# taz.de -- „Orlando“ von Olga Neuwirth in Wien: Eine Klangvermessung der W… | |
> Olga Neuwirths „Orlando“ hat in Wien Premiere gefeiert. Das Werk der | |
> Komponistin überzeugt zwar in der Musik, nicht aber in den Bildern. | |
Bild: Drei aus dem großen Ensemble von „Orlando“ in Wien | |
Heutzutage sind neue Opern mitunter recht kurz. Die jüngste von Olga | |
Neuwirth in Wien ist mit ihren dreieinviertel Stunden gefühlt hingegen | |
mindestens eine halbe Stunde zu lang. Zwar ist man bis zur Pause geradezu | |
begeistert, danach aber, wenn sich im Video der Zeitkreisel dreht und immer | |
noch ein weiteres der gerade aktuellen Themen zur Sprache beziehungsweise | |
zu Bildern und Klängen kommt, zieht sich der Abend. | |
Die [1][österreichische Komponistin] nennt ihr Werk weder Oper noch | |
Musiktheater, sondern treffend „eine fiktive musikalische Biografie in 19 | |
Bildern“. Gemessen werden wird das Resultat freilich an dem, was die | |
Zuschauer, die normalerweise das Haus am Ring füllen, unter Oper verstehen. | |
Dabei sind es keineswegs Einwände gegen die Musik, die hier die Prognose | |
trüben. Die ist originell, an- und im besten Sinne aufregend. Zumindest | |
über weite Strecke und in ihrer Anlage. Hier hört man so etwas wie ein | |
Grundrauschen, ja eine Klangvermessung der Welt. Wie sie war und wie sie | |
ist – so komplex zerfleddert in Einzelinformationen, dass sich nur | |
gelegentlich Wiedererkennbares formt. | |
## Auch Trumpanhänger treten auf | |
Hier wird das Staunen über die Natur (alles beginnt mit Vogelgezwitscher) | |
zur Musik, ebenso wie Schönheit (in melodischen Abschnitten) oder die pure | |
Zerstörungswut, wenn einer mit einem Schläger auf einen Sandsack drischt. | |
Barocke Koloraturen scheinen auf, eskalierende Orchestertutti explodieren | |
wie Granaten auf den Schlachtfeldern von einst und jetzt. Es formiert sich | |
skandierender Widerstand der emanzipierenden (mit Rufen nach Freiheit und | |
Gleichberechtigung) und solcher der reaktionär populistischen Art, wenn | |
„Wir zuerst“ von einer Versammlung wie von Trump-Anhängern gerufen wird. | |
Dazu und dazwischen wird immer wieder viel gesprochen. Alles – wohl mit | |
Blick auf Vermarktungschancen – in Englisch. Anna Clementi stemmt diese | |
Aufgabe als Narrator. Immer wieder greift Neuwirth auf Bewährtes ihrer | |
Vorgänger zurück, lässt es durch ihre Finger rinnen und macht Eigenes | |
daraus. Das ist faszinierend und funktioniert mit Chorsätzen genauso wie | |
mit Kirchenliedern, „O Tannenbaum“, Jazz, Punk oder den Songs von Justin | |
Vivian Bond, die als Orlandos Kind und als sie selbst eine emanzipierte | |
Stellung zwischen den Geschlechtern einfordert. | |
## Männlicher Blick aus einem weiblichen Körper | |
Diese auf schräge Klänge und schrille Optik setzende musikalische Biografie | |
gilt Virginia Woolfs „Orlando“ – ein Wunschthema der Komponistin. Orlando | |
ist ein junger dichtender Edelmann, auf den Elisabeth I. ein Auge geworfen | |
hat. Irgendwann erwacht er aus geheimnisvollem Schlaf als Frau und nimmt | |
von nun an die Welt mit einem männlichen Blick aus einem weiblichen Körper | |
wahr. Und erfährt dabei all jene Geringschätzung, die eine patriarchalisch | |
geprägte Welt gegenüber Frauen an den Tag legt. | |
Bei Woolf endet Orlandos Zeitreise im Erscheinungsjahr ihres Romans 1928. | |
Bei Olga Neuwirth und ihrer Co-Librettistin Catherine Filloux geht sie bis | |
(ausdrücklich) zum Tag der Uraufführung und darüber hinaus. | |
Die heikelste Zwischenstation der Zeitreise gelingt eindrucksvoll. Zur | |
Einspielung eines Violinsolos von [2][Gustav Mahlers in Auschwitz | |
ermordeter Nichte Alma Rosé] werden mehr und mehr Namen ermordeter | |
Auschwitzopfer eingeblendet. Das sitzt. Der Atombombenpilz zu | |
infernalischem Orchesterlärm greift dann aber plakativ zu kurz. Der | |
Schnelldurchlauf der Nachkriegsjahrzehnte mit Bildern aus dem kollektiven | |
Gedächtnis auch. | |
## Die Kostüme von Comme des Garçons haben viele Fans | |
Eigentlich passiert in der Regie von Polly Graham und auf der Bühne nicht | |
viel. Roy Spahn hält ein halbes Dutzend mobiler Riesenprojektionswände | |
bereit, die mit atmosphärischen Videos von Will Duke bespielt werden. Dazu | |
kommen die Kostüme und Masken, für deren dominierende Opulenz das | |
japanische [3][Modelabel Comme des Garçons] steht. Viele von dessen Fans | |
erweiterten die Show bis in den Zuschauerraum. So gestylt wie diesmal ist | |
das Wiener Premierenpublikum sonst jedenfalls nicht. | |
Die zeitliche Verlängerung ins Heute und Morgen wird aber zum Problem. Da | |
bestimmt das Design nicht mal das Bewusstsein, sondern gerade noch den | |
Schein. So wie hier die Probleme der Zeit gerafft, bebildert und mit der | |
Wut eines Kindes, das seinen Willen nicht erfüllt bekommt, angegangen | |
werden, ist das allzu simpel. | |
Olga Neuwirth stellt sich eindeutig gegen rechten Populismus, der mit | |
seinen „Wir zuerst“-Losungen vereinfacht auf die komplexe Herausforderungen | |
der Gegenwart reagiert. Sie setzt dem aber genauso plakative Losungen | |
entgegen. Durch diesen dialektischen Kurzschluss verpufft ein Teil ihres | |
Anliegens, ja wird zum Ärgernis. Die Nummernrevue kommt jedenfalls nicht an | |
die musikalische Substanz heran. | |
Die Anwälte der Musik Neuwirths sind da wesentlich überzeugender – vor | |
allem ihr Kollege Matthias Pintscher am Pult des Orchesters der Staatsoper | |
vermag sich in die Architektur einzufinden, einen Baustein zum anderen zu | |
fügen, ohne dass da was einstürzt oder unsauber klingen würde. Kate Lindsey | |
laviert als Orlando überzeugend zwischen den Geschlechtern und durch die | |
Zeiten. Sie sei stellvertretend für ein überzeugendes Riesenensemble | |
genannt. | |
10 Dec 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Archiv-Suche/!1086704&s=Olga+Neuwirth&SuchRahmen=Print/ | |
[2] https://www.derstandard.de/story/2000096429976/alma-rose-die-dirigentin-von… | |
[3] /Ausstellung-in-New-York/!5430350 | |
## AUTOREN | |
Joachim Lange | |
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