# taz.de -- 38. Heidelberger Stückemarkt: Die tägliche Wiederholung | |
> Die Welt im Schrumpfungsmodus: Der Heidelberger Stückemarkt zeigt ein | |
> Programm, das sich erstaunlich gut auf die Gegenwart beziehen lässt. | |
Bild: „Have a good day“, Oper für zehn Kassiererinnen aus Litauen | |
Kassiererinnen an der Supermarktkasse, sie gehören zu den Heldinnen des | |
Alltags, seit in der Pandemie bewusst wurde, wie wichtig ihre Arbeit ist. | |
Da kommt eine Oper für die Stimmen von zehn Kassiererinnen gerade recht, | |
„Have a good day“, die in knapper Form, gerahmt von den Geräuschen von | |
Scannern und dem Summen der Neonröhren, von ihrem Alltag erzählt. | |
Entwickelt haben die Komponistin Lina Lapelyté, die Regisseurin Rugilé | |
Barzdžiukaité und die Autorin Vaiva Grainyté die eindringliche Komposition | |
schon 2013. Aber jetzt war sie im Stream zu sehen, als Gastspiel aus | |
Litauen, auf dem Festival Heidelberger Stückemarkt. Dass dessen 38. Ausgabe | |
notgedrungen auf den Stream ausweichen musste, ermöglichte nun zum Beispiel | |
auch von Berlin am Festival teilzunehmen, das die Saison der | |
Theaterfestivals im Mai eingeleitet hat. | |
Selbst am Bildschirm war „Have a good day“ ein überraschendes Kunstwerk. | |
Die Gesichter der zehn nebeneinander sitzenden Sängerinnen blieben fast | |
unbeweglich, aber ihre Stimmen berührten sehr wohl. Aus knappen, sich | |
wiederholenden Textzeilen entstehen in Solos Porträts, wie von der jungen | |
Kunstwissenschaftlerin an der Kasse, die nicht mehr schlafen kann und | |
lieber weiter studieren will. Die Waren gewinnen ein witziges Eigenleben, | |
Werbesprüche ziehen sich durch den Tag, der Arbeitsrhythmus dominiert | |
alles. Die Musik ist einerseits minimalistisch der Monotonie des Jobs | |
angepasst, nimmt andererseits aber auch klagende, fast sakrale Formen an. | |
## Ein Stück aus der Gefriertruhe | |
[1][Das Festival, das bis 9. Mai läuft], begann mit einer Uraufführung, | |
live gestreamt. 2019 hatte die österreichische Dramatikerin Teresa Dopler | |
den Wettbewerb des Stückemarkts mit „Das weiße Dorf“ gewonnen, was | |
eigentlich eine Uraufführung 2020 vom Theater Heidelberg bedeutet hätte. | |
Die pandemiebedingte Verschiebung der Inszenierung beschrieb der Regisseur | |
Ron Zimmering wie ein Einlagern in einer Gefriertruhe. Tatsächlich liegt | |
eine eigenartige, aber auch passende Kälte über dem Zweipersonenstück. | |
Erzählt wird über eine Beziehung, die Ruth (Katharina Ley) und Ivan | |
(Friedrich Witte) aus Vernunftgründen dann doch nicht beginnen. | |
Die Bühne ist eine schwankende rostige Platte. Sie steht für das Schiff, | |
bei dem sich die beiden während einer Kreuzfahrt auf dem Amazonas | |
wiedertreffen. Sie reden über berufliche Erfolge, über die Erfüllung im | |
ehelichen Sex; eigentlich vergewissern sich beide ständig, auf dem | |
richtigen Weg zu sein. Sie malen sich in Worten eine Affäre aus, doch das | |
reicht. | |
Vom Ausbrechen zu träumen, aber es nicht wirklich zu wollen, dieser | |
Zwiespalt treibt sie aufeinander zu und voneinander weg. Erfolgreich ziehen | |
sie die Decke des Wohlstands über die Ahnung von emotionalen Verlusten und | |
Armut – und sind dabei doch sympathisch. Der pandemiebedingte räumliche | |
Abstand zwischen ihnen passt da gerade gut. | |
Der Zustand der sozialen Isolation, die Verengung des Lebens auf kleinere | |
Zellen, den wir in der Pandemie erleben, grundiert auch Boris Nikitins | |
Stück „Erste Staffel. Zwanzig Jahre großer Bruder“, das letzten September | |
im Staatstheater Nürnberg herauskam und am Montag für Heidelberg live | |
gestreamt wurde. | |
## Wo Authentizität und Fake verschmelzen | |
Die Schauspieler tragen Masken, auch wenn sie in den Spiegel schauen und | |
sich die Zähne darunter putzen. Nikitins Stück ist kein Reenactment der | |
zynischen Spielanordnung von Big Brother, sondern er nutzt die Erzählung | |
über das Fernsehformat dafür, einen Weg zu skizzieren, der von der Realität | |
in die Reality führt, in gescriptete Parallelwelten, in der Authentizität | |
und Fake zu merkwürdigen Amalgamen verschmelzen. | |
Gespielt wird in einem Container und in engen Kammern, in die überall eine | |
Kamera blickt. Schriften über dem Bild berichten von der Außenperspektive, | |
dem Herauswählen von Spieler:innen, der ständigen Beurteilung ihrer | |
Performances. So sehr sie sich in ihrem Zusammenleben auch bemühen, Regeln | |
des Miteinanderauskommens aufzustellen, Chancen lässt ihnen die | |
Konstellation nicht, die nur einen Gewinner übrig lassen wird. | |
Am Ende verhängt ein Darsteller die Kamera, die ihn auf der Toilette | |
beobachtete: Ende des Teilens der intimsten Momente. In Big Brother waren | |
sie das Konzept einer Produktionsfirma, inzwischen sind sie die täglich | |
freiwillig bereitgestellte Nahrung für soziale Netzwerke. Diesen Bogen | |
anzudeuten, macht Nikitins Blick auf Big Brother interessant. Und die | |
Inszenierung durchaus tauglich für den geschrumpften Wahrnehmungsmodus am | |
Bildschirm. | |
5 May 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.theaterheidelberg.de/festival/heidelberger-stueckemarkt/ | |
## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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