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# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Die Wahrheit auf der letzten Seite
> In Ägypten werden unabhängige Journalisten wie Terroristen behandelt. Sie
> werden verfolgt oder zur Selbstzensur gezwungen.
Bild: Der Journalist Abdullah Al-Shamy (Mitte) wurde nach 130 Tagen Hungerstrei…
Am Abend des 5. März 2015 protestierten Demonstranten im Zentrum von Kairo
gegen die Repression des Militärregimes: „Nieder mit der Herrschaft der
Armee! Wir haben keine Angst, wir ziehen den Kopf nicht ein!“ Die
Demonstranten auf dem Talaat-Harb-Platz gedachten auch der jungen linken
Aktivistin Shaima al-Sabagh, die am 24. Januar 2015 getötet wurde, als
Sicherheitskräfte eine Versammlung zu Ehren der Opfer der Revolution von
2011 mit Gewalt auflösten.
„Die Leute haben wirklich Mut“, meinte die Journalistin Shahira Amin, eine
der wenigen, die damals den Protest beobachtet haben. Mut braucht auch sie:
Seit dem Militärputsch gegen Präsident Mursi im Juli 2013 und insbesondere
seit dem Sieg von General al-Sisi bei der Präsidentschaftswahl vom Mai 2014
werden unabhängige Journalisten von der ägyptischen Regierung als Gegner
betrachtet.
Damit ergeht es ihnen wie den Muslimbrüdern. Aber während die Partei
„Freiheit und Gerechtigkeit“ der Bruderschaft seit Dezember 2013 auf der
Liste der Terrororganisationen steht, ist die Freiheit der Presse formell
noch garantiert, und zwar auch durch die im Januar 2014 verabschiedete
Verfassung. Dennoch wurden zahlreiche Journalisten beschuldigt, „den Terror
zu unterstützen“ oder zumindest die allgemeine Ordnung zu gefährden und
damit den Extremismus zu fördern. Die Pressefreiheit gilt vor allem für die
Anhänger des Regimes, kommt also einem Mediensystem zugute, dem das
journalistische Berufsethos herzlich egal ist.
„Das Besondere an der ägyptischen Medienlandschaft ist, dass es überhaupt
kein System, keine Kontrolle und keine Regeln gibt“, erklärt Ossama Kamal.
Der bekannte TV-Journalist ist Starmoderator des Privatsenders Kahera wal
Nas (“Kairo und die Leute“). Kamal hat eine eigene Produktionsfirma und
wirkt mit seinem selbstbewussten Auftreten und seiner Gestik eher wie ein
Geschäftsmann.
## „Jetzt haben alle Angst“
In seinem luxuriösen Büro im Kairoer Nobelviertel Heliopolis erläutert er,
wie sich die Spielregeln je nach Gutdünken der Machthaber ständig ändern.
Das Problem der Zensur wird laut Kamal noch dadurch verschärft, dass eine
totale Freiheit für die Verbreitung von Falschinformationen herrsche –
vorausgesetzt, diese nützen dem Regime. „Die Journalisten dürfen nicht
alles sagen, aber sie dürfen den größten Unsinn und dreiste Lügen
verbreiten.“
Auf einen anderen Aspekt verweist Dina Samak, stellvertretende
Chefredakteurin und Leiterin des Politikressorts der englischsprachigen
Website Al-Ahram Online. Unter den herrschenden Umständen sei ihr Beruf
eine „wirkliche Herausforderung“, und das gelte verstärkt für die letzten
zwei Jahre: „Es gab schon immer ein riesiges Problem mit der Transparenz.
Früher war es zwar auch sehr schwer, an offizielle Dokumente zu kommen,
aber die Politiker äußerten sich öfter einmal off the record.“ Heute tun
sie das nicht mehr: „Jetzt haben alle Angst.“
Samak sitzt in einem winzigen Redaktionsbüro im gigantischen Gebäude der
staatlichen Zeitung Al-Ahram und erklärt, sie lasse sich nicht
einschüchtern. Objektiv betrachtet sei es um die Meinungsfreiheit unter der
Regierung der Muslimbruderschaft besser bestellt gewesen: „Damals gab es
zwei Machtzentren: das politische der Islamisten und das ökonomische der
Geschäftswelt.“ Die Muslimbrüder kontrollierten die staatlichen Medien und
die Unternehmer die privaten.
