# taz.de -- Historischer „Schauprozess“ in Moskau: Das Theater der Diktatur | |
> Im Januar 1937 fand der Prozess gegen das „sowjetfeindliche | |
> trotzkistische Zentrum“ statt. Er endete mit 13 Todesurteilen. | |
Bild: Auch J. C. Delecki (l), Redakteur der Agentur Tass, wurde verurteilt | |
Wer nach Analogien in der Geschichte sucht, bedient sich im 20. | |
Jahrhundert. Das „Jahrhundert der Extreme“ bietet uns das Vokabular, um die | |
Unwägbarkeiten unserer Zeit zu beschreiben. Eine dieser Anleihen aus der | |
Vergangenheit ist der „Schauprozess“. Ob bei der Verhandlung gegen die | |
ukrainische Pilotin Nadija Sawtschenko oder angesichts der Verfahrenswelle, | |
die seit dem Putschversuch im vergangenen Jahr über die Türkei | |
hinwegschwappte: Wann immer die Rechtsprechung politischen Motiven folgt, | |
entlarven wir das Ganze als plumpe Theatervorstellung eines autoritären | |
Regimes, als „Schauprozess“. | |
Das historische Vorbild für diesen Begriff feiert derzeit sein unheimliches | |
Jubiläum. Am 23. Januar 1937 eröffnete der sowjetische Hauptstaatsanwalt | |
Andrei Wyschinski das Verfahren gegen das „sowjetfeindliche trotzkistische | |
Zentrum“ – den zweiten der drei „Moskauer Prozesse“. Unsere Vorstellung… | |
einem Schauprozess begann hier, im ausgeleuchteten Oktobersaal des Moskauer | |
Gewerkschaftshauses. | |
Auf der Anklagebank saß die einstige Elite der Sowjetunion. Revolutionäre | |
der ersten Stunde, Wegbegleiter und Rivalen Stalins, Funktionäre in hohen | |
Ämtern: Sie alle wurden der Verschwörung gegen die Sowjetunion bezichtigt. | |
Und sie alle gestanden – vor den Augen und Ohren der Weltöffentlichkeit. | |
Lew Kamenew und Grigori Sinowjew hatten einst zu den engsten Vertrauten | |
Lenins gehört. Im ersten Schauprozess (1936) gestanden sie ihre | |
Verschwörung mit Nazideutschland. | |
Nun bekannte der Schriftsteller Karl Radek, ein Mitstreiter Rosa | |
Luxemburgs, seine Mitgliedschaft in einer „trotzkistischen“ Terrorzelle. | |
Georgi Pjatakow war stellvertretender Volkskommissar für Schwerindustrie. | |
Dem Gericht gab er zu Protokoll, dass er Grubenkatastrophen und | |
Zugentgleisungen organisieren ließ, um die sowjetischen Arbeiter zur | |
Konterrevolution anzustacheln. | |
## Verschwörungen und Mordkomplotte | |
Drei öffentliche Verfahren in 18 Monaten mit 54 Angeklagten, und jedes | |
weitere Mal entlarvte die Staatsanwaltschaft neue Verschwörungen, | |
konspirative Treffen mit ausländischen Geheimdiensten, Mordkomplotte und | |
Doppelidentitäten. Die Geburtshelfer der Sowjetunion hatten ein | |
buchstäblich unglaubliches Terrornetzwerk gespannt, das mit jedem | |
Geständnis unwahrscheinlicher erschien. Einige zögerten ihre Aussagen | |
hinaus, andere bettelten um Vergebung durch den allmächtigen Parteiführer | |
Stalin, doch ein jeder spielte und bekannte seine Rolle als heimtückischer | |
Verschwörer. Natürlich war jedes dieser „Geständnisse“ unter Folter | |
entstanden. Die Auftritte der Angeklagten waren minutiös einstudiert, und | |
wer das Drehbuch missachtete, musste mit noch grausameren Repressalien | |
rechnen – für sich und seine Familie. Wer dem Skript Folge leistete und | |
sich als „tollwütiger Hund“ den Spötteleien des Chefanklägers unterwarf, | |
durfte mit einer baldigen Hinrichtung rechnen. 47-mal wurde die Todesstrafe | |
verhängt, 7 erwartete der Gulag. | |
Viele westliche Beobachter machten sich keine Illusionen über dieses | |
Schauspiel. Ein Korrespondent der London Times kommentierte den Auftakt des | |
zweiten Verfahrens: „Die Aufgabe des Richters besteht nicht darin, den Grad | |
