# taz.de -- Heiner-Müller-Stück in Weißrussland: Verrat am Kampf um die bess… | |
> Gebannte Stille, staunende Irritation, Wandel durch Annäherung: Das | |
> Staatstheater Hannover gab in Minsk ein Gastspiel von „Der Auftrag“. | |
Bild: Improvisiertes Publikumsgespräch mit Kühnel, Kuttner und Harfouch (im V… | |
Die Geschichte der Menschheit sei nur ein Kontinuum anhaltender | |
Katastrophen, meinte Heiner Müller. Das bestätigt sich in Weißrussland: | |
Jahrhunderte erduldete es Fremdbestimmung, Kriege, Holocaust, den | |
Tschernobyl-GAU. Eine Landschaft der Toten – ein reich bestückter Boden für | |
Müllers dramatische Archäologie des Fatalismus. | |
Warum gerade jetzt das Staatstheater Hannover anreise und die Beschäftigung | |
mit Heiner Müller anbiete? Um den utopischen Raum in seinem Werk zu | |
illuminieren, da der revolutionäre Prozess des Sozialismus noch nicht | |
beendet sei, antwortet Dramaturg Johannes Kirsten in Minsk einer Zuhörerin | |
seines Referats über den in Osteuropa nahezu unbekannten Ostdeutschen. Mit | |
der Fragerin beginnen weitere 40 Zuhörer beglückt zu lächeln. Sind | |
wachgeküsst und willig, Jürgen Kuttners und Tom Kühnels Inszenierung von | |
„Der Auftrag“ in Augenschein zu nehmen, die zum Festival „Teart“ geladen | |
ist. | |
Intendantin Angelika Krasheuskaya wollte diese Performance multimedialer | |
Theatermittel unbedingt als Auseinandersetzung über die Realität | |
europäischer Ideale präsentieren. 48 Menschen und zwei Lkws machten sich | |
auf den Weg. Zu über 90 Prozent wird das Gastspiel vom örtlichen | |
Goethe-Institut finanziert, also dem Auswärtigen Amt. | |
„Teart“ wurde vor sechs Jahren initiiert, unter anderem von einem | |
theaterbegeisterten Banker, dessen Geldinstitut seither Hauptsponsor ist, | |
gefolgt von Gazprom. Das weißrussische Kulturministerium gibt sich | |
offiziell als Mitveranstalter aus. „Sonst wären internationale Gastspiele | |
gar nicht möglich“, heißt es bei den Festivalmachern. 22 Produktionen aus | |
neun Ländern werden drei Wochen lang gezeigt, verteilt über die ganze | |
Stadt, ergänzt um Lesungen wie der von Dramaturg Kirsten. Romeo | |
Castellucci, Lev Dodin, Alvis Hermanis sind dabei, aus Deutschland Rimini | |
Protokoll mit „Bodenprobe Kasachstan“ und Thomas Ostermeiers | |
Ibsen-Inszenierung „Ein Volksfeind“. Die junge Elite in Minsk hungere nach | |
solchen Erlebnissen, erklärt Vera Dziadok, Theaterbeauftragte des | |
Goethe-Instituts in Weißrussland. | |
## Ist ästhetische Entwicklungshilfe notwendig? | |
Das Land wurde einst von US-Außenministerin Condoleezza Rice als „letzte | |
Diktatur Europas“ beleumundet. Die überwiegend planwirtschaftlich | |
organisierte Wirtschaft gilt als marode, das Leben als paralysiert durch | |
Bürokratie- und KGB-Terror. Der Chef des Goethe Instituts Belarus, Frank | |
Baumann, erklärt: Der Repressionsapparat des Dauerpräsidenten Aljaksandr | |
Lukaschenka manipuliere zwar Wahlergebnisse, er selbst sei aber populär. | |
„Die Weißrussen lieben ihn als gestrengen Landesvater, der relative | |
Stabilität garantiert.“ Darf man dort hinfahren? Muss man es? | |
Ist ästhetische Entwicklungshilfe und Anleitung zur Interpretation der Welt | |
notwendig? Vehement dagegen argumentiert das regimekritische Belarus Free | |
Theatre, das im englischen Asyl leben und arbeiten muss. Man dürfe in | |
Weißrussland nicht auftreten, müsse alle Beziehungen kappen, bis das | |
autoritäre System zusammenbreche. Der Star der „Auftrag“-Produktion, | |
Corinna Harfouch sieht das anders: „In der DDR war es für mich auch | |
unheimlich wichtig, nicht isoliert zu sein und Begegnungen mit Künstlern | |
