# taz.de -- Eröffnung der Ruhrtriennale: Ein rätselhafter Start | |
> An starken Bildern fehlt es nicht in der Oper „Alceste“ und dem Tanzstück | |
> „In Medias Res“ auf der Ruhrtriennale. Dennoch bleibt vieles im Vagen. | |
Bild: Kristallklar klingender Chor auf spiegelnder Fläche in Christoph Williba… | |
Als Johan Simons letztes Jahr das Ruder der Ruhrtriennale übernahm, wählte | |
er das Motto: „Seid umschlungen“ in Anlehnung an Schillers „Ode an die | |
Freude“ und Beethovens sattsam bekannte Vertonung. Nachdem sein Vorgänger | |
Heiner Goebbels gerade keine Motti wollte und sich in experimentellen | |
Formaten und mit der bildenden Kunst austobte und zuvor Willy Decker die | |
Weltreligionen abgeklopft hatte, will Simons nun dezidiert politisch sein | |
und aktuelle Krisen spiegeln. | |
Diesmal gab er vorab zu Protokoll, die Werte der Aufklärung und die drei | |
Leitvokabeln „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ zu untersuchen und | |
deren Gefährdung in Zeiten von Terror und Rechtsruck zu thematisieren. Nach | |
dem durchwachsenen Eröffnungswochenende muss man jedoch feststellen, dass | |
in beiden gezeigten Produktionen die proklamierten Themen allenfalls in | |
homöopathischen Dosen nachweisbar sind. | |
Zu Beginn gab’s große Oper in der Bochumer Jahrhunderthalle: Für Christoph | |
Willibald Glucks „Alceste“ in der Inszenierung von Intendant Simons hat der | |
Bühnenbildner Leo de Nijs eine imposante Lösung gefunden: Bespielt wird | |
eine lange, spiegelnde Fläche, an der sich eine flache Tribüne | |
entlangzieht. Gegenüber sitzt mittig das Orchester auf Podesten. Aber warum | |
ausgerechnet Glucks „Alceste“ in der italienischen, sich auf bald | |
dreieinhalb Stunden ziehenden Urfassung? | |
## Die heikle Frage: Was ist das Aufklärerische an der Oper? | |
Das Werk des Komponisten der Aufklärung kreist endlos um die Titelheldin, | |
deren königlicher Gatte Admeto todkrank ist und laut Orakel nur durch ein | |
Menschenopfer zu retten ist. Dieses Opfer will die edle Alceste nun selbst | |
bringen und ringt, umgeben vom allgegenwärtigen Chor und ermuntert durch | |
Herolde, Oberpriester, Unterweltgötter und Apollo mit ihren widerstrebenden | |
Gefühlen zwischen Todessehnsucht, Erleuchtung und Hysterie. | |
Es geht also um ein freiwilliges Menschenopfer. Für scheinbar Wichtigeres | |
und Höheres als das eigene Leben. Nämlich das Leben eines feudalen | |
Herrschers. Alceste opfert sich für ein Ideal, eine angeblich große Idee. | |
Genau das würde auch jeder religiöse Fanatiker für sich reklamieren. | |
Aber statt die in der Tat heikle Frage zu untersuchen, worin der | |
aufklärerische Aspekt dieser Oper eigentlich liegt, belässt Johan Simons es | |
bei einer defensiven Bebilderung des Geschehens. Er lässt Brigitte | |
Christensen als Alceste im dunkelblauen Reformkleid des frühen 20. | |
Jahrhunderts die Spiegel-Fläche hin und her rennen und der famose Chor | |
MusicAeterna – durchweg individuell charakterisiert und in verträumte | |
Gewänder gesteckt – wogt mit. Ernüchternd steht ein Heer weißer | |
Plastikstühle im Weg, die bevorzugt wütend weggeschleudert werden. | |
Gewiss weisen emotionale Ambivalenz und Zweifel am selbst gewählten | |
Schicksal Alceste als Figur der Moderne und eben nicht als marmorne | |
Mythengestalt aus. Aber wieso geht es insgesamt so affirmativ zu? Und soll | |
etwa die ruppige Geste des Chors, wenn er plötzlich auf die Tribüne | |
losprescht und nur ganz kurz vor der ersten Reihe stoppt und mit „Ihr | |
Feiglinge!“-Blicken das Publikum aufspießt, eine Aufforderung sein, das | |
eigene Leben einzusetzen? | |
## Starkes Orchester, hinreißende Sänger | |
Musikalisch ist der Abend über jeden Zweifel erhaben. René Jacobs treibt | |
mit dem großartigen B’Rock Orchestra Glucks Partitur alles Gravitätische | |
aus, der Klang pulsiert transparent und in bebender Empfindsamkeit. Ein | |
Mirakel ist der kristallklar klingende Chor, Brigitte Christensen meistert | |
die Titelrolle mit seraphisch leuchtendem Sopran, Georg Nigl beherrscht | |
bei jedem seiner hinreißenden Auftritte die Riesenbühne mit magnetischer | |
Präsenz. | |
Dennoch zieht sich der Abend, und was er als gesellschaftlicher Kommentar | |
bedeuten will, bleibt ebenso unklar wie am folgenden Tanzabend auf Pact | |
Zollverein in Essen Richard Siegals „In Medias Res“. Die Choreografie des | |
angesagten ehemaligen Forsythe-Künstlers widmet sich mit dem Fegefeuer | |
einer archaischen, dem Aufklärungsgedanken denkbar fernen Idee. | |
Siegals neue Arbeit ist die Fortsetzung von „Model“ vom letzten Jahr, beide | |
Choreografien berufen sich auf Dante Alighieris „Göttliche Komödie“. Aus | |
den sieben Stationen von Dantes Fegefeuer werden bei Siegal sieben Gänge | |
eines Menüs in einem Restaurant in postapokalyptischer Staublandschaft. Ein | |
Artaud-Texte krächzender Chefkellner, der nebenher Kontrabass spielt, | |
serviert die Gänge, der beleibte Koch ist auch Cellist, zu suggestivem | |
Surround-Sound werfen sich die Tänzer in wilde Bewegungen und | |
Wiederholungen, während von der Rückwand Ulrike Meinhof grüßt. | |
## Intensiv und expressiv – aber leider bleibt es vage | |
Das Ganze ist irgendwie intensiv, virtuos getanzt und expressiv – aber wie | |
es mit Dante verbunden ist, versteht man ohne das Programmheft nicht. Am | |
Schluss steht ein starkes Bild, wenn die Stoffbühne in einen Schacht | |
eingesogen wird und darüber die Inschrift prangt „Tout est pardonné“. Aber | |
was wird jetzt eigentlich vergeben? Um welche Seelenreinigung geht es? Das | |
alles bleibt vage und dann doch, den vielen gestreuten Bezügen zum Trotz, | |
ziemlich beliebig. | |
16 Aug 2016 | |
## AUTOREN | |
Regine Müller | |
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