| # taz.de -- Start der Ruhrtriennale in Dinslaken: Accatone – Lost in Lohberg | |
| > Johan Simons eröffnet die Ruhrtriennale am Freitag mit der Inszenierung | |
| > von „Accatone“, ausgerechnet im Dinslakener Problemstadtteil Lohberg. | |
| Bild: Johan Simons. | |
| Lohberg liegt am Rand vom Rand. Ein Stadtteil Dinslakens an der nördlichen | |
| Peripherie des Ruhrgebiets, ehemaliger Zechen-Standort mit 6.000 | |
| Einwohnern. Doch seit anderthalb Jahren gerät Lohberg immer wieder ins | |
| Zentrum des Nachrichtengeschehens, geistert als Salafistengespenst durch | |
| die Medien. Denn von hier aus machte sich 2013 eine Gruppe von rund 20 | |
| jungen Männern Richtung Syrien und Irak auf, um sich dem mordenden Feldzug | |
| des IS anzuschließen. | |
| Auch selbst verschuldet kommt das stark migrantisch geprägte Örtchen | |
| seither aus den Schlagzeilen nicht mehr heraus. Erst jüngst enthüllte der | |
| Journalist Ahmet Senyurt aktuelle Fotos, auf denen der Jugendwart der | |
| Ditib-Moschee in den Kellerräumen des Gotteshauses mit einem Jugendlichen | |
| posiert, der lachend den berüchtigten Salafistenfinger, also den erhobenen | |
| Zeigefinger, gen Himmel streckt. | |
| Ein erklärendes Statement hielten die Moschee-Verantwortlichen nicht für | |
| nötig, und erst der Druck des Ditib-Dachverbandes führte zum Rücktritt des | |
| kompletten Vorstands. Der Salafistenspuk ist noch nicht zu Ende. | |
| ## Ein staubiges Ungetüm | |
| Gegenwärtig tauchen wieder viele Kameras und Mikrofone in Lohberg auf. Doch | |
| ihr Interesse ist ein anderes. Denn erstmals ist die Zeche in den Reigen | |
| der Industrieruinenspielplätze der Ruhrtriennale aufgenommen worden. Das | |
| verdankt sie Johan Simons, dem neuen Intendanten der Ruhrtriennale. Vor | |
| zwei Jahren – das Salafisten-Problem war noch nicht an die Öffentlichkeit | |
| gedrungen – suchte der niederländische Theatermacher nach neuen Spielorten | |
| für das Festival. Und verliebte sich ausgerechnet in die Kohlenmischhalle | |
| von Lohberg. | |
| In dem 210 mal 65 Meter messenden, aus einer riesigen Dachkonstruktion | |
| bestehenden, staubigen Ungetüm wurden bis zur Schließung der Zeche 2005 | |
| Kohlen gemischt und gelagert. Heute ist die Halle Teil eines knapp 250 | |
| Hektar großen Zechenensembles, das unter Federführung der Ruhrkohle AG zum | |
| „Kreativ.Quartier.Lohberg“ weiterentwickelt wird. | |
| Künstler haben hier Ateliers mit Malocherflair bezogen und häkeln Poller | |
| zu. „Innovative“ Industrien sollen angesiedelt werden, und Lohberg zum | |
| ersten „CO2-neutralen Stadtquartier mit Modellcharakter“ aufsteigen. Dass | |
| die Kohlenhalle nun als Spielort des seit 2002 stattfindenden | |
| internationalen Kulturfestivals ausgewählt wurde, dürfte die Kreativ-Planer | |
| erfreuen. Zieht damit doch sechs Wochen lang die Hochkultur an den | |
| Niederrhein. | |
| ## Geboren aus der Arbeitsmigration | |
| Die Lohberger haben andere Sorgen. Sie tauchen in den Entwicklungsplänen | |
| ohnehin weniger als kreatives Potenzial denn als soziales Problem auf. | |
| Geboren aus der kohlenindustriellen Arbeitsmigration, handelt es sich um | |
| den wirtschaftlich, sozial und bildungsspezifisch prekärsten Stadtteil | |
| Dinslakens. Eine Situation, in der das Sozialarbeitswesen aufblüht und eine | |
| Fördermaßnahme die nächste jagt, ohne dass sich an den problematischen | |
| Eckwerten viel veränderte. | |
| Auch dem Kreativ-Gedöns-Treiben auf dem Zechengelände stehen die Lohberger | |
| eher befremdet gegenüber. Was schon an räumlichen Hürden greifbar wird: | |
| Eine viel befahrene Straße grenzt das Zechenareal und die gartenstädtische | |
| Wohnkolonie scharf voneinander ab, und bis jetzt verirren sich die | |
| Einwohner nur selten in den sogenannten Bergpark, der auf einem Teil des | |
| Zechenareals künstlich angelegt wurde. | |
| Auch die 4 Meter rote Hasenskulptur mit Ziegenbärtchen, die in den Hügeln | |
| thront – eine Arbeit des international bekannten Künstlers Thomas Schütte, | |
| die sichtbar auf einer Vorlage seiner Tochter beruht –, ist schon zum | |
