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# taz.de -- Bolivien vor den Wahlen: Keine Konfetti-Stimmung
> Bolivien wählt einen neuen Präsidenten. Das Land wartet sehnlichst auf
> das Ende der Übergangsregierung. Aber wie es auch ausgeht: Es drohen
> Unruhen.
Bild: Luis Arce von der MAS bei seiner Abschlusskundgebung
Für den Wahlsonntag treffen Nadia Guevara und Rolando Benito exakt die
gleichen Vorbereitungen: Sie erledigen Hamsterkäufe. Die
Politikwissenschaftlerin und der Musikstudent, die beide in der Hauptstadt
La Paz leben, sind sich einig: Es wird wohl wieder Proteste und
Straßenblockaden geben, die Lebensmittel könnten knapp werden.
Unabhängig davon, ob Carlos Mesa von der Mitte-rechts-Bewegung Comunidad
Ciudadana oder Luis Arce von der Bewegung für den Sozialismus (MAS) bei der
Präsidentschaftswahl vorne liegt.
Dabei trennen Guevara und Benito Welten. Benito, 19, wünscht sich Arce, den
ehemaligen Wirtschaftsminister unter Evo Morales, als kommenden
Präsidenten: „Er hat mit dem bolivianischen Wirtschaftswunder bewiesen,
dass er ein Land aus der Krise führen kann“, sagt Benito.
„Wir brauchen einen guten Anführer wie ihn in dieser Krisenzeit.“ Guevara,
40, hofft dagegen auf einen Wandel unter Carlos Mesa. Sie sagt, mit Mesa
würde jemand mit breiter Bildung Präsident, der in seinem Team auch
Expert:innen für Menschenrechte und Umwelt habe und die juristische
Aufarbeitung der Morales-Zeit vorantreiben würde. Mesa ist ehemaliger
Präsident, Historiker und Journalist.
Vor fast einem Jahr hat [1][die taz am wochenende nach dem Rücktritt von
Präsident Evo Morales mit Nadia Guevara und Rolando Benito zum ersten Mal
gesprochen]. Benito, Anhänger von Morales’ MAS-Partei, wollte damals aus
Angst vor Anfeindungen nur unter Pseudonym erscheinen, Guevara nur ohne
Mann und Kinder aufs Foto. Beide sind heute enttäuscht und besorgt,
schildern sie am Telefon.
Am Sonntag sind 7,3 Millionen Bolivianer*innen aufgerufen, den Präsidenten,
Vizepräsidenten sowie 36 Senator*innen und 120 Abgeordnete zu wählen. Seit
den Unruhen nach der Präsidentschaftswahl vom Oktober 2019 und dem
Rücktritt von Präsident Morales ist das Land tief gespalten, ein Jahr
lenkte die umstrittene Übergangspräsidentin Jeanine Áñez die Geschicke des
Landes.
## Gerüchte um Wahlbetrug
Wegen der [2][Coronapandemie wurden die ursprünglich für Mai geplanten
Wahlen mehrfach verschoben], was Massenproteste auslöste – aus Sorge, die
Übergangsregierung würde kein Ende nehmen.
Dozentin Nadia Guevara unterrichtet ihre Studierenden seit Monaten via
Zoom, viele von ihnen sind wegen der Pandemie zu ihren Familien in die
Regionen gefahren. „Was wir alle gemeinsam haben, ist, dass wir eine
Atmosphäre von Angst spüren“, sagt sie. „Es gibt viele Gerüchte, dass es…
einem Wahlbetrug kommen wird. Egal wer gewinnt, es wird zu Konflikten
kommen.“ Benito sieht das genauso.
Weder Guevara noch Benito sind mit Interimspräsidentin Áñez zufrieden. Sie
kritisieren ihr Krisenmanagement der Pandemie. Im
11-Millionen-Einwohner*innen-Land sind offiziell laut Johns Hopkins
University bislang 8.407 Menschen an Covid-19 gestorben. Zwei
Gesundheitsminister wurden verschlissen, unter anderem wegen Korruption.
Das Gesundheitssystem ist völlig überlastet.
Auch Guevara steckte sich an – und dann ihre ganze Familie. „Ich bin ein
einziges Mal rausgegangen, als ich meinen Arbeitsvertrag unterschreiben
musste“, sagt sie. Genau an dem Tag sei sie in einen Protest von
Lehrer*innen geraten. Dann kamen die Symptome. „Mir tat alles weh, ich
hatte Fieber, konnte nicht mehr atmen.“ Alle Krankenhäuser waren zu dem
Zeitpunkt voll und überlastet. In ihrer Verzweiflung trank sie mit Wasser
gemischtes Chlordioxid. „Ich hatte geschworen, ich würde das niemals tun.
Aber es gab ja nicht einmal mehr Ibuprofen zu kaufen – oder nur zur
horrenden Preisen.“
Zudem setzt sich ihrer Meinung nach das fort, was sie schon Morales
angekreidet hat: „Wieder brennen die Wälder und Schutzgebiete – und die
Regierung ist untätig.“ Das Feuer wütet unter anderem im artenreichen
Unesco-Weltnaturerbe Pantanal, das sich über Brasilien, Paraguay und
Bolivien erstreckt.
