# taz.de -- Gender-Theater in Hannover: Held*in des Amalgamierens | |
> Alle starren Kategorisierungen im Geschlechterspiel mit Leichtigkeit | |
> unterlaufen: Corinna Harfouch gibt eine*n liebevoll-sarkastischen | |
> „Orlando“. | |
Bild: Spielerisch voll in der Erzählung – und ihr spottselig überlegen: Cor… | |
Hannover taz | Orlando steht im Zentrum der Debatten um biologisches, | |
soziales und empfundenes Geschlecht, wirft bekannte Rollenmodelle über den | |
Haufen, will das menschengemachte Konzept von Mann und Frau, hetero und | |
homo neu verhandeln. Heute werden sexuelle Ausrichtungen kunterbunt | |
ausdifferenziert, ihre Grenzen verwischt, sodass auch die Regenbogenflagge | |
der LGBTI*-Bewegten nicht mehr zeitgemäß wirkt, da sie die Farben der | |
Vielfalt allzu strikt trennt. Orlando ist dagegen ein Held des | |
Amalgamierens. 1928 von Virginia Woolf als Abenteurer erdacht, | |
[1][antizipiert er den heute diskutierten fluiden Gender-Charakter]. | |
Darauf stürzen sich [2][Corinna Harfouch] und [3][Oscar Olivio] mit großer | |
Spielfreude am [4][Schauspiel Hannover]. Beide erscheinen ohne androgyne | |
Attitüde geradezu spiegelbildlich in gleicher Maske und angedeutet | |
historisierenden Kostümen. So könnten sie sich kreuz und quer durch die | |
karikierten Geschlechterklischees der Entwicklungsgeschichte fabulieren, | |
die in England des 16. Jahrhunderts startet, in Konstantinopel Playboy-wüst | |
herumtobt und erst in den 1920er-Jahren zur Ruhe kommt. | |
Das Darstellerduo könnte ständig die Rollen wechseln und so Werte des | |
Männlichen und Weiblichen verdeutlichen. Wobei solche Zuschreibungen schon | |
bei Woolf gesellschaftlichen Vorgaben folgen, nicht essenziell sind oder | |
gar ontologisch begründet. Einmal legt Olivio auch die Hände auf die | |
Schultern der Partnerin wie zur Übertragung der Identitätsdaten der gerade | |
gespielten Figur. Andersherum passiert dies nicht. | |
## Star-Theater | |
Schnell wird klar: „Orlando“ in Hannover ist Star-Theater. Harfouch stemmt | |
den Text fast allein, Olivio bleibt meist nur die Rolle des Sidekicks, um | |
Liebhaber, Liebhaberinnen oder Fantasievögel als Stichwortgeber und | |
Anspielpartner zu geben. Als Diener seiner Herrin übernimmt er zudem | |
Bühnenumbauarbeiten, sorgt für Lichtwechsel, schmeißt auch Nebel- und | |
Windmaschinen an. | |
Mehr ist an [5][Lily Sykes]' Regie nicht zu kritisieren. Sie verlässt sich | |
auf Harfouch – und die agiert beeindruckend souverän, alle starren | |
Kategorisierungen im Geschlechterspiel mit freiheitsdurstiger Leichtigkeit | |
zu unterlaufen. Ruckartig sind ihre Bewegungen noch zu Beginn, überbetont | |
all ihre Gesten. Orlando startet als Marionette, noch fremdbestimmt von | |
gesellschaftlichen Konventionen. Elizabeth I. liebt diesen knabenhaften | |
Vorzeige-Edelmann, der allerdings in eine schlittschuhlaufende russische | |
Prinzessin verliebt ist. | |
Für Orlandos folgende Reise durch die Kulturgeschichte Europas werden | |
Harfouchs Bewegungen weicher, eleganter, viriler. Wie selbstverständlich | |
integriert sie auch das plötzliche Erwachen als Frau. Denn Orlando erfährt | |
sich nur äußerlich neu designt, innerlich als dieselbe Person. Auf der | |
Bühne versinnbildlichen Harfouch und Olivio das, indem sie in einem | |