| Running Gag im Viertel geworden. Das ist in Wahrheit der Teufel, raunt mir | |
| ein junger Mann am Marktplatz zu, verdreht die Augen und zieht lachend von | |
| dannen. | |
| Und nun landet in den Zechenruinen auch noch das Ruhrtriennale-Raumschiff | |
| mit Commander Simons. In der Kohlenmischhalle eröffnet das Festival am 14. | |
| August erstmals mit einer Festspielrede. Der Philosoph Byung-Chul Han wird | |
| sich über alternative Lebensmodelle jenseits des Arbeitsimperativs Gedanken | |
| machen, gefolgt von einer Podiumsdiskussion unter dem Titel „Die Zukunft | |
| den Arbeitslosen!“ | |
| ## Jede Anstrengung verweigert | |
| An dieses Motto wird Intendant Simons nahtlos anknüpfen, wenn er die | |
| Spielzeit mit der Uraufführung von „Accattone“ eröffnet, einer | |
| theatral-musikalischen Adaption des gleichnamigen Films von Pier Paolo | |
| Pasolini. | |
| Der hatte seine Geschichte Anfang der 1960er Jahre an den wüsten Rändern | |
| Roms angesiedelt, im Milieu des Subproletariats, unter Huren, Zuhältern, | |
| Arbeitslosen, Deklassierten. Titelheld Accattone verweigert sich stolz und | |
| trotzig jeder mit Anstrengung verbundenen Arbeit, und es ist diese | |
| Verweigerungshaltung gegenüber der Lohnarbeit als Wertmaßstab des | |
| Menschseins, worin laut Simons die Aktualität dieser Antipassionsgeschichte | |
| liege. | |
| ## Lohberg als pittoreske Schachtkulisse | |
| Es ist weniger das Stück selbst, das die kurze Protestnote provozierte, mit | |
| der sich der stellvertretende Bürgermeister Dinslakens, Eyüp Yildiz, in der | |
| Ruhrtriennale-Zeitung im Mai zu Wort meldete. Vielmehr befürchtet der | |
| SPD-Politiker, dass Lohberg zur pittoresken Schachtkulisse verkomme, „in | |
| der sich die Gesellschaft des Kulturspektakels für einen Sommer lang | |
| feiert, um dann weiterzuziehen“. | |
| Vor allem zweifelte er an der Glaubwürdigkeit des Mottos, unter das Simons | |
| die Triennale gestellt hat: Das „Seid umschlungen“ aus Schillers „Ode an | |
| die Freude“ soll als Umarmung und Einladung an alle, also gerade auch an | |
| kulturferne Bewohner des Ruhrgebiets, verstanden werden, sich auf die eher | |
| elitäre Kulturveranstaltung einzulassen. Auf diesen Öffnungsgestus | |
| reagierte Yildiz in seinem Zwischenruf skeptisch: „Kein Lohberger hat ihn | |
| seitdem zu Gesicht bekommen.“ | |
| Auch wenn das so pauschal nicht stimmt, zeigt doch Simons respektvolle | |
| Reaktion auf Yildiz’ Kritik, dass er sich in seiner grundsätzlichen Haltung | |
| als Künstler herausgefordert fühlt. Kaum ein Satz bestimmt das Ethos und | |
| Theaterschaffen des 68-Jährigen so sehr wie der, Theater für Menschen | |
| machen zu wollen, die sonst kaum ins Theater gehen. | |
| Aus einfachen Verhältnissen stammend, gründete er Anfang der 1980er Jahre | |
| das Theaterkollektiv Hollandia. Dessen Markenzeichen war es schon lange vor | |
| der Ruhrtriennale, aus den Beschränktheiten des Stadttheaters auszubrechen, | |
| um an ungewöhnlichen Orten zu inszenieren – in Scheunen und Fabriken, auf | |
| Schrottplätzen oder unter Brücken. | |
| ## Der Brückenschlag in die Wirklichkeit | |
| Der Erfolg, den Simons mit Hollandia bald schon feierte, ist jedoch | |
| janusköpfig. Am Ende ist es das Kulturbürgertum der Städte, das sich in den | |
| Inszenierungen tummelt, doch der Brückenschlag in die Wirklichkeit der | |
| Menschen an diesen Orten gelingt nicht wirklich. Ein Scheitern, an dem sich | |
| bis heute nichts geändert hat, wie Simons zugibt. Wird es da nicht zur | |
| leeren Geste, diesen Anspruch doch immer wieder zu formulieren? | |
| „Solange die Gesellschaft so ist, wie sie ist, kann man nicht von Erfolg | |
| sprechen. Da kann man nur von Scheitern sprechen. Aber deswegen einfach | |
| aufgeben, das werde ich nie tun. Ich werde immer wieder einen Versuch | |
| starten.“ Simons Interesse an der Realität der Menschen seiner Spielorte | |
| ist aufrichtig. | |
| Seit der Yildiz’schen Protestnote wurden die dialogischen Aktivitäten in | |
| Lohberg verstärkt. Letzten Samstag lud Simons die Bewohner auf den | |