aus dem Westen zu haben.“ Ihre politisch effektivste Arbeit sei der 1984er | |
„Urfaust“ am Berliner Ensemble gewesen, wo unterm Ausstattungspomp das | |
Zwischen-den-Zeilen-Lesen ermöglicht wurde, die unterschwellige Umdeutung | |
des sozialistischen Aktivismus Fausts zum Abgesang auf den SED-Staat. | |
Gelingt das mit „Der Auftrag“? Goethe-Chef Baumann ist skeptisch. „In | |
Weißrussland existiert keine gebildete Mittelschicht als klassisches | |
Publikum. Die Zuschauer hier interessieren sich nicht für Politik, es gibt | |
auch keine Tradition des politischen Diskurses. Alle wollen einen schönen | |
Abend, heile Welt.“ Aber vielleicht verändere sich gerade die Rolle des | |
Theaters – hin zum Medium der Selbstverständigung. Nach der russischen | |
Krim-Annexion distanziert sich Weißrussland aus Selbstschutz von dieser Art | |
Machtpolitik, obwohl es weiterhin von den billigen Gas- und Öllieferungen | |
des Nachbarn abhängig ist. | |
## Viel Form, keine Inhalte | |
Die Jungen haben sich per WLAN längst an den Westen angedockt. Auch Visa | |
für Reisen in den Schengen-Raum seien leicht zu bekommen. Aber eine | |
Freiheit der Kunst gebe es nicht. „Im Theater ist immer noch die | |
Generalprobe der Zeitpunkt der Abnahme durch die Zensurbehörde“, erklärt | |
Dziadok. | |
19 Bühnen gibt es in Minsk – nur staatliche, keine offiziellen Spielstätten | |
für freie Ensembles. Deren Aufführungen werden über Facebook kommuniziert – | |
sie finden in Wohnzimmern im kleinen Kreis statt. Sie seien wortlastig, | |
analysiert Dziadok, suchten noch nach Formen für Themen wie die hohe | |
Suizidquote, Gewalt in Familien, Kriminalität, Alkoholismus, | |
Orientierungslosigkeit und den Flüchtlingsstrom aus der Ukraine. In | |
Staatstheatern gebe es viel Form, aber keine Inhalte: Beamtenkunst. | |
Als der Schauspielchef des „Theaters belarussischer Dramaturgie“ vor Kurzem | |
versuchte, ein Stück über die ukrainisch-weißrussischen Beziehungen | |
anzusetzen, wurde ihm das verboten. So sammelte er per Crowdfunding 2.000 | |
Euro und realisierte Vitaly Korolevs Stück „Opium“, das nun von „Teart“ | |
präsentiert wird. „Auch das wäre vor Jahren noch nicht denkbar gewesen“, | |
betont die Festivalleitung angesichts der aktuellen Tauwetterperiode. | |
Klimawandel? Eher machtpolitisches Kalkül: Sich dezent liberal zu | |
inszenieren, gen Westen zu öffnen – ist ein Druckmittel gegen Moskau und | |
Akquisemittel für EU-Gelder. | |
## Was kann „Der Auftrag“ für einen Auftrag haben? | |
Was kann „Der Auftrag“ da noch für einen Auftrag haben? Zu hören und | |
übertitelt ist er als Lesung Heiner Müllers aus dem Jahr 1980. Die | |
Darsteller öffnen und schließen dazu lautlos die Münder – und kommentieren | |
gestisch, mimisch, tänzerisch. Ein hermetischer Text wird zum Theaterclip. | |
Die graue Klangoberfläche des Librettos wird rhythmisiert und in pathetisch | |
zusammengeflickte Patchwork-Sounds gekleidet. Zugleich jongliert das | |
Ensemble mit dem zeitgenössischen Vokabular des Unterhaltungstheaters: | |
TV-Soap, live gebastelter Animationsfilm, Blue-Men-Group-Zinnober, | |
Hollywood-Melodramen-Kitsch, Traumsequenzen, Comedy-Pantomime sind zu sehen | |
– schöne Bilder neben der bilderreichen Dichtung. | |
Der Ort der Aufführung ist der Kulturpalast der Minsker Automobilwerke. Von | |
außen ein abweisender Multifunktionshallen-Klotz. Innen beblinken | |
Lichterketten das eisige Foyer. Hinter Holzbalken versteckt sich eine | |
Eckkneipensimulation, wo Fleischfladen auf Kartoffelbergen serviert werden. | |
Unter einer Rauputzdecke sind die Wände des Saals mit barocken | |
Gipsapplikationen verziert. Von 1.100 Plätzen bleiben etwa 100 leer. Der | |
