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# taz.de -- Queeres Rock-Musiktheater: Die doppelte Hedwig
> In Hannover und Schwerin kommt „Hedwig and the Angry Inch“ auf die Bühne.
> Erfreulicherweise mit Interesse an jeweils Unterschiedlichem.
Bild: Das ganze Leben ist eine Diskokugel? Lili Alexander als Hedwig am Mecklen…
Hedwig! Kraftkerlig wird der Star des Abends angekündigt und aus der
Unterbühne hochgefahren: Sie schüttelt ihre Blondhaar-Perücke, entfaltet
das glimmernde Flügelkleid an den Armen und den passend dazu kunterbunten
Oberkörper, später werden Perlenketten auf dem entblößten Brusthaar tanzen.
Hier präsentiert sich jemand nicht klischeegrau an einem der zwei
Eckpfosten der Geschlechterskala, nein: Dieser Mensch funkelt, glänzt,
strahlt glamourös irgendwo dazwischen – oder gleich ganz drumherum.
Gleich auf zwei Bühnen im Norden ist [1][das Musical „Hedwig and the Angry
Inch“ von John Cameron Mitchell] dieser Tage noch zu sehen. [2][In Hannover
spielt der auch dort aufgewachsene Mohamed Achour die Hauptrolle]. Er
startet als extravagante Rock-’n’-Roll-Drag-Queen, gockelt wie Mick Jagger
eine klassisch offensive Macker-Rocknummer, tänzelt auch im
Glamrock-Bowie-Stil und rotzt wie Johnny Rotten.
Sein herzlich genervter Sidekick Yitzhak ([3][Katherina Sattler]) mag sich
eher an Iggy Pop orientieren, das breitbeinige Bewegungsrepertoire dabei so
dezent überbetont, dass es eine Freude ist. Sattler singt aber mit ebenso
rocktimbrierter Intensität wie Achour.
Wo wir bei der Musik sind: [4][Dem Quartett um Peter Thiessen (Blumfeld,
Kante)] und [5][Peta Devlin] gelingt im Hintergrund etwas für Theaterbühnen
nicht Selbstverständliches. Es rockt tatsächlich, hat einen vorbildlich
druckvollen, rauen und dabei doch transparenten Sound, ob bei Country,
Punkigem, balladeskem Popkitsch oder Stadionpathosmucke.
[6][Friederike Heller inszeniert einen Mix aus Rockkonzert und
Stand-up-Comedy]. In den An- und Abmoderationen der Songs – von Stephen
Trask – schnodderschnauzt Hedwig ihre Geschichte vom zarten Hänsel aus
Ostberlin. Den nötigen ein GI wie auch eine lieblose Mutter zur
Geschlechtsumwandlung, sodass sie als Frau des Besatzungssoldaten in die
USA emigrieren darf.
Die OP geht schief, aus dem vormals sechs Zoll – Englisch: inch – langen
Penis wird keine Vagina, stattdessen das Stück Restmännlichkeitsmerkmal,
das dem Stück auch den halben Titel stiftet
Fortan sucht Hedwig ihren Platz zwischen sämtlichen Stühlen des
Genderdiskurses und schlägt sich durch mit dieser Personality-Show, die auf
dem Verruchtheitsniveau von „Kein Schwanz ist so hart wie das Leben“
angesiedelt ist und mit eigens eingebauten Hannover-Anekdoten Punkte
sammelt in Sachen Lokalpatriotismus.
Deutlich erspielt sich Achour auch Hedwigs Wut und Schmerz angesichts des
durch alle Bühnenbildöffnungen hereindröhnenden Parallelkonzerts eines
Ex-Liebhabers: Der hat ihre Kompositionen gestohlen und es damit zum
Superstar gebracht. Ob Hedwig trans- oder intersexuell oder genderqueer
ist, bleibt unbestimmt und ist auch nicht so wichtig in Hannover.
[7][Den Gegenentwurf dazu inszeniert Thomas Helmut Heep in Schwerin]: Dort
erklingen die Lieder in breiigem Stadtfest-Coverband-Sound.
[8][Hauptdarsteller*in Lili Alexander verkörpert nicht Hedwig, vielmehr
sich selbst]: Geboren als biologischer Mann, outete sie sich zunächst als
bisexuell, später als schwul und entwirft heute eine Trans*-Identität nach
dem Motto: „Das ganze Leben ist eine Diskokugel.“
So sehr Alexander die Grenzen zwischen Mann und Frau einreißen will, steht
sie in Bewegung und Kostümierung nicht nur für non-binäre
Allmenschlichkeit, sondern zeigt in schwarzen Textilfetzen und kniehohen
Lackstiefeln vor allem ihre feminine Seite. Dabei reproduziert sie durchaus
auch Frauen-Fantasien aus Männerköpfen. Die Performerin lädt ein, ihr zwei
Stunden „beim Labern“ über Selbstentdeckung, -erfindung und -definition
zuzuschauen. Der ihr freundlich zugewandte Sidekick, [9][Mezzosopranistin
Itziar Lesaka aus dem Opernensemble], kommt kaum zu Wort (kann aber viel
besser singen).