Áñez habe sich auf die Seite der Agrarindustrie geschlagen, die vor allem
hinter den Bränden stecke und mehr Land für Sojaanbau und Rinderzucht für
den Export wolle.
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) hat der Regierung
von [3][Áñez zudem den Missbrauch der Justiz für politische Zwecke
vorgeworfen]. Die Anklage, die die bolivianische Staatsanwaltschaft gegen
Ex-Präsident Morales wegen Terrorismus, Finanzierung terroristischer
Aktivitäten und Anstiftung zum Aufruhr erhoben hat, sei unverhältnismäßig,
so HRW.
## Morales-Partei führt in Umfragen
„Áñez hatte ein konkretes Mandat: das Land befrieden, freie und
transparente Wahlen organisieren und die Verwaltung am Laufen halten“, sagt
der Soziologe Jaime Aguilar. „Sie hat sich in die Macht verliebt. Ihr
größter Fehler war, dass sie für das Präsidentenamt kandidierte.“ Damit
habe sie die Chance vertan, als Vermittlerin das Land aus der Krise zu
bringen. Deswegen sei auch Morales’ MAS-Partei wieder erstarkt.
So sehr, dass Áñez einen Monat vor der Wahl ihre Kandidatur zurückzog,
ebenso wie Ex-Präsident Jorge Quiroga – beide wollten damit die Opposition
gegen den MAS-Kandidaten Luis Arce einen. Laut der jüngsten Umfrage liegt
der ehemalige Wirtschaftsminister von Evo Morales mit 42,2 Prozent vorn,
Carlos Mesa folgt mit [4][33,1 Prozent].
Für einen Wahlsieg in erster Runde sind über 50 Prozent der Stimmen nötig
oder über 40 Prozent und 10 Prozentpunkte Vorsprung auf den
Zweitplatzierten – das deutet auf eine Stichwahl hin.
Der Wahlbeauftragte der Vereinten Nationen für Bolivien, Luís
Martínez-Betanzos, hat [5][„transparente und betrugsfreie Wahlen“]
versprochen. Er sprach davon, dass all die technischen Fehler, die bei der
Wahl 2019 auftauchten, behoben seien.
So sei dank des modernen Wahlverzeichnisses ausgeschlossen, dass wieder
Tote oder Menschen doppelt wählten. Zudem würden der Transport der
Wahlunterlagen und ein Großteil der Wahllokale streng überwacht.
Student Benito beobachtet die gestiegene Präsenz von Polizei und Armee auf
der Straße mit Sorge. Auch die staatliche Ombudsfrau hat vor einer
Eskalation der Gewalt wie im Herbst 2019 gewarnt, [6][bei der mindestens 35
Menschen starben – die meisten durch Schüsse]. Die Übergangsregierung drohe
mit gemeinsamen Operationen von Polizei und Armee und rüste diese mit
Waffen gegen Menschen auf, die sie als „gewalttätig“ bezeichne, weil sie
eine andere Meinung äußerten.
Neben den Vereinten Nationen sind das Carter Center, die Interamerikanische
Union der Wahlorgane (UNIORE), [7][die Vereinigung der Wahlorgane Amerikas
und die Organisation Amerikanischer Staaten (OEA) vor Ort]. Die EU hat ihre
Delegation wegen Covid-19 [8][von den ursprünglich geplanten 100 auf 6
Personen reduziert].
Führungspersönlichkeiten der MAS-Partei haben angekündigt, bei der
geringsten [9][Unregelmäßigkeit werde sich das Volk auf der Straße die
Macht zurückerobern]. Morales, dem ein Gericht die Kandidatur für den Senat
verbot, weil er im Exil in Argentinien lebt, gab bekannt, dass er auch in
Zukunft in der Politik eine Rolle spielen wolle.
„Bolivien ist in einer Art Kollektivpsychose“, sagt Nadia Guevara. „Wir
sind alle so müde. Am Montag werden wir hoffentlich endlich Ruhe haben.“
Aber weder sie noch Rolando Benito glauben richtig daran.
18 Oct 2020
## LINKS
[1] /Proteste-und-Morales-Sturz-in-Bolivien/!5638564
[2] /Boliviens-heikle-Uebergangsphase/!5673073
[3] https://www.hrw.org/news/2020/09/11/bolivia-justice-system-abused-persecute…
[4] https://www.dw.com/es/encuestas-vaticinan-una-segunda-vuelta-en-bolivia/a-5…
[5] https://eldeber.com.bo/pais/luis-martinez-betanzo-el-sistema-de-transmision…
[6] https://www.defensoria.gob.bo/noticias/defensora-afirma-ante-la-cidh-que-bo…
[7] https://eldeber.com.bo/pais/cinco-misiones-internacionales-de-observacion-l…
[8] https://eeas.europa.eu/headquarters/headquarters-homepage/84851/press-relea…
[9] https://www.lostiempos.com/actualidad/pais/20201008/naciones-unidas-padron-…
## AUTOREN
Katharina Wojczenko
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