? | |
Zum Beispiel durch die Musik, die auf Trauerfeiern gespielt wird. | |
Jahrhundertlang war sie christlich geprägt. Inzwischen gibt es eine | |
Säkularisierung, aber inhaltlich stellt Musik immer noch die alte Frage: | |
Was kommt nach dem Tod? Led Zeppelins „Stairway to Heaven“ ist ein | |
Beispiel. Die Himmelsleiter ist immer noch in den Köpfen. | |
Zeigt sich die Säkularisierung auch in der Art der Bestattung? | |
Das kann man nicht ohne Weiteres gleichsetzen. Die wichtigste | |
„säkularisierende“ Zäsur in der Bestattungskultur ist älter: Es war die | |
Einführung der Feuerbestattung Ende des 19. Jahrhunderts. Das widersprach | |
jeglicher christlicher Lehre, die die Auferstehung des Leibes predigt. Denn | |
die Feuerbestattung pulverisiert ja diesen Leib. | |
Wieso wurde sie eingeführt? | |
Sie war ein Ereignis der industriellen Revolution und der Verstädterung: | |
Ein Urnengrab erfordert weniger Platz als ein Erdgrab und ist preiswerter. | |
Die Feuerbestattung hat also die Bestattung pragmatischer gemacht. Das war | |
in der Moderne die wichtigste Etappe auf dem Weg zu einer von christlichen | |
Bindungen befreiten Bestattung. Dann kamen weitere: kommunalisierte | |
Friedhöfe, ein steigender Anteil an nicht-kirchlichen Trauerrednern, der | |
inzwischen bei rund 50 Prozent liegt. | |
Und selbst der Friedhof kommt aus der Mode. | |
Ja, dieser klassische christliche Begräbnisplatz verliert an Bedeutung. Es | |
gibt neue Formen der Naturbestattung – im Wald und im Meer zum Beispiel. | |
Und in einigen Nachbarländern kann man die Asche in der freien Natur zu | |
verstreuen … | |
… wohingegen in Deutschland noch Friedhofszwang herrscht. | |
Ja. Das Bestattungsgesetz ist Ländersache. In Bremen ist man am weitesten | |
vorgeprescht: Dort darf man die Asche drei Jahre lang behalten. Danach muss | |
man sie allerdings auf dem Friedhof beisetzen. | |
Warum hält Deutschland am Friedhofszwang fest? | |
Ursprünglich entstanden ist der Friedhofszwang – wohlgemerkt für Leichen-, | |
nicht für Feuerbestattung – um 1800 mit der preußischen Medizinalreform. | |
Damals wuchs die Bevölkerung, und man wollte hygienische Verhältnisse. | |
Deshalb hat man angeordnet, die Toten auf einem geeigneten Areal | |
beizusetzen – dem Friedhof. Dieser sogenannte Friedhofszwang hat sich | |
seitdem erhalten und verselbstständigt, weil er bei den Friedhofsträgern – | |
Kirchen oder Kommunen – für Einnahmen sorgt. | |
Viele alte Friedhöfe sehen recht uniform aus. | |
Das liegt daran, dass es auch bezüglich der Grabmalsgestaltung bis dato | |
eine strenge Reglementierung gab. Hierfür muss man wissen: Die Grabmäler | |
auf Friedhöfen waren eine spezifisch deutsche Entwicklung – die einer | |
autoritären Gesellschaft. Noch vor 20 Jahren hat man Ihnen auf etlichen | |
Hamburger Friedhöfen gesagt, das Grab in diesem Bereich muss so und so | |
aussehen. Das ist das Erbe der Nazis, die hier sehr strikt vorgingen und | |
sagten: Der Friedhof muss ein organisches Ganzes darstellen, denn er soll | |
die Volksgemeinschaft widerspiegeln. | |
Bis heute? | |
Inzwischen gibt es einen deutlichen Aufbruch. In den letzten 10, 15 Jahren | |
haben aufgeklärtere Friedhofsverwaltungen die meisten Reglementierungen | |
abgeschafft. Das Spektrum an Ausdrucksformen erweitert sich deshalb ernorm. | |
Und nicht alle Gedenkorte sind auf Friedhöfen. | |
Nein. Inzwischen gibt es auch Kreuze an den Straßen, die an Unfallopfer | |
erinnern. Das ist | |
ein Phänomen, das man erst seit 30 Jahren kennt: Trauer und Erinnerung | |
wandern in den öffentlichen Raum, dorthin, wo derjenige starb und wo man | |
der Trauer habhaft werden kann. Friedhof war ja immer ein abgegrenzter | |
Raum, den man nur zu gewissen Zeiten besuchte. Erinnerungszeugnisse im | |
öffentlichen Raum dagegen sind stets präsent. Übrigens auch im digitalen | |
Raum – auf Facebook zum Beispiel. | |
Sie haben über „Wassersnot und Marschengesellschaft“ habilitiert. Wie passt | |
das zu Ihrem Interesse an Trauerkultur? | |
Wasser hat viel mit dem Tod zu tun. Denn wer am Meer oder an einem | |
gezeitenabhängigen Fluss lebt, muss immer mit einer Sturmflut rechnen. Wir | |
siedeln hier ja in einer Gegend, die eigentlich nicht besiedelbar ist. Die | |
wir nur besiedelbar machen können, indem wir Deiche bauen. Wir müssen also | |
auf eine Bedrohung reagieren. Genauso ist der Tod – philosophisch gesehen – | |
zunächst eine Bedrohung, die es zu bewältigen gilt. | |
Sie arbeiten auch als Vogelwart. Ein Kindheitstraum? | |
Ja. Ich habe schon als Kind Vogelbücher gesammelt und bin mit einem | |
billigen Fernglas losgegangen, um Vögel zu beobachten. Vor acht Jahren | |
hatte ich dann die Möglichkeit, auf dem Graswarder bei Heiligenhafen in | |
einem Naturschutzgebiet des Nabu mitzuarbeiten. Man wohnt in einer | |
Blockhütte, und ich habe gleich gedacht: Das ist mein Traumort. Hier möchte | |
ich jedes Jahr meine Ferien verleben. | |
Was bedeuten Ihnen Vögel? | |
Sie sind für mich Symbole des Transitorischen. Es gibt keinen festen Ort, | |
man muss immer gewahr sein, dass sich der aktuelle Seinszustand ändern | |
kann. Wir gehen vom Leben übers Sterben in den Tod, wir wechseln die Orte, | |
unsere Gedanken ändern sich … Und auch die Vögel, die ihre Nester haben und | |
dann wieder wegziehen, zeigen, dass man viel Flexibilität und | |
Anpassungsbereitschaft zeigen muss. | |
Schließen wir den Kreis: Was denken Sie über das Jenseits? | |
Ich glaube, dass es mit dem Tod zu Ende ist. Das ist für mich kein Problem. | |
Und wie wollen Sie bestattet werden? | |
Wenn es möglich ist, würde ich meine Asche gern auf dem Graswarder | |
verstreut haben. | |
Sie wollen also bei den Vögeln sein? | |
Ja. | |
21 Nov 2013 | |
## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
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