| Lohberger Marktplatz zum Gespräch, einzelne Probentermine wurden für | |
| Interessierte geöffnet. Und mit dem Vizebürgermeister hat sich ein reger | |
| Austausch über Lohberger Wirklichkeiten entwickelt, zur Eröffnungsdebatte | |
| wird er auf dem Podium sitzen. | |
| ## Leben in der Leere | |
| „Yildiz hat mir über Lohberg etwas sehr Wichtiges vermittelt“, so Simons im | |
| Gespräch. „Wir – und da hat er ausdrücklich sich und mich mit einbezogen … | |
| haben es versäumt, die Menschen hier an die Hand zu nehmen und ins Zentrum | |
| zu ziehen. Das hat eine Leere hinterlassen, und da sind die Extremisten | |
| hineingesprungen.“ | |
| Die Menschen, die in dieser Leere lebten, die seien ein neues | |
| Subproletariat, ist Simons überzeugt. „Für Pasolini besitzt das | |
| Subproletariat revolutionäres Potenzial, und daran bin auch ich | |
| interessiert. Das möchte ich auf der Bühne zeigen, und ich würde mir | |
| wünschen, dass sich vielleicht auch die Lohberger davon berühren lassen.“ | |
| Ein Teil dieses Subproletariats sieht seine revolutionäre Bestimmung | |
| gegenwärtig allerdings eher darin, möglichst viele Menschen mit sich in den | |
| Tod zu sprengen. Sodass sich die Frage stellt, ob Simons’ Hoffnung hier | |
| analytisch nicht zu kurz greift. Man würde sich eine Auseinandersetzung mit | |
| der Lohberger Situation wünschen, die die Realität der Migration stärker | |
| einbezieht. | |
| Eyüp Yildiz ist davon überzeugt, dass sich in seiner Heimat gegenwärtig | |
| exemplarisch das Scheitern der deutschen Integrationspolitik der letzten | |
| Jahrzehnte beobachten lasse. Viele Migranten mit und ohne deutschen Pass | |
| habe das Gefühl nie wirklich verlassen, hier nicht angenommen zu sein. In | |
| der Konsequenz suchten viele Muslime längst ihr Heil in | |
| religiös-konservativen Identitätsangeboten à la Erdoğan, anstatt sich mit | |
| der deutschen Realität auseinanderzusetzen. Es ist dieses vorläufige | |
| Scheitern der Integration, das Dialogversuche wie die von Johan Simons | |
| schwierig gestalten dürfte. Aber er steht ja auch erst am Anfang seiner | |
| dreijährigen Intendanz. | |
| 13 Aug 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Eva Berger | |
| ## TAGS | |
| Ruhrtriennale | |
| Johan Simons | |
| Hamburg | |
| Tanz | |
| Ruhrtriennale | |
| Johan Simons | |
| Schauspiel | |
| Ruhrtriennale | |
| Tanz | |
| Ruhrtriennale | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Konzert in einer Hochhaussiedlung: Hörner über Hamburg | |
| Musiker:innen in 40 Metern Höhe, das Publikum auf einem Fußballfeld: | |
| Beim Konzert „Himmel über Hamburg“ ist vieles anders. | |
| Eröffnung der Ruhrtriennale: Ein rätselhafter Start | |
| An starken Bildern fehlt es nicht in der Oper „Alceste“ und dem Tanzstück | |
| „In Medias Res“ auf der Ruhrtriennale. Dennoch bleibt vieles im Vagen. | |
| Oper „Rheingold“ bei der Ruhrtriennale: Puppen für den geilen Alberich | |
| Johan Simons inszeniert Wagners „Rheingold“ bei der Ruhrtriennale. Der | |
| sichtbare Maschinenraum der Überwältigung ist das Orchester. | |
| Ruhrtriennale in Dinslaken: Staub schmecken | |
| Johan Simons eröffnet die Ruhrtriennale mit „Accattone“ an einem | |
| großartigen Ort: In der Kohlenmischhalle der Zeche Lohberg/Dinslaken. | |
| Entdeckung der Kammerspiele München: „Es muss wehtun“ | |
| Die Emotionen der Schauspieler in „Warum läuft Herr R. Amok?“ scheinen | |
| vereist. Susanne Kennedy macht radikales und aufregendes Theater. | |
| Tanztheater bei der Ruhrtriennale: Kinetische Unschärfen | |
| Aus einer Komposition Heiner Goebbels’ macht die Choreographin Mathilde | |
| Monnier in Duisburg ein Stück für Laien: „Surrogate Cities Ruhr“. | |
| Schlusspunkt Ruhrtriennale: Ein magisches Geflecht | |
| Die Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker lotete mit „Vortex Temporum“ | |
| auf der Ruhrtriennale in Bochum einen Seitenweg der Avantgarde aus. | |
| Ruhrtriennale: Stöbern im Märchenarsenal | |
| Die britische Performancegruppe Forced Entertainment und der libanesische | |
| Klangkünstler Tarek Atoui mit „The Last Adventures“ in Gladbeck. |