Look der Besucher changiert zwischen bürgerlich schnieke und hipsternd | |
schmuddelig. Jung sind sie zumeist. Und neugierig. | |
Es herrscht gebannte Stille, staunende Irritation. Wenn Heimat als | |
„Geborgenheit der Sklaverei“ bezeichnet wird oder ein Luftballon mit „I | |
love Minsk“-Graffito zerplatzt – Reaktionen gibt es keine. Hannovers | |
Schauspielintendant Lars-Ole Walburg vermutet als Andockpunkt die von | |
Müller artikulierte Furcht „vor der Schande, glücklich zu sein“. Nämlich | |
den Verrat am Kampf für eine bessere Welt im kleinen Konsumglück, auch in | |
Minsk mit allen Markenprodukten des Westens versorgt zu sein. | |
Aber was das Publikum wirklich mitnimmt, bleibt unklar. Es erhebt sich, | |
klatscht kurz – und bildet im Foyer einen Halbkreis um das Regieteam. „Das | |
war ja widerwärtiger Kitsch“, ist zu hören. Aber vor allem: „Herzlichen | |
Dank für diesen großartigen Abend.“ Vermisst wird Klarheit – und gefragt, | |
wie es die Hannoveraner denn nun mit der Revolution halten? „Manchmal ist | |
sie nötig und berechtigt“, sagt Kuttner. In Weißrussland? „In Russland 19… | |
und mit Castro in Kuba war das so“, weicht er aus. Verärgerung ist zu | |
hören, weil Stalin in eine Reihe mit Revolutionsikonen wie Lenin, Marx, | |
Luxemburg und Guevara gestellt wurde. Begeisterung ruft hervor, dass | |
Harfouch „diesen Männertext“ im Weißclown-Kostüm selbst so sprach, dass | |
auch Frauen ihn „tief wirken lassen können“. Sich so ab und zu mal einen | |
Mann einzuverleiben, rät Harfouch jeder Geschlechtsgenossin, die etwas über | |
diese unbekannte Wesen lernen wolle. Gelächter. Endlich ist man angekommen | |
in einer gemeinsamen Realität. | |
19 Oct 2016 | |
## AUTOREN | |
Jens Fischer | |
## TAGS | |
Theater | |
Minsk | |
Weißrussland | |
Schauspiel Hannover | |
Theater | |
Weißrussland | |
Krim | |
Maxim Gorki Theater | |
Tanz | |
Kulturpolitik | |
Theater | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Gender-Theater in Hannover: Held*in des Amalgamierens | |
Alle starren Kategorisierungen im Geschlechterspiel mit Leichtigkeit | |
unterlaufen: Corinna Harfouch gibt eine*n liebevoll-sarkastischen | |
„Orlando“. | |
Revolutionsrevue „1917“: Untote Weltgeschichte | |
Wenn die Revolution zur Musiknummer schrumpft: Tom Kühnels Revue „1917“ am | |
Schauspiel Hannover setzt sich mit dem frühen Lenin auseinander. | |
Schau zum Nazi-Lager Malyj Trostenez: Parallelgeschichten aus Minsk | |
Waren Juden unter den Partisanen? In Hamburg erinnert eine | |
deutsch-weißrussische Schau an das Todeslager Malyj Trostenez. | |
Saxofonistin über Karriere und Klischees: „Ich habe versucht zu zweifeln“ | |
Für ihr Saxofon zog Asya Fateyeva schon als Kind von der Krim in die Welt | |
hinaus. Jetzt zieht sie in einen Hamburger Vorort – wegen der Nachbarn. | |
Theatermacher Ayham Majid Agha: Der Scharfschütze und die Einsamkeit | |
Ayham Majid Agha, Theatermacher aus Syrien, gehört zu den Protagonisten des | |
Gorki-Theaters. Über Krieg und Flucht weiß er viel zu erzählen. | |
Eröffnung der Ruhrtriennale: Ein rätselhafter Start | |
An starken Bildern fehlt es nicht in der Oper „Alceste“ und dem Tanzstück | |
„In Medias Res“ auf der Ruhrtriennale. Dennoch bleibt vieles im Vagen. | |
Streit über das Volkstheater Rostock: Die Zauberformel | |
Tanzen, spielen, singen gehört zum Volkstheater Rostock, findet Intendant | |
Sewan Latchinian. Dafür legt er sich mit der Politik an. | |
DDR-Literatur auf der Theaterbühne: Sie ploppen aus den Gräbern | |
In Berlin wurden „Der geteilte Himmel“ von Christa Wolf und „Zement“ von | |
Heiner Müller inszeniert. Sie erzählen von der Macht der Bürokratie. |