Das ist einer der Nachteile der Besetzung: Der Gesang der Schweriner
Protagonist*in ist im Vergleich zu den Hannoveraner Kolleg:innen eher
eine Karaoke-Version, es fehlen die Shouter-Qualitäten. Zudem stellt sie
zwar Bezüge her zur „wilden Energie“ der Hedwig-Biografie, kann die
dramatischen Situationen als Laiendarsteller*in aber nicht ganz
erspielen.
## Ganz eigene Genderdebatte
Es überwiegt allerdings der Vorteil – die Authentizität. Hier geben keine
Cis-Mimen hochprofessionell ein Rockmusical mit Trans-Thema, sondern ein*e
Betroffene moderiert ihre höchst eigene Genderdebatte. Und zeigt sich
gerührt, wenn die eigene Oma zitiert wird: „Du bist ok so wie du bist.“
Damit ist die Performance mitten in aktuellen, viral gegangenen
Identitäts-Diskussionen angekommen: Ärztevertreter berichten von immer mehr
Menschen, die sich aufgrund einer sogenannten Geschlechtsdysphorie beraten
lassen und in Therapie begeben, um eine Geschlechtsangleichung vornehmen zu
lassen.
Die Deutsche Gesellschaft für Transidentät und Intersexualität vermutet,
dass ungefähr 0,6 Prozent der Deutschen trans* sind. Mehr als verdreifacht
habe sich in den vergangenen fünf Jahren die Zahl der von dem Verein
ausgegeben Ergänzungsausweise; darin ist die geschlechtliche Verortung
dokumentiert. Auch seien die Verfahren nach dem Transsexuellengesetz an
deutschen Amtsgerichten deutlich gestiegen.
Freude über neue Freiheiten betont Lili Alexander: Ob Operation,
Hormonbehandlung, neuer Bekleidungsstil oder auch nur ein anderes Pronomen
– „Alle sind trans*“ lautet ihre umarmende Definition. In
Videoeinblendungen stellen sich aber auch Vertreter*innen des Vereins
[10][Trans*- und Inter*-Menschen in Mecklenburg (TIM*)] vor, berichten von
Diskriminierung im Alltag und im Beruf, weswegen viele nur „Überlebensjobs“
nachgehen könnten.
Gesprochen wird auch über demütigende Befragungen, um den gewünschten
Status bestätigt zu bekommen. Viele trans* Menschen blieben aus Scham
unsichtbar, heißt es. Alexander selbst erzählt von Angst vor Übergriffen
und singt ein Loblied auf die schützende Community. Nach jeder Aufführung
sind TIM*-Mitglieder vor Ort und leiten das Nachgespräch.
Die Realität von trans* Menschen kennenzulernen, das ermöglicht mit großem
Ernst die Inszenierung in Schwerin. Dort ist das Publikum gerührt, in
Hannover dagegen eher geflasht von all der performativen Energie.
30 Apr 2022
## LINKS
[1] https://www.theatertexte.de/nav/2/werk?verlag_id=felix_bloch_erben&wid=…
[2] https://staatstheater-hannover.de/de_DE/ensemble-schauspiel/mohamed-achour.…
[3] https://staatstheater-hannover.de/en_en/ensemble-schauspiel/katherina-sattl…
[4] https://staatstheater-hannover.de/de_DE/ensemble-schauspiel/peter-thiessen.…
[5] /Hamburger-Musikerin-Peta-Devlin/!5045615
[6] https://staatstheater-hannover.de/de_DE/ensemble-schauspiel/friederike-hell…
[7] http://www.mecklenburgisches-staatstheater.de/programm/hedwig-and-the-angry…
[8] https://www.mecklenburgisches-staatstheater.de/mensch/alexander-lili.html
[9] https://www.mecklenburgisches-staatstheater.de/mensch/itziar-lesaka.html
[10] https://www.tim-mecklenburg.de/
## AUTOREN
Jens Fischer
## TAGS
Queer
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
Schauspiel Hannover
Schwerin
Hannover
Trans-Community
Trans
Podcast „Couchreport“
Schauspiel Hannover
Schwerpunkt LGBTQIA
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