| # taz.de -- Die dritte Ruhrtriennale: Chris Dercon, aufgepasst! | |
| > Johan Simons Festival-Ausgabe war qualitativ erstklassig, fordernd, und | |
| > sehr wohl auch scheiternd. Aber das auf höchstem Niveau. | |
| Bild: Szene aus „Pelléas et Mélisande“ | |
| Johan Simons hat seinen drei Ruhrtriennale-Ausgaben trotzig und | |
| unbescheiden das auf Schiller und Beethoven verweisende Motto „Seid | |
| umschlungen“ vorangestellt. Auf halber Strecke seiner letzten und bislang | |
| stärksten Spielzeit kann man sagen: Umschlungen hat er wohl kaum die | |
| Millionen, die im Ruhrgebiet ihren kleinen und großen Sorgen nachgehen, mit | |
| der Hochkultur fremdeln und die Gründungsintendant Gerard Mortier einst in | |
| die umgenutzten Industriehallen holen wollte. Aber Simons umschlingt nahezu | |
| die gesamte Breite der aktuellen Theater-Ästhetik. Und das jeweils in der | |
| High-End-Ausgabe: teuer, qualitativ erstklassig, fordernd, und sehr wohl | |
| auch scheiternd, aber das auf höchstem Niveau. Chris Dercon: Aufgepasst! | |
| Zum Auftakt kam mit [1][Debussys Oper „Pelléas et Mélisande“] eine vom | |
| Zeremonienmeister des Dekadenten, Krzysztof Warlikowski, auf | |
| Millimeterpapier entworfene, ins Monströse vergrößerte Familienaufstellung | |
| auf die Bühne, hoch konzentriert, frei von Ironie. Nun folgte in der | |
| Duisburger Gebläsehalle mit der Uraufführung von Philippe Manourys | |
| Musiktheater „Kein Licht“ ein aus allen Rohren feuerndes | |
| Multimediaspektakel auf eine Kompilation von zornigen und bemerkenswert | |
| banalen Jelinek-Textflächen unter Einsatz von computergenerierten Klängen | |
| und einem wahren Bildergewitter. Und tags darauf in der Maschinenhalle der | |
| Gladbecker Zeche Zweckel eine radikale Ausnüchterung mit Anne Teresa De | |
| Keersmaekers minimalistischem Tanztheater „Mitten wir im Leben sind“ für | |
| fünf Tänzer auf Bachs sechs Cellosuiten. Beides ein Belastungstest für die | |
| Sinne. Während man in Duisburg den Kopf einziehen muss vor prasselnden | |
| Effekten und dem Jelinek’schen Textgebell, muss man in Gladbeck alle Sinne | |
| ausfahren, um im verdämmernden Licht der pittoresken Halle – die der | |
| eigentliche Star des Abends ist – die nachdenklichen Tastbewegungen der | |
| Tänzer zum einsamen Solo-Cello zu erhaschen. | |
| In Elfriede Jelineks Textblöcken ist schon pur jede Menge Musik drin. Denn | |
| sie spinnen in ihrer Besessenheit eine unendliche Melodie fort und | |
| zerhacken sie zugleich im Skandieren zu rhythmischen Ballungen. Nun ist aus | |
| ihrem Theaterstück „Kein Licht“ von 2011, einem „Prolog?“ und „Epilo… | |
| (2012) und einem aktuell hinzugefügten Trump-Stück „Der Einzige, sein | |
| Eigentum (Hello Darkness my old friend)“ ein Musiktheater geworden, dessen | |
| Libretto der geübte Jelinek-Exeget Nicolas Stemann routiniert | |
| zusammengeklaubt und gemeinsam mit dem Komponisten Philippe Manoury | |
| entwickelt hat. | |
| Natürlich gibt es keine Handlung, wohl aber ein Grundszenario, denn Jelinek | |
| schrieb „Kein Licht“ unter dem Eindruck des Reaktorunfalls in Fukushima. | |
| Auf der Bühne verweisen Wassertanks mit fluoreszierendem Inhalt und eine | |
| giftgrüne Flüssigkeit, die auf die Spielfläche suppt, auf die Gefahren der | |
| Atomkraft. Zwei Sprecher A und B (grandios: Caroline Peters und Niels | |
| Bormann) und vier Sänger in ständig wechselnden Kostümen sprechen und | |
| singen recht melodiös Jelineks zwischen Zorn, Predigt und Kalauer | |
| oszillierende Texte und anfangs darf auch der reizende dressierte Terrier | |
| Cheeky ins Mikro jaulen und mit dem Schwanz wackeln. | |
| ## Von Katastrophenvideos zu purem Minimalismus | |
| Ferner gibt es einen unterbeschäftigten Kammerchor, flackernde | |
| Katastrophenvideos und am Ende eine Frau, die mit dicker Datenbrille auf | |
| der Rückwand ein kunterbuntes, dreidimensional sich bewegendes Bild | |
| entstehen lässt. Zwischendurch fließt viel Wasser ins Bühnenplanschbecken, | |
| es wird Ball gespielt, die sprechende Puppe Atomi und die Elektronen sehen | |
| aus wie Minions, alle schießen Selfies und Nicolas Stemann lässt ungeachtet | |
| von Jelineks pessimistischem Zorn mit Ironie und Persiflage keinen | |
| übergroßen Ernst aufkommen. Was ja im Sinne der Dichterin ist, die | |
| insbesondere in der aktuell geschriebenen Suada über Donald Trump selbst | |
| ins enervierende Kalauern verfällt und kein Klischee über den | |
| Pannen-Präsidenten auslässt. | |
| Philippe Manourys Tonspur klingt gemäßigt, singbar und nicht so komplex, | |
| wie sich ihr Entstehungsprozess im Beipackzettel liest. Insgesamt lässt | |
| diese virtuose Apokalypsen-Farce seltsam kalt und die Energie-Frage wendet | |
| sich gegen den Abend selbst: Was für eine Verschwendung? | |
| Purer Minimalismus dann in der Maschinenhalle in Gladbeck: Die Fenster | |
| stehen weit offen, nur die Abenddämmerung und ein einzelner, milder Spot | |
| auf den Cellisten erleuchten die riesige, leere Bühne. Im exakt | |
| zweistündigen Verlauf der sechs Bach-Suiten schwindet das Licht immer mehr, | |
| erst zu letzten Suite in D-Dur wird es dann blendend hell. | |
| Jean-Guihen Queyras meistert die Herausforderung, alle sechs Suiten ohne | |
| Pause zu spielen, mit Bravour. Er ist mit seiner sonoren Intensität das | |
| Kraftzentrum des Abends. Jede Suite gehört einem von De Keersmaekers | |
| Tänzern, stets schaltet sie im jeweils zweiten Satz, der „Allemande“, sich | |
| selbst tanzend ein, erst in der letzten Suite tanzen alle fünf Tänzer | |
| gemeinsam. Das Bewegungsmaterial der belgischen Choreografin ist karg und | |
| spröde, dem Gehen näher als dem Schreiten, wie überhaupt alle Bewegungen | |
| aus dem Alltag abgeleitet scheinen. Und dabei ganz nah und Takt für Takt an | |
| der Musik bleiben. Aus der Reibung zwischen Bachs mystischer Versenkung und | |
| der alltäglichen Menschlichkeit der Bewegungen entsteht in den besten | |
| Momenten des Abends eine besondere Poesie. | |
| 29 Aug 2017 | |
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| [1] /Opernpremiere-in-Bochum/!5440309 | |
| ## AUTOREN | |
| Regine Müller | |
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