| # taz.de -- Revolutionsrevue „1917“: Untote Weltgeschichte | |
| > Wenn die Revolution zur Musiknummer schrumpft: Tom Kühnels Revue „1917“ | |
| > am Schauspiel Hannover setzt sich mit dem frühen Lenin auseinander. | |
| Bild: Hauptfigur in Hannover: Wladimir Iljitsch Lenin, hier mit Ehefrau Nadesch… | |
| Es war nicht alles schlecht! Am Anfang habe Lenins Revolution durchaus gute | |
| Dinge hervorgebracht, erklärt der Mann im weißen Anzug mit amerikanischem | |
| Akzent vor dem tiefroten Vorhang. „Wussten Sie das nicht?“ Zum Beispiel sei | |
| die Gleichberechtigung zwischen ehelichen und unehelichen Kindern | |
| durchgesetzt worden. Davon erführen wir nur nichts, wenn wir „abends auf | |
| CNN eine Doku über 1917“ gucken. Deshalb haben wir also ein ganz falsches | |
| Bild von jener Revolution. Und dieses falsche Bild, sagt der Mann in Weiß | |
| (Philippe Goos), werde uns praktisch bis heute eingetrichtert – von den | |
| kapitalistischen Medien. | |
| Und das scheint nicht wirklich ironisch gemeint. Regisseur Tom Kühnel und | |
| sein Team sehen in Lenin einen Visionär, dem es um die Befreiung der | |
| ausgebeuteten Massen ging. Einen, der eine bessere Welt wollte, auch wenn | |
| dafür die eine Diktatur durch eine andere ersetzt werden müsse, durch jene | |
| „Diktatur des Proletariats“, von der ältere Deutsche heute noch ein | |
| ziemlich konkretes Bild vor Augen haben. Am Anfang aber, so heißt es immer | |
| wieder in dieser Show am Schauspiel Hannover, sahen Lenins Träume anders | |
| aus. | |
| ## Deko wie bei der SED | |
| Um von diesem Anfang zu erzählen, ist alles so hübsch dekoriert wie auf | |
| einem verspäteten Parteitag der SED: Rechts und links des Bühnenportals | |
| hängen die bekannten riesigen, stilisierten Abbilder von Marx, Lenin und | |
| Engels – Köpfe also, die für Millionen Menschen zum Symbol einer Jahrzehnte | |
| währenden Unterdrückung geworden sind. Und auf der Bühne wird mit viel | |
| Gesang und schmissiger Musik vorgespielt, warum der später ermordete Zar | |
| Nikolaus II. völlig zu Recht abgesetzt wurde. | |
| Kaum konzentrieren auf seine Arbeit kann sich diese Witzfigur in der Lesart | |
| Kühnels: Vor riesigen Dias aus den russischen Zarenpalästen entgleiten ihm | |
| die Amtsgeschäfte in Slapstick-Nummern, die an Laurel und Hardy erinnern. | |
| Typisch Kühnel: Geschichte wird zur Show, etwa wenn Nikolaus (Janko Kahle ) | |
| aus einem riesigen Bett heraus Russlands Kriegseintritt verfügt – und damit | |
| einen Weltkrieg und den Tod von Millionen seiner Untertanen billigend in | |
| Kauf nimmt. Historische Großdebatten schrumpfen da auf das Format billiger | |
| musikalischer Nummern – klar ist schnell nur eines: Der Mann da muss weg. | |
| Sein Nachfolger, Lenin (Günther Harder), hat nicht nur die Zarenfamilie | |
| ermorden lassen, sondern mit seinen Idealen für Jahrzehnte Europa geprägt. | |
| In Hannover wird dieser Lenin zum eigentlichen Star des Abends. Schon | |
| während Kühnel den Untergang des Zarenreichs verhandelt, sehen wir auf | |
| einer Leinwand den Mann mit der Glatze voller Vorfreude im Schweizer Exil | |
| über den Ausbruch des Weltkriegs frohlocken. | |
| Nach der Pause tritt die dramaturgische Fixierung auf die Jahreszahl 1917 | |
| vollends in den Hintergrund, als sich zeigt, dass auch ein toter | |