Dieser scheinbare Pluralismus habe die Meinungsfreiheit für die
Muslimbrüder und für die Liberalen garantiert, die oft der Armee
nahestanden. Heute sind die kommerziellen Medien entweder zum Sprachrohr
des Al-Sisi-Regimes oder mundtot gemacht worden. Die der Bruderschaft
nahestehenden Fernsehsender wurden nach dem Militärputsch geschlossen. Und
Journalisten, die über die Proteste der Muslimbrüder berichten, bekommen
Probleme mit den Sicherheitskräften.
## Schlimmer als Mubarak
Shahira Amin war stellvertretende Leiterin des Senders Nile TV. Heute
arbeitet die renommierte unabhängige Journalistin vor allem für CNN. Auch
sie meint, die Muslimbruderschaft habe sich zwar nicht gerade durch großen
Respekt für die Pressefreiheit ausgezeichnet, aber während der
Präsidentschaft Mursis hätten sich die Journalisten weniger bedroht
gefühlt: „Kein Journalist wurde verhaftet, auch nicht diejenigen, die
Mursis Regierung sehr kritisch gegenüberstanden.“
Shahira Amin weiß, wovon sie spricht, denn auch sie erhielt wegen ihrer
Reportagen über die Situation der Frauen und über
Menschenrechtsverletzungen mehrfach Drohungen. Unter Mursi hätten zwar
Anwälte der Muslimbruderschaft versucht, unliebsame Journalisten
strafrechtlich zu verfolgen, doch all diese Versuche seien im Sande
verlaufen. Zur heutigen Situation meint sie: „Als liberale Frau wünsche ich
mir nicht, dass die Islamisten zurückkehren, aber ich akzeptiere auch die
jetzige Diktatur nicht. Für die Journalisten und für die Meinungsfreiheit
insgesamt ist dieses Regime schlimmer als das der Muslimbrüder – und sogar
schlimmer als das Mubarak-Regime.“
So sieht es auch das Committee to Protect Journalists (CPJ). Die
US-amerikanische NGO hat Ägypten erstmals auf Platz drei der Rangliste der
für Journalisten gefährlichsten Länder im Nahen Osten gesetzt; davor liegen
nur Syrien und der Irak, wo offener Krieg herrscht. In Ägypten sitzen
mindestens 18 Journalisten im Gefängnis. „Damit liegt das Land weltweit auf
Platz sechs“, sagt der Journalist Sherif Mansur, der für CPJ die Region
Maghreb/Naher Osten beobachtet.
Im Juni 2014 wurden Reporter von al-Dschasira in einem Schauprozess wegen
„Unterstützung des Terrorismus“ verurteilt. Nach Mansur war es das erste
Mal, dass Journalisten aufgrund solcher Anschuldigungen eingesperrt wurden:
„Davor hat es keine Regierung gewagt, so massiv gegen ein Medium
vorzugehen, das nur seine Arbeit gemacht hat.“ Die beiden
Al-Dschasira-Reporter wurden inzwischen von al-Sisi begnadigt, aber die
Verfolgung und Repression ihrer Kollegen in Ägypten geht weiter.
## Pressefreiheit nur für die Elite
Angesichts dessen ist es kein Wunder, dass die junge Generation der
ägyptischen Journalisten frustriert ist. Das ist das Wort, das Mei Ezat
spontan einfällt, wenn sie über ihre Arbeit spricht. Die junge Journalistin
ist auch Produzentin bei MBC Masr, der ägyptischen Filiale einer mächtigen
saudischen Mediengruppe. Ihre ersten Erfahrungen hat Ezat in der
Al-Dschasira-Zentrale im katarischen Doha gesammelt. Leicht verlegen gibt
sie zu: „Die Umwälzungen im Land sind für Journalisten anregend. Ich hatte
zwar das Glück, meine Karriere in einer großen Medienanstalt zu beginnen,
aber jetzt merke ich, dass ich meinen Job nicht so mache, wie ich ihn gern
machen würde und machen sollte.“
Miriam Rizk von Al-Ahram Online teilt diese Vorbehalte. Zwar bleibe die
fremdsprachige Presse nach wie vor relativ frei, „aber nur, weil sie für
die große Mehrheit der ägyptischen Bevölkerung unerreichbar ist“. Die junge
Frau mit der kleinen schwarzen Brille will nicht hinnehmen, dass die
Freiheit der Presse ein Privileg der reichen und gebildeten Elite sein
soll.
