# taz.de -- Theaterfestival Impulse in NRW: Reiskörner werden Statistiken | |
> Köln, Mülheim an der Ruhr und Düsseldorf: Der Trend zur Auflösung der | |
> Genre-Grenzen setzt sich auch beim „Impulse“-Festival fort. | |
Bild: Die britische Theatergruppe Stan’s Cafe in ihrer Installation „Of all… | |
Die Wände im großen Saal der Düsseldorfer Kunsthalle sind leer. Besucher | |
stehen locker verteilt am Rand des doch irgendwie Ehrfurcht gebietenden | |
White-Cube Raums, in dem sonst neueste Positionen zeitgenössischer Kunst | |
gezeigt werden. Allenfalls flüsternd begrüßen sich Bekannte, während | |
nebenan im Foyer unbekümmert geredet wird. Dort steht Gregor Jansen, Leiter | |
der Kunsthalle, und ermuntert in ungedämpfter Lautstärke zur Lockerheit: | |
„Die Künstlerin will überhaupt nicht, dass geschwiegen wird!“ | |
Gemeint ist die rumänische Performance-Künstlern Alexandra Pirici, deren | |
Performance „Delicate Instruments of Engagement“ mit zwei Performerinnen | |
und drei Performern gerade abläuft. Die Arbeit ist eine Neuschöpfung für | |
das Festival „Impulse“, das sich als Plattform für die freie Theaterszene | |
im deutschsprachigen Raum versteht und seit 2013 von Florian Malzacher | |
geleitet wird. | |
„Decide or else“ (frei übersetzt „Entscheid oder stirb“) – Entscheid… | |
in Gesellschaft, Politik und Kunst“ lautet in diesem Jahr das weit gefasste | |
Motto des Festivals, das diesmal in Köln, Mülheim an der Ruhr und | |
Düsseldorf veranstaltet wird. Wie es der Trend der Zeit will, ist aus dem | |
reinen Theaterfestival mit Fokus auf Produktionen aus NRW längst ein | |
Ereignis geworden, das Konzert, Schauspiel, Installation, Lecture, | |
Diskussion und nicht zuletzt auch Party bietet und damit auf unvermeidbare | |
Weise auch ein bisschen beliebig geworden ist. | |
## Teil des internationalen Produktionszirkuses | |
Denn die allermeisten Produktionen sind Teil des internationalen | |
Produktionszirkus, der von den Off-Bühnen längst in die einschlägigen | |
Festivals und Stadttheater eingesickert ist. So finden sich im Spielplan | |
etwa Milo Raus „Five little pieces“, die zum Berliner Theatertreffen | |
geladen waren. Oder „Sorry“ von der Monster Truck-Truppe, das einst vom | |
Schauspiel Leipzig produziert werden sollte, dann nach Skandal in den | |
Berliner Sophiensälen heraus kam. Oder „Hamlet“ von Boris Nikitin, in Basel | |
herausgekommen, und seither weit gereist. | |
Off-Theater ist eben schon längst nicht mehr Off, sondern fester | |
Bestandteil des sich immer mehr an seinen Grenzen verflüssigenden Betriebs. | |
Und das muss man gar nicht beklagen, denn es ist ein Symptom eines | |
galoppierenden Transformationsprozesses, der mittlerweile alle Genres der | |
Kunstproduktion ergreift. | |
Nicht zufällig sind wir am Eröffnungswochenende der „Impulse“ in der | |
Kunsthalle und nicht im Theater. Nicht zufällig hat kein Malerfürst, | |
sondern die Künstlerin Anne Imhof bei der Biennale di Venezia mit ihrer | |
„Faust“-Performance den Goldenen Löwen gewonnen. Und nicht zufällig wird | |
ein Künstler wie Samson Young, der sich eigentlich als Komponist versteht, | |
auf Großereignissen der bildenden Kunst wie der Biennale und der documenta | |
herumgereicht. | |
## Performer sind von den Besuchern kaum zu unterscheiden | |
In der Kunsthalle kann man auf den ersten Blick die Performer von den | |
Besuchern kaum unterscheiden. Doch dann erhebt sich eine kräftige | |
Sopranstimme und singt das Cello-Solo von Camille Saint-Saëns’ “Der | |
Schwan“, und einer der Performer tanzt dazu auf imaginären Spitzenschuhen | |
ein klassisches Solo. Dann formieren sich zwei Darsteller in verrenkten | |
Posen auf dem Boden, was den geschichtskundigen Betrachter an die Bilder | |
der Erschießung der Ceaușescus erinnern soll. | |
Die Performer reenacten historische, politisch brisante Situationen, aber | |
auch ikonische Kunstwerke wie Rembrandts „Der Raub der Europa“ oder das | |
Abhängen des „Guernica“-Wandbildes in der UNO während Colin Powells Rede | |
zur amerikanischen Intervention im Irak. Die Besucher können verschiedene | |
Anfänge der Performance auswählen, aber nach spätestens einer Stunde | |
wiederholen sich die Teile. | |
Weiter geht’s mit dem Vernissage-Shuttle in den Ringlokschuppen in Mülheim | |
an der Ruhr. Dort hat die britische Theatergruppe Stan’s Cafe die | |
Installation „Of all the people in all the world“ aufgebaut, eine variable | |
Arbeit, die seit 2003 durch die Welt tourt. Mit Tonnen von Reiskörnern | |
werden Statistiken sichtbar gemacht, indem ein Reiskorn für einen Menschen | |
steht. Kleine und große Hügel sind in Mülheim aufgetürmt: die | |
Brexit-Befürworter neben den Gegnern, kaum zu unterscheiden die Haufen. | |
Die Scheidungen und die Hochzeiten in Deutschland 2015 – mehr Hochzeiten! | |
Tägliche Besucher der Paarship-Seite in Deutschland – mittelgroßer Haufen. | |
Personen in Pflegeheimen, Singlehaushalte, Mitglieder in allen möglichen | |
Clubs, Einwohner Mülheims, Kölns, über das Mittelmeer Geflüchtete, | |
Ertrunkene, Besucher des letzten Kraftwerk-Konzerts. Trauriges und Heiteres | |
mischt sich, an einem langen Tisch stehen die Mitglieder der Theatertruppe | |
und nehmen Vorschläge entgegen, was mit penibel abgewogenen Reiskörnern | |
visualisiert werden soll. | |
Am Ende wird der Ringlokschuppen voller Häufchen sein. Diese Installation | |
ist damit also immer anders und neu. Und sie trifft das Motto des Festivals | |
vielleicht besser als die vielen anderen üblichen Verdächtigen des | |
Betriebs, denn sie macht in Zeiten alternativer Fakten Realitäten sichtbar. | |
28 Jun 2017 | |
## AUTOREN | |
Regine Müller | |
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