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# taz.de -- Konzert in einer Hochhaussiedlung: Hörner über Hamburg
> Musiker:innen in 40 Metern Höhe, das Publikum auf einem Fußballfeld:
> Beim Konzert „Himmel über Hamburg“ ist vieles anders.
Bild: Wie Scherenschnittfiguren: Musiker:innen auf den Dächern der „Lenzsied…
Hamburg taz | Am Ende winken sie mit Zahnstochern. Wie ein zerbrechliches
Hölzchen wirkt ja sogar ein eigentlich imposantes Ding wie ein Alphorn, ist
der Betrachter weit genug weg. Sagen wir: Er sitzt, auf ebener Erde, auf
einem Klappstuhl, und die erwähnten denkbar ortsuntypischen Instrumente
werden auf den Dächern einer Hamburger Großwohnsiedlung gespielt, in bis zu
40 Metern Höhe: „Himmel über Hamburg“ hatten die Verantwortlichen maximal
folgerichtig dieses Konzert der anderen Art überschrieben, den
„buchstäblich“ – O-Ton – „ersten Höhepunkt des [1][Hamburger
Kultursommers]“.
Bei dem wiederum handelt es sich nicht einfach um die laufende Jahreszeit,
in Marketingsprech gewandet, sondern um den Versuch, den coronagebeutelten
Kulturschaffenden in der Stadt aufzuhelfen; und das ausdrücklich dezentral,
also auch da, wo Kultur ansonsten rar ist in der Stadt mit Deutschlands
größtem Sprechtheater und dem teurer ausgefallenen Vorzeige-Konzerthaus.
Eben diese Elbphilharmonie war nun am Samstagabend eine der
verantwortlichen Institutionen hinter der Musik am so besonderen Ort;
daneben beteiligte sich an der Ausrichtung auch das Produktionszentrum
Kampnagel, und das sogar ganz konkret: Intendantin Amelie Deuflhard
höchstselbst soll an festgelegter Stelle in eine Vuvuzela getrötet haben –
so wie jene ganz normalen Anwohnenden, die dafür gewonnen wurden.
Neben diesem Gimmick trugen die musikalische Hauptlast des Abends freilich
die 33 Musiker:innen der [2][Dresdner Sinfoniker], eines personell
variierenden Projektorchesters unter der Leitung von Markus Rindt. Wenn
nicht gleich in schwindelnder Höhe, so doch immer noch im Freien und unter
akustisch herausfordernden Bedingungen. Schon am Vormittag waren kleine
Grüppchen in umliegenden Höfen, auf Plätzen oder auch vor U-Bahnstationen
aufgetreten, um zu werben für das Konzert am Abend. Mindestens einem
kleinen Jungen dürfte es eine bleibende Erinnerung beschert haben, selbst
reinpusten zu dürfen in so ein Alphorn, ungefähr viermal so lang, wie er
selbst groß war.
## Dröhnen schöner Götterfunken
Gegeben wurde abends dann ein einerseits niedrigschwelliges, andererseits
bemerkenswert sperriges Programm: Zur Eröffnung die schmissige
[3][1984er-Olympia-Fanfare] von John Williams, auch weniger
„Klassik“-Belesenen bekannt als Filmmusikkomponist von Blockbustern wie
„Star Wars“ oder „Jurassic Park“. Es folgten drei denkbar anders gearte…
Stücke Giovanni Gabrielis (1557–1612).
Diesem Star der venezianischen Renaissancemusik stellten die Dimensionen
des Markusdoms vor 400 Jahren Herausforderungen, nicht unähnlich denen beim
„Himmel über Hamburg“: Die teils immensen Abstände zwischen den
Musizierenden – sowie zwischen manchen Instrumenten und dem Publikum –
bedeuten, dass je nach Standort zeitlich deutlich versetzt zu spielen ist,
auf dass all diese Elemente unten auf dem Platz, auf dem bekanntlich das
Entscheidende passiert, zusammenfinden.
Hatte schon Williams’ Eröffnungsstück neben Hörnern, Tubas und Trompeten
ein Dà-Gû-Quartett erfordert, standen diese chinesischen Trommeln –
respektive die vier Trommler:innen – dann nochmal alleine im ausgehenden
Tageslicht: „Long Teng Hu Yue“ von Minxiong Li (1932–2009) war zwar kurz,
nahm aber die Zuhörenden sichtlich für sich ein.