Insgesamt herrscht eine Atmosphäre der Verunsicherung, die viele
Journalisten in die Selbstzensur treibt, erläutert Shahira Amin: „Wer die
Regierung kritisiert oder eine andere Sichtweise auf bestimmte Dinge hat,
wird zum Verräter oder Spion im Dienste einer feindlichen Macht
abgestempelt.“ Und die „regierungstreue“ Presse trage faktisch – ob aus
Überzeugung oder aus Angst vor Repression – zur Zensur der medialen
Opposition bei: Die vom Regime beeinflussten Massenmedien – staatliche wie
private – streuen Verschwörungstheorien, dämonisieren die
Muslimbruderschaft und behaupten, ausländische Mächte wollten Ägypten
zerstören. Für Amin ist das „Gehirnwäsche“.
Es gibt jedoch auch Journalisten, die das Al-Sisi-Regime in Sachen
Pressefreiheit als einen großen Fortschritt gegenüber der Mursi-Regierung
bezeichnen. Zu ihnen gehört Somaya Ibrahim, eine ehemalige Autorin der
saudischen Zeitung Asharq Al-Awsat und der arabischsprachigen Abteilung der
britischen BBC. Sie hat sich eher widerstrebend einen neuen Beruf gesucht
und arbeitet heute im Marketing.
## Überall Misstrauen
Die junge Frau, die ein Kopftuch trägt, kritisiert die Muslimbruderschaft
mit aller Schärfe. Auch sie bedauert die „Zwecklügen“ einiger Medien, aber
sie erklärt entschieden, unter al-Sisi seien die Journalisten „sehr viel
freier“. Unter Mursi sei es ausdrücklich verboten gewesen, abwertend über
die Regierung zu sprechen, ja sogar über die Regierungen von Katar und der
Türkei, die als Unterstützer der Bruderschaft galten.
Die Angst vor den Muslimbrüdern und die lebhafte Erinnerung an den wütenden
Eifer der Extremisten zu Zeiten der Mursi-Regierung sind die
offensichtliche Erklärung dafür, dass ein Teil der Presse dem
Al-Sisi-Regime positiv gegenübersteht. Am 26. Oktober unterzeichneten 17
Chefredakteure der größten staatlichen (wie Al-Ahram) und privaten
Tageszeitungen (wie Al-Masry Al-Youm) eine Erklärung, in der sie dazu
aufriefen, sich mit Kritik an der Polizei, der Armee und den Justizbehörden
zurückzuhalten.
„Angeblich wollten sie damit der Regierung in ihrem Kampf gegen die
islamistische Propaganda und gegen die terroristische Gewalt helfen“,
empört sich Shahira Amin, „ein solcher Treueschwur ist in der Geschichte
Ägyptens beispiellos.“ Als Reaktion auf diese Form der Selbstzensur
unterzeichneten über 600 Journalisten eine Onlinepetition gegen die
freiwillige Aufgabe der Pressefreiheit. Denn ein solcher Schritt bedeute
den „Verlust der Würde für jeden ägyptischen Journalisten“, und einen �…
für den Terrorismus“.
Die ägyptische Bevölkerung ist ähnlich gespalten wie das journalistische
Lager. Ob sie Anhänger des Regimes sind oder Oppositionelle oder einfach
nur Skeptiker – die ägyptischen Bürger hegen gegenüber der Presse ein
großes Misstrauen. Vom Brotverkäufer auf der Straße bis zum alten
Ministerialbeamten, der mit den Tricks der Politiker vertraut ist: In Kairo
findet sich niemand, der die Berichterstattung über den Volksaufstand von
2011 vergessen hätte. Die regierungsnahe Presse und die staatlichen
Fernsehsender verspielten jegliche Glaubwürdigkeit, als sie die
Revolutionäre als Gauner und Verräter darstellten – wie heute die
Oppositionellen und die unabhängigen Journalisten.
Als ich neulich auf einer Straße in Kairo meine Zeitung durchblätterte, gab
mir ein alter Mann mit Schnurrbart, der sich gerade eine Zigarette
ansteckte, den weisen Ratschlag: „Lesen Sie nur die letzte Seite, nur da
steht die Wahrheit.“ Auf der letzten Seite stehen die Todesanzeigen.
Aus dem Französischen von Jakob Farah
10 Dec 2015
## AUTOREN
Aziz el Massassi
## TAGS
Ägypten
Schwerpunkt Pressefreiheit
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