von Unschuld und Schuld zu bemessen, sondern Stalins Willen danach zu | |
interpretieren, wie man sich der Schuldigen entledigt.“ George F. Kennan | |
erinnerte sich noch zwanzig Jahre später an den dritten Prozess als | |
„Kriegsgeheul des argwöhnischen und geheimniskrämerischen Russlands gegen | |
eingebildete Feinde im Ausland“. Für den US-Diplomaten war dieses | |
Gerichtsverfahren vor allem ein weiterer Ausweis sowjetischer Paranoia. | |
Das sowjetische Regime vernichtete medienwirksam die letzten Überreste | |
einer potenziellen innerparteilichen Opposition, und der Rest der Welt | |
schaute ent- oder auch begeistert zu. Politisch gelenkte Gerichtsverfahren | |
waren 1937 ohnehin kein Novum mehr. Seit den Tagen der Revolution nutzten | |
die Bolschewiki den Gerichtssaal als Hinrichtungsrampe für „Klassenfeinde“. | |
Die NS-Justiz hatte ebenfalls ihre menschenverachtenden Vorstellungen von | |
Recht und Unrecht mehrfach öffentlich unter Beweis gestellt. Und dennoch | |
stellten die Moskauer Prozesse alles Bekannte in den Schatten. | |
## Ein propagandistisches Meisterwerk | |
Zum einen waren sie ein propagandistisches Meisterwerk. Stalins | |
Chefankläger, Andrei Wyschinski, manipulierte die Wahrnehmung von | |
Millionen, indem er ihre Ängste zum Hauptmotiv seines Bühnenstücks machte. | |
Die Angst, nachts von der Geheimpolizei abgeholt zu werden, war Mitte der | |
1930er Jahre allgegenwärtig. Der NKWD streckte seine Fühler in alle | |
Bereiche der Gesellschaft aus, um jedes Anzeichen von Opposition oder | |
ideologischer Wankelmütigkeit mit Stumpf und Stiel auszurotten. Ein Scherz | |
über die Partei, Streit mit dem Betriebsleiter oder ganz einfach Zufall | |
reichten aus, um in sein Visier zu geraten. Tag und Nacht wurden Menschen | |
als „Volksfeinde“ denunziert und verhaftet. Sicherheit gab es für | |
niemanden, nur die Gewissheit, dass, wer zu spät denunzierte, bald selbst | |
als „Volksfeind“ verhaftet würde. | |
Die Moskauer Prozesse befeuerten diese Paranoia. Wyschinski dirigierte ein | |
nationales Medienereignis, das sein Publikum daran erinnerte, dass es im | |
Mittelpunkt eines epischen Existenzkampfes stand. Im Radio, in den | |
Zeitungen, auf Betriebsversammlungen oder in der Schule kam die Botschaft | |
an: die Jagd nach „Volksfeinden“, „Schädlingen“, Speichelleckern“, | |
„Spionen“ oder „Saboteuren“ musste weitergehen. Das „trotzkistische | |
Terrornetzwerk“ war enthauptet, aber nicht zerstört worden. Die Frontlinien | |
des internationalen Klassenkampfes verliefen im Gerichtssaal, im Betrieb | |
und in der eigenen Familie. | |
Zum anderen waren diese Gerichtsprozesse eine Machtdemonstration. Dabei | |
ging es weniger um Macht über politische Gegner. Der oberste Gerichtshof | |
demonstrierte die Überlegenheit der stalinistischen Rechtsordnung. Die | |
sowjetische Justiz war ein scharfes Machtinstrument in den Händen der | |
Partei, aber sie war kein blindes Werkzeug. Sie war sinnstiftend und folgte | |
ihrer eigenen juristischen Logik. Jedes Element dieser Prozesse – von den | |
Angeklagten und ihren Selbsterniedrigungen bis zur Präsentation der | |
manipulierten Beweislage – diente auch einem juristischen Zweck. Wyschinski | |
gab der Welt eine Kostprobe dieser sowjetischen Interpretation von Recht. | |
Auf die Frage des Gerichtsvorsitzenden im dritten Moskauer Prozess, ob die | |
Angeklagten einen Verteidiger wünschten, war ein einstimmiges Nein zu | |
hören. Nur der frühere Volkskommissar für Forstwirtschaft, Wladimir Iwanow, | |
fügte hinzu: „Ich beabsichtige nicht, mich zu verteidigen. Ich befinde mich | |
hier, um die volle Verantwortung für meine Verbrechen zu tragen.“ Schuld | |
