# taz.de -- Prozess gegen ukrainischen Regisseur: Dreiminütige Rede aus dem K�… | |
> Dem inhaftierten ukrainischen Filmemacher Oleg Sentsov droht ein | |
> Schauprozess in Moskau. Der internationale Protest dagegen wächst. | |
Bild: Wurde im Mai 2014 vom russischen Inlandsgeheimdienst FSB in seinem Haus a… | |
„Ich kenne Oleg nicht persönlich“, sagte Wim Wenders vor wenigen Tagen in | |
der Berliner Brotfabrik bei einer Solidaritätsveranstaltung der | |
Europäischen Filmakademie (EFA), „aber ich habe seinen Film gesehen. Ein | |
Film, aus Nichts mit Nichts gemacht. Schon allein deshalb kann man den nur | |
gut finden.“ | |
Der Film: „Gaamer“, die halbdokumentarische Coming-of-Age-Geschichte des | |
jungen Ukrainers Alex, der sein Leben vor dem Computerbildschirm verbringt | |
und „Quake“ spielt. Der Regisseur: Oleg Sentsov, geboren in Simferopol, | |
Wirtschaftsstudium in Kiew, Filmkurse in Moskau. Mit seinem | |
nachdenklich-phlegmatischen und autobiografisch inspirierten Regiedebüt, | |
das 2012 in Rotterdam Premiere hatte, fiel er im Pool der Nachwuchsfilmer | |
auf. | |
Die einschlägigen Ost-Mittel-Europa-Filmfestivals hatten ihn zu Gast, bei | |
goEast in Wiesbaden lief „Gaamer“ im Wettbewerb, Connecting Cottbus lud | |
Sentsov zu einem Pitching. Bereits sein zweites Projekt, „Rhino“, wurde | |
unter anderem vom Medienboard Berlin-Brandenburg gefördert, musste aber – | |
„komplett durchfinanziert und kurz vor Drehbeginn“, wie Ko-Produzent | |
Alexander Ris den etwa 60 Zuschauern in der Brotfabrik erzählte – auf Eis | |
gelegt werden. | |
Denn am 10. Mai 2014 wurde der 38 Jahre alte „Automaidan“-Aktivist in | |
seinem Haus auf der Krim festgenommen, vom russischen Inlandsgeheimdienst | |
FSB. Vorgeworfen wird ihm, Kopf einer terroristischen Gruppierung zu sein, | |
die während der „Tag-des-Sieges“-Feiern in Jalta, Simferopol und Sevastopol | |
Anschläge geplant haben solle. | |
## Misshandelt und gefoltert | |
Seither befindet sich Sentsov in Untersuchungshaft, mittlerweile in der | |
neuerdings für seinen Wohnort zuständigen Hauptstadt Moskau, im | |
berüchtigten Gefängnis Lefortovo. Die direkte Kontaktaufnahme, sagt sein | |
russischer Anwalt Dmitri Dinze (ehemals Pussy Riot-Verteidiger), sei | |
schwierig. Sentsov sei bedroht, körperlich misshandelt und gefoltert | |
worden. Sein bulgarischer Anwalt zog vor den Europäischen Gerichtshof für | |
Menschenrechte. | |
Am 7. Juli fand eine gerichtliche Anhörung statt, einzig der unabhängige | |
TV-Sender Doschd übertrug die knapp dreiminütige Rede Sentsovs aus dem | |
Gefängniskäfig. Er dementierte alle Anschuldigungen. Nie sei er Mitglied | |
einer extremistischen Gruppierung gewesen, den 9. Mai erachte er als | |
wichtigen Feiertag. Dennoch sei er gegen die russische Annexion der Krim: | |
„Ich bin kein Leibeigener und kann daher auch nicht gemeinsam mit Grund und | |
Boden von einem Eigentümer zu einem anderen übergeben werden.“ | |
Die russischen Medien hüllten sich, wie der FSB, zunächst in Schweigen. | |
Ende Mai berichtete NTV nicht ohne Häme, dass Sentsov nun „nicht mehr auf | |
dem roten Teppich, sondern im FSB-Kabinett posieren“ müsse, Anfang Juni | |
brachten Rossija 1 und Rossija 24 in der Sendung „Nachrichten der Woche“ | |
ein Dossier, das Sentsov zunächst diffamiert („er war Computerklubbesitzer, | |
drehte einen typischen Autorenfilm und begann sich von da an ,Regisseur‘ zu | |
nennen“), ihn aufgrund dieser Regiekenntnisse aber zum Chefdirigenten einer | |