| Revolutionär mitunter sehr lebendig agieren kann. Auf der Bühne steht das | |
| riesige Lenin-Mausoleum wie eine Geisterbahn mit grün flackerndem | |
| Schriftzug. Und der darin aufgebahrte Revolutionär? Liegt, mit | |
| herausquellenden Gedärmen, als Untoter in seinem gläsernen Sarg, aus dem er | |
| für die Ewigkeit seine revolutionären Thesen verbreitet. | |
| ## Rückbesinnen, nicht wiederholen | |
| Thesen, die nicht erst unter Stalin zum Tod von Millionen geführt haben. | |
| Auch Lenin schon ließ Bauern erschießen, wenn die nicht mitmarschieren | |
| wollten. Das wird auf der Bühne nun sogar erwähnt – hindert die | |
| Auftretenden aber nicht daran, eine Rückbesinnung auf Lenin zu fordern – | |
| „ohne Lenin zu wiederholen“: Wir müssten die Welt von heute durch den | |
| Spiegel des Leninismus sehen. | |
| Wie ernst gemeint das ist? Zweifel wecken könnte daran eventuell der | |
| Dresscode der Agitierenden: Wenn Lenin das System der Zentralbanken | |
| verändern wollte, könnten wir diese seine Lehren doch auf das Internet | |
| anwenden, fordern zwei junge Frauen in den blauen Uniformen der | |
| kommunistischen Jugendorganisation. Ob das Internet denn zwingend nach den | |
| Regeln des Kapitalismus organisiert sein müsste? Kritische Fragen also von | |
| geupdateten FDJ-lern. Es sind Momente wie diese, in denen unklar bleibt, | |
| welche Botschaft Regisseur Kühnel uns eigentlich mit diesem | |
| Geschichtsverschnitt überbringen will – falls er das will. | |
| Dass auch im Hannoveraner Publikum nicht jeder auf eine | |
| Lenin-Wiederentdeckung gewartet hat, zeigt der bereits angesprochene kurze | |
| Dialog mit dem Publikum: Was denn Lenins wichtigstes Mittel gewesen sei, um | |
| diese Revolution so plötzlich zum Blühen zu bringen, will der ominöse Herr | |
| im weißen Anzug – gemeint ist übrigens der US-amerikanische Journalist John | |
| Reed, Autor von „Zehn Tage, die die Welt erschütterten“ (1919) – vom | |
| Publikum wissen. Da melden sich zwei mutige Schülerinnen in Reihe sieben | |
| und rufen es laut in den Saal: „Mord!“ – „Nein, nein, das war doch erst | |
| später“, entgegnet der gespielte Reed. Dieser Abend wolle sich doch auf die | |
| hoffnungsvolle Zeit davor konzentrieren. | |
| Dass ihm das nur teilweise gelingt, bringt ein Dilemma zum Ausdruck: Diese | |
| Inszenierung will Lenin nicht verklären und die Verbrechen, die in seiner | |
| Folge begangen worden sind, nicht verharmlosen. Sie zeigt sogar zum Ende | |
| einen gebrochenen Mann, der, von seinen eigenen Kadern entmachtet, ein | |
| tristes Dasein auf dem Land führt und sich über die mangelnde Bildung der | |
| neuen Herrschenden beklagt. | |
| ## Blick nur auf den Anfang | |
| Doch versucht der Abend die Geschichte im Wesentlichen aus der Perspektive | |
| des Jahres 1917 zu sehen. Ob so ein Blick auf den Anfang – ohne das | |
| Folgende, das Ende gar mitzudenken – legitim sein kann, muss jeder Besucher | |
| für sich selbst beantworten. Vielleicht zeigt Kühnels | |
| „Revolutionsrevue“-Inszenierung ganz wider Willen aber auch ganz einfach, | |
| dass dieser Lenin zum positiv besetzten Helden nicht taugt. | |
| nächste Vorstellungen: 13. 9., 1. und 10. 10., jeweils 19.30 Uhr, | |
| Schauspiel Hannover | |
| 13 Sep 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Alexander Kohlmann | |
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