riesigen Reifrockskelett stecken, ihn wegschleudern und sich küssen. | |
Übermütig. Ein Akt der Befreiung. | |
Aber Orlando wird nicht weise, eher älter und kälter – und sagt: „Ich bin | |
erwachsen. Ich verliere alle meine Illusionen, um neue zu gewinnen.“ | |
Selbstbewusst ist die Haltung. Aber einsam die Situation: „Ich bin allein.“ | |
Das ist Orlandos erster Satz als Mann und auch sein letzter als Frau – | |
angekommen, in der Zukunft, zu früh zu modern dahingegossen in Gender | |
Fluidity. Den steten Wechsel von männlichen, weiblichen und | |
geschlechtsneutralen Empfindungen in einem Körper als neutralen Raum | |
feiernd. | |
## Sarkastisch zugespitzt | |
Das alles ist so liebe- wie humorvoll entwickelt und immer wieder | |
erfrischend sarkastisch zugespitzt, dass Zuschauer jedweder | |
Gender-Vorbildung an den Diskurs andocken können. In einem Interview mit | |
der Deutschen Presse-Agentur erklärt Harfouch ihre Rollengestaltung als | |
Sinnbild der Inszenierung: „Jeder hat einen Mann und eine Frau in sich. Das | |
bezieht sich nicht auf das primär Geschlechtliche, sondern auf Denkweisen | |
und Verhaltensmuster, je nachdem, wie man aufgewachsen ist und was einem | |
beigebracht wurde. Ich durfte öfter schon einen Mann spielen und dieses | |
Männliche hervorholen, sodass ich es spürte und erlebte … Wenn die Welt | |
mehr spielen und das Spielen als eine ernste Sache begreifen würde, dann | |
wüsste das jeder.“ | |
Für Freunde der Sprechkunst ist der Abend ein Genuss. Harfouch nimmt den | |
ironischen, ja süffisanten Tonfall der märchenhaften Pseudo-Biografie auf, | |
ist spielerisch in die Erzählung verwoben und ihr spottselig überlegen. | |
Wobei der Formulierungszauber und das Gedankenfunkeln des | |
magisch-poetischen Realismus der Autorin ganz in der Sprache bleiben. Sykes | |
bringt sie zur Wirkung, nicht die Theatermaschinerie. | |
Irritierend nur der Programmheftbeitrag von Intendantin und Dramaturgin. | |
Obwohl Orlando ja gerade nicht aus all den disparaten Gender-Potenzialen | |
etwas Einheitliches machen, sondern das Changierende leben will, | |
manifestiert Anders die Gegensätze und behauptet, es gebe männliches versus | |
weibliches Schreiben und Woolf stehe für die feminine Position. Was das | |
bedeutet? | |
Die Unmöglichkeit der Beschreibung von Welt und Wahrnehmung definiere den | |
weiblichen Stil, „der durch reflexive Momente, fantastische Bilder, | |
unkonventionelle Brüche geprägt ist“, von „Vielschichtigkeit, | |
Zersplitterung, Überraschung und Überlagerung“. Muss Schreiben derart als | |
weiblich definiert werden, obwohl es genügend männliche Autoren gibt, auf | |
deren Literatur diese Zuschreibungen ebenfalls passen? Obwohl die | |
„Orlando“-Performance über solches Verstehen-, Erklären-, Einordnenwollen | |
in Gendertermini längst hinaus ist? Ein Rätsel? | |
Die Inszenierung immerhin ist eindeutig der erste Triumph fürs neu | |
aufgestellte Schauspiel Hannover. | |
3 Nov 2019 | |
## LINKS | |
[1] /!5512274/ | |
[2] https://www.defa-stiftung.de/defa/kuenstlerin/corinna-harfouch/ | |
[3] https://gorki.de/de/ensemble/oscar-olivo | |
[4] https://www.staatstheater-hannover.de/ | |
[5] https://staatstheater-hannover.de/de_DE/ensemble-schauspiel/lily.sykes.1689… | |
## AUTOREN | |
Jens Fischer | |
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