| # taz.de -- Ruhrtriennale in Dinslaken: Staub schmecken | |
| > Johan Simons eröffnet die Ruhrtriennale mit „Accattone“ an einem | |
| > großartigen Ort: In der Kohlenmischhalle der Zeche Lohberg/Dinslaken. | |
| Bild: Szene aus „Accattone“. | |
| Auf eines können sich alle KritikerInnen der Eröffnungsinszenierung des | |
| neuen Ruhrtriennale-Intendanten Johan Simons einigen: Der Ort, an den der | |
| Niederländer das Publikum seiner „Accattone“-Inszenierung – nach dem | |
| gleichnamigen Film des italienischen Regisseurs Pier Paolo Pasolini von | |
| 1961 – entführt, ist Offenbarung und bewegende Erfahrung zugleich. | |
| Die Kohlenmischhalle der ehemaligen Zeche im Dinslakener Vorort Lohberg ist | |
| eine Kathedrale unter den Industrieruinen des Ruhrgebietsbergbaus. Ein | |
| Wellblechdach, das in 35 Meter Höhe emporwächst, der Boden ein 200 mal 63 | |
| Meter messendes Schotter- und Staubbett. Diesen Staub wird das Publikum in | |
| den vorderen Reihen im Laufe des Abends zu schmecken bekommen. | |
| Da die Halle an einer der Längsseite offen ist, beginnt von dort die Natur | |
| an die Ruine heran- und hineinzuwachsen. Dorthin blickt das Publikum auch | |
| von steil ansteigenden Zuschauertribünen, nachdem es die gesamte Halle | |
| durchmessen hat. Man wird in den folgenden zweieinhalb Stunden das | |
| Sonnenlicht verschwinden und eine erstmals kühlere Nacht aufziehen sehen | |
| und spüren. | |
| ## Trägheit und Entschleunigung | |
| Man wird die SchauspielerInnen am Horizont auftauchen und wieder | |
| verschwinden sehen, mal in Gruppen, mal allein und verlassen. Die Zeit | |
| zerdehnt sich, wenn man diese Auf- und Abgänge und Ausfallbewegungen zu den | |
| Seiten hin die gesamten 200 Meter lang beobachtet. Und es entsteht ein | |
| Entschleunigungseffekt, auf den man sich erst einmal einlassen muss. | |
| Die Aufführung trägt durch eine gewisse Handlungsträgheit und Schwere des | |
| Themas mit zu dieser Entschleunigung bei. Pasolini (1922–1975) setzte mit | |
| seinem ersten Film dem Lumpenproletariat an den Peripherien Roms ein | |
| Denkmal, den Deklassierten des Systems, den Huren, Zuhältern, Tagedieben, | |
| Arbeitslosen und Arbeitsverweigerern. Im Vorfeld hatte Simons darauf | |
| hingewiesen, dass er wie Pasolini auch am revolutionären Potenzial dieses | |
| Subproletariats interessiert sei. Das führt allerdings in die Irre, wenn | |
| man nun die Inszenierung sieht. | |
| Pasolinis Film fällt in eine Zeit, in der er eben dieses revolutionäre | |
| Potenzial schon schwinden sieht, aufgesogen von einem Konsum- und | |
| Mediensystem, das den Menschen nichts als Verblödung bringt und jedem | |
| subversiven Potenzial den Stachel zieht. | |
| Der Film, und auch die theatral-musikalische Inszenierung Simons’ | |
| beobachten daher eher mit dem Untergang des Antihelden Accattone auch den | |
| Niedergang des Lumpenproletariats, die zunehmende Unmöglichkeit einer | |
| lebensfähigen Existenz ohne Arbeit. Kein revolutionäres Potenzial hier weit | |
| und breit, dafür nacktes Überleben, Gewalt, Einsamkeit, Verlorenheit, Tod. | |
| ## Erlösender Kontrapunkt | |
| Einen erhaben erlösenden Kontrapunkt setzt bei Simons zwar das weltberühmte | |
| Collegium Vocale Gent unter der Leitung Philippe Herreweghes, das mit | |
| Chorälen und Arien aus verschiedenen Bachkantaten eine tragende und | |
| eigenständige, dissonante Rolle im Verhältnis zum Geschehen spielt. Und | |
| auch das eher körper- denn sprachbetonte Tanztheater in Zeitlupe, das sich | |
| im Bühnenvordergrund entfaltet, während einzelne SchauspielerInnen den | |
| Fortgang der Geschichte erzählen, nimmt dem Stück ein wenig von seiner | |
| deprimierenden Schwere. | |
| Doch stellt sich hier die Frage, ob ein Stück wie „Accattone“ wirklich als | |
| Brückenschlag in die sozial prekäre Realität eines Stadtteils wie Lohberg | |
| gelingen kann. Wird man sich als Mensch, für den – wenn überhaupt – | |
| demütigende und schlecht bezahlte Überlebensjobs Realität sind, von dem | |
| aussichtslosen Treiben der römischen Verweigerer und Untergeher inspiriert | |
| fühlen? So er sich in dieses Stück begibt. | |
| ## Keine Brücke in die Realität vor Ort | |
| Und auch eine anders gelagerte Frage, die sich schon im Vorfeld stellte, | |
| bleibt nach dieser Inszenierung bestehen: Wäre es nicht angemessener, hier | |
| einen Stoff zu inszenieren, der die migrantische Realität von Orten wie | |
| Lohberg in seine Gedanken über das gegenwärtige Subproletariat mit | |
| einbezieht? Wäre dies nicht auch angemessener angesichts der Tatsache, dass | |
| kaum eine deutsche Region so fundamental durch Migration geprägt ist wie | |
| das Ruhrgebiet? | |
| Wäre das schwierige Ziel Johan Simons’, Theater auch für Menschen zu | |
| machen, die sonst nicht ins Theater gehen, möglicherweise ein bisschen | |
| erreichbarer, wenn diese Gegenwart der Migration mit all ihren | |
| Komplikationen und auch extremistischen und rassistischen Auswüchsen zum | |
| Thema theatraler Auseinandersetzung gemacht würde? | |
| Mit seiner „Accattone“-Inszenierung in der Kohlenmischhalle von Lohberg hat | |
| Johan Simons eindrücklich vorgeführt, was für ein wunderbarer | |
| Möglichkeitsraum des Theatralen sich hier eröffnet. Man wünschte sich, dass | |
| die Lohberger selbst sich nun dieses Raumes bemächtigten. | |
| 19 Aug 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Eva Berger | |
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