Den Abschluss, aber eigentlich auch das Herz des Abends bildete dann die
eigens für den besonderen Rahmen bestellte Komposition „Himmel über …“ …
16 Alphörner, neun Trompeten, vier Tubas und, wiederum, das Dà-Gû-Quartett:
Das Stück operiert nun ganz ausdrücklich mit den Distanzen, Komponist
[4][Markus Lehmann-Horn], Jahrgang 1977, montiert Flächiges, teils auch
Dröhnendes mit allerlei Zitaten, darunter das historisch maximal belastete
Horst-Wessel-Lied, die US-Nationalhymne, oder Beethovens Vertonung der „Ode
an die Freude“, wenn man so will, die Schnittmenge aus finster mit Leben zu
erfüllendem deutschem Sehnen und dem Lob auf Frieden und Freiheit.
Das Publikum, sofern es für Sitzplätze bezahlt hatte, saß auf den erwähnten
Klappstühlen, aufgereiht auf einem Fußballplatz im Schatten der [5][hohen
Häuser], und beschallt wurde es einerseits von vorn – den Dächern, aber
auch einer ganz konventionellen Bühne; weitere kleine
Musiker:innengruppen waren aber auch hinter den Zuhörenden platziert,
in den Ecken des Spielfelds. Nur an die 500 Karten waren zu verkaufen
gewesen, coronabedingt. Davon waren 150 Tickets für Menschen in der
unmittelbaren Nachbarschaft reserviert.
Was zum einen dazu führte, dass da auch Menschen saßen, denen ein Besuch
der Elbphilharmonie fern liegen dürfte, und das weiß Gott nicht nur
räumlich – auch das eine Art, den „Kultursommer“-Anspruch einzulösen, z…
die Tickets nur fünf Euro kosteten. Vielleicht deswegen blieben von den
Plätzen auf dem Kunstrasenrechteck aber auch welche frei, über die ohnehin
aus Abstandsgründen nicht belegten hinaus.
Dann wiederum hörten dem Konzert gefühlt mindestens noch mal 500 Menschen
von jenseits der Zäune zu, standen auf der Straße oder lagerten auf
Picknickdecken. Wenig überraschend gab es Zuhörer:innen auch an den
geöffneten Fenstern des, nun ja, bespielten Wohnsilos, von
Orchesterintendant Rindt ganz ausdrücklich begrüßt.
Die Dresdner Sinfoniker haben sich zum Ziel gesetzt „klassische und Neue
Musik für viele anzubieten und so zu präsentieren, dass sie zum
unvergesslichen Erlebnis wird“. In solchem Geist haben sie auch schon
zusammen mit dem Pop-Duo Pet Shop Boys die gemeinsam erarbeitete
Neuvertonung von „Panzerkreuzer Potemkin“ aufgeführt; oder eine „Symphony
for Palestine“, mit palästinensischen und aserbaidschanischen Solist:innen,
im Westjordanland.
Der „Himmel über Hamburg“ nun war, nicht erst genau besehen, eine
Übernahme: Zuerst gespielt hatte das Orchester dasselbe Programm im
September vergangenen Jahres in einer Dresdener Plattenbausiedlung. Bei
jenem „Himmel über Prohlis“ waren es für einige der Beteiligten sogar noch
deutlich mehr Stockwerke Höhenunterschied. Und trotzdem: So ein Projekt sei
etwas Besonderes, sagten jetzt die Musiker:innen auf Nachfrage.
## Immenser Aufwand im Verborgenen
Der zum Gelingen notwendige technische Aufwand bleibt dem Publikum ja
idealerweise verborgen; es sei denn, es stimmt etwas nicht, irgendwo
entlang der insgesamt 1.000 Meter verlegter Kabel. Abgesehen von minimalen
technischen Schwierigkeiten ging nun aber alles gut, es wurden auch keine
Notenständer oder derlei vom Dach geweht – für die Sicherheit da oben
sorgte ein Dutzend bestens aufeinander eingespielt wirkender
Industriekletter:innen.
Neben allem Spektakel: Wie sehr war der Abend, was er sein sollte, ein
Zueinanderbringen von sonst wie selbstverständlich Getrenntem, im weiteren
Sinne Neuer Musik und den Menschen einer lange als Problem wahrgenommenen
Siedlung? Nun, es wurde öfter geklatscht, als es sich vermeintlich
richtigere Konzertgänger:innen erlauben. Unter denen wiederum kam es
vereinzelt zu regelrechter Empörung, als während Lehmann-Horns Stück
Eisverkäufer:innen die Reihen entlang kamen. Aber nur so funktioniert
wohl echte Begegnung: nicht als Einbahnstraße.
20 Jul 2021
## LINKS
[1] /Hamburg-will-Branche-aufhelfen/!5781316
[2] https://dresdner-sinfoniker.de/
[3] https://www.johnwilliams.org/compositions/concert/olympic-fanfare-and-theme
[4] https://www.markuslehmannhorn.de/
[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Lenzsiedlung
## AUTOREN
Alexander Diehl
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