rechtsradikalen Untergrundorganisation stempelt und noch vor Prozessbeginn | |
unter Berufung auf den FSB und die Nachrichtenagentur RIA Nowosti als | |
Mitglied des „Rechten Sektors“ entlarvt. | |
Dazwischen geschnitten sind Interviews mit zwei Mitangeklagten, deren | |
eigener Läuterungsprozess über die Anzeige Sentsovs läuft („er wies gern | |
Rollen zu“), sowie verwaschene Nachtsichtkamera-Bilder, die zeigen sollen, | |
wie die Angeklagten „auf frischer Tat“ ertappt wurden. Dass Sentsov dabei | |
gar nicht zu sehen ist, geht unter. | |
## Einschüchterungstaktik | |
Seit sein Fall nun immer mehr Staub aufwirbelt, können sich die russischen | |
Organe eine Einschüchterungstaktik nicht mehr leisten. Der ukrainische, in | |
Berlin lebende Regisseur Sergei Loznitsa, der mit dem Dokumentarfilm | |
„Maidan“ im Mai in Cannes Aufsehen erregte und die Pressekonferenz mit | |
einem Appell für seinen Kollegen einleitete, ist sogar überzeugt, dass die | |
vielen auf den politischen Häftling gerichteten Augen für die russische | |
Staatsmacht unangenehm sind. | |
„Hätten die FSB-Leute von Anfang an gewusst, wen sie sich da holen, hätten | |
sie vielleicht lieber die Finger davon gelassen. Mit jedem Tag, den er | |
sitzt, werden sein Renommee und ,Tauschwert‘ größer. Oleg ist zu einer | |
Figur in einem komplexen Schachspiel geworden. Das schützt ihn zurzeit vor | |
neuerlicher Gewalt.“ | |
Die Protestwelle gegen die Inhaftierung des Ukrainers hat mittlerweile | |
weite Kreise gezogen, und sie vereint viele Kritiker von Putins Politik, | |
auch solche mit russischem Pass. Gemeinsam mit ukrainischen | |
Kulturschaffenden rief die russische Filmszene zur Unterstützung Sentsovs | |
auf. Dass dabei neben als oppositionell bekannten Regisseuren wie etwa | |
Witali Manski auch großrussische Kaliber wie Sergei Michalkow für eine | |
Freilassung eingetreten sind und Filmkritikerinnen als Mitglieder der | |
Öffentlichen Beobachtungskommission über Facebook laufend berichten, mag | |
Hoffnung stiften in einem Fall, der ansonsten nur ein weiteres Indiz der | |
allgemeinen Ohnmacht vor einem Regime ist, das tut, was es will. | |
## Briefe an Putin und den FSB-Chef | |
Die EFA schrieb – unterzeichnet von Wim Wenders, Volker Schlöndorff, Pedro | |
Almodóvar, Bela Tarr, Agnieszka Holland, Mike Leigh, Ken Loach und co. – | |
Briefe an Putin (keine Antwort), den FSB-Chef und die | |
Oberstaatsanwaltschaft („Beweise für Verbrechen terroristischer Natur“), | |
das Russische Kulturministerium („nicht zuständig“) und Steinmeier (bisher | |
keine Antwort). Sie richtete einen Fond für die Familie und zur Deckung der | |
Anwaltskosten ein. Beim Festival in San Sebastián bleibt ein Jury-Sitz | |
leer. | |
Doch ist Sentsov längst eine Staatsangelegenheit geworden, vor wenigen | |
Tagen forderte der ukrainische Präsident Poroschenko die Freilassung, | |
Russland lehnt es jedoch ab, den Regisseur auf eine Liste für den Austausch | |
Kriegsgefangener zu setzen. Uneinigkeit herrscht darüber, wie der Prozess | |
verlaufen wird, der am 11. Oktober 2014 beginnt. Viele Beobachter | |
befürchten einen veritablen Schauprozess à la Chodorkowski und Pussy Riot. | |
Zwanzig Jahre Haft drohen. Doch gibt es die – fast zynische – Hoffnung, | |
dass Sentsov vom Gamer zum Joker werden könnte. Sein Tauschwert ist hoch. | |
18 Sep 2014 | |
## AUTOREN | |
Barbara Wurm | |
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