war nichts, was dieses Gericht umständlich feststellen musste. Dieser | |
Illusion gab sich niemand hin. Natürlich gab es effektvolle Kreuzverhöre, | |
doch das Resultat war allen Zuschauern und Zuhörern bekannt: Die | |
Sowjetmacht hatte 54 schuldige Verschwörer entlarvt, die hier nun Zeugnis | |
ablegten. Westliche Beobachter mochten die Dramaturgie der Verfahren | |
durchschaut haben, doch Wyschinski wollte ohnehin keine Imitation | |
westlicher Justiz. In der Sowjetunion galten eigene Standards. Die Frage | |
der Schuld hatte die Geheimpolizei beantwortet, das Gericht lieferte | |
Narrativ und Strafmaß. Beweise hatten pädagogischen Wert, um die Wahrheit | |
zu präsentieren, die die Parteiführung für die Bevölkerung bestimmt hatte. | |
All dies war fester Bestandteil der Rechtsauffassung. | |
## Staatliche Willkür gegen Unerwünschte | |
Die Bolschewiki waren keine Anarchisten. Kodifizierte und verbindliche | |
Gesellschaftsnormen waren unverzichtbar für ein industrialisiertes Land. | |
Recht war ein Ausweis staatlicher Kontrolle. Der Geltungsbereich dieser | |
Normen war jedoch vom Veto der Parteiführung abhängig. Sie bestimmte | |
darüber, wann Regeln zu gelten hatten und wann nicht. Staatliche Willkür | |
war kein Dauerzustand, sondern eine Ressource, die gegen Andersdenkende und | |
Unerwünschte eingesetzt werden konnte. Dies betraf alle, die unter dem | |
berüchtigten Paragrafen 58 eines „konterrevolutionären“ Verbrechens | |
bezichtigt wurden. Wer als solcher „Politischer“ vor Gericht stand, dem | |
gingen essenzielle Prozessrechte und Rechtsansprüche verloren. Dies war | |
keine juristische Hintertür, sondern die bewusste Kehrseite der | |
sowjetischen Rechtsordnung. Wer von der Geheimpolizei (oder seinem | |
Nachbarn) über diese rote Linie gestoßen wurde, war ein Täter – auch ohne | |
Verfahren. | |
Wyschinski selbst gab seinem Publikum im zweiten Prozess zu verstehen, dass | |
man solcher Menschen eben nicht habhaft werden könne, wenn man sich auf | |
schriftliche Beweise verließe. Die Frage nach „materiellen Spuren“ sei | |
geradezu absurd. „Kein Mensch mit gesundem Menschenverstand kann in | |
Strafsachen wegen einer staatsfeindlichen Verschwörung die Frage so | |
stellen.“ Sobald staatliche Interessen betroffen schienen, war juristische | |
Schuld in der Sowjetunion einzig eine Frage politischen Ermessens. | |
Der Angriff auf die eigene Grundordnung zwingt Demokratien zur Vorsicht: | |
die Mittel des Rechtsstaates sorgfältig einzusetzen, dem Gesetz und nicht | |
der Macht Genüge zu tun. Dieses Dilemma kannten die Bolschewiki nicht. | |
Macht und Gesetz waren deckungsgleich, da sie beide in den Händen der | |
Partei lagen. Sie konnte politische Bedrohungen mit allen Freiheiten | |
beseitigen. Wyschinski erkannte darin die Überlegenheit der sowjetischen | |
Rechtsordnung – Historiker die Rechtfertigung für millionenfachen Mord. | |
Der Jahrestag der Moskauer Prozesse erinnert uns daran, die | |
Theatervorstellungen einer Diktatur ernst zu nehmen. Stalins | |
„Schauprozesse“ manipulierten ein Millionenpublikum und postulierten eine | |
eigene Werteordnung – mit eigenen Wahrheiten. Diese Täuschung kostete | |
zahllose Menschen das Leben – nicht nur das der Angeklagten. Darüber hinaus | |
ist er Mahnung an uns, die Widersprüche zwischen Macht und Gesetz zu | |
begrüßen. Demokratien müssen ihre Unversehrtheit verteidigen und sie | |
zugleich ständig problematisieren. Sicherheit braucht Diskurs und der | |
Rechtsstaat Regeln, keine Werkzeuge. | |
25 Jan 2017 | |
## AUTOREN | |
Immo Rebitschek | |
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