# taz.de -- Schlusspunkt Ruhrtriennale: Ein magisches Geflecht | |
> Die Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker lotete mit „Vortex Temporum“ | |
> auf der Ruhrtriennale in Bochum einen Seitenweg der Avantgarde aus. | |
Bild: Grade in der Absichtslosigkeit gelingt der Choreograhie „Vortex Temporu… | |
Wie tanzt man ein Crescendo? Ist es überhaupt möglich, Musik, diese | |
ungreifbarste aller Künste, sichtbar zu machen? Diesen Fragen geht Anne | |
Teresa De Keersmaeker in ihrer jüngsten Choreografie „Vortex Temporum“ | |
nach, die in der Bochumer Jahrhunderthalle als letzte Uraufführung dieser | |
Ruhrtriennale-Spielzeit am Samstag zur Premiere kam. | |
Eine knappe Stunde dauert De Keersmaekers radikales Experiment, während der | |
man meint, eine Stecknadel fallen hören zu können. Die Halle 4 in der | |
Bochumer Jahrhunderthalle ist öde und leer. Als hätte jemand mit einem | |
riesigen Zirkel experimentiert, überschneiden sich auf dem Boden wie mit | |
spröder Kreide gezeichnete Kreise, die später zu den Flugbahnen der Tänzer | |
werden. Nüchterne Arbeitsbeleuchtung taucht die Bühne in fahles, manchmal | |
fast ganz verlöschendes Licht. Eine karge, aus der Welt gefallene Szenerie, | |
ein grauer Ort ohne Farben, wie ein nächtlich betriebenes Labor. | |
De Keersmaeker ist berüchtigt für ihren analytischen Umgang mit der Musik | |
und für ihre Begabung, diese in tänzerische Phrasierungen umzusetzen. | |
Diesmal hat sie sich für ein Grenzwerk der Neuen Musik entschieden: „Vortex | |
Temporum“ – was so viel heißt wie „Zeitstrudel“ –, das Vermächtnis … | |
verstorbenen französischen Komponisten Gérard Grisey. Das mystische | |
Kammermusik-Stück für Klavier, Flöte, Klarinette, Cello, Violine und Viola | |
ist ein herausragendes Beispiel für sogenannte Spektralmusik, einen | |
französischen Seitenweg der Avantgarde, der sich von seriellen Techniken | |
und der Atonalität abwandte, um sich ganz der Modifikation des Klangs, | |
seinen Obertönen und der Erforschung des Hörerlebnisses zu verschreiben. | |
„Vortex Temporum“ ist ein Gipfelwerk dieses Kompositionsprinzips mit | |
ungeheuer komplexen Klangteppichen, die mit Viertelton-Verschiebungen | |
arbeiten und sich zu großer harmonischer Dichte steigern, die weit mehr | |
hören lässt als nur sechs Instrumente. Dann wieder zerfallen die Klänge zu | |
Geräuschen, gehen zurück ins kaum Hörbare, um sich dann mit hämmernden, oft | |
asymmetrischen Ostinati der narkotisierenden Wirkung von Minimal Music | |
anzunähern. Kurzum: Musik, die höchste Aufmerksamkeit fordert und einen | |
rätselhaften Sog ausübt. | |
## Die gestische Präsenz der Musiker | |
Die ersten Minuten überlässt De Keersmaeker dann auch allein dem belgischen | |
Neue-Musik-Ensemble Ictus und dessen atemberaubend souveräner und in ihrer | |
gestischen Präsenz fast schon selbst tänzerischen Ausführung von Griseys | |
spröder Musik. Dann erst positionieren sich die sieben Tänzer der Kompanie | |
Rosas da, wo vorher die Musiker spielten. | |
Ohne Musik entwickeln sich erste Bewegungen, die bei De Keersmaeker mehr | |
aus Alltagsbewegungen als aus Tanzgesten abgeleitet sind. Es ist, als | |
würden die Tänzer den gerade gehörten ersten Satz von Griseys mal | |
eruptiver, mal an der Grenze zum Stillstand verharrender Musik nachbilden. | |
Dann kommen die Musiker zurück und nun fließen Musik und Tanz zusammen in | |
ein geradezu magisches Geflecht unlösbarer Konstellationen. | |
## Der Entstehung zuschauen | |
Vorsichtig sind die ersten Annäherungen, tastend und fast unsicher. Doch | |
dann kommt es zu Paar- und Clusterbildungen zwischen den Tänzern und den | |
Musikern, die ganz selbstverständlich zum Teil der hoch präzisen, dabei | |
doch in ihrer scheinbaren Absichtslosigkeit wie improvisiert wirkenden | |
Choreografie werden. Alle Akteure reagieren mit höchster Sensibilität | |
aufeinander, so dass man irgendwann nicht mehr weiß, ob nun die Musiker die | |
Tänzer in zunehmend entfesselte Bewegung bringen oder die motorische | |
Dynamik der Tänzer die Musik hervorbringt. | |
So entsteht der faszinierende Eindruck einer Gleichzeitigkeit, als würde | |
man der Musik bei ihrer Entstehung zuschauen und ihrem Wesen als ephemere | |
Kunst auf die Spur kommen. | |
Und zwar in diesem Fall eben ganz und gar absoluter Musik, die nicht mehr | |
sein will als Klang und Rhythmus und sich darin selbst genügt. Und die | |
Tänzer reagieren darauf mit purer Bewegung, die wiederum nicht mehr sein | |
will als eben Bewegung und Dynamik und gerade in dieser Reinheit und | |
Absichtslosigkeit tatsächlich so etwas wie Transzendenz erzeugt. De | |
Keersmaeker erzählt keine Geschichte, das Geschehen auf der Bühne bleibt | |
völlig abstrakt und wirkt dennoch unmittelbar. | |
Die Tänzer äußern weder Befindlichkeiten noch Gefühle, wirken fast | |
abweisend und sind doch jeder für sich höchst individuell präsent. Am | |
Schluss verebben Musik und Bewegung und verlöschen wie das Licht. Es folgt | |
eine lange Stille, bevor sehr zögerlich der Applaus einsetzt. Viel weiter | |
kann man wohl nicht mehr gehen in der tänzerischen Erforschung der Musik. | |
8 Oct 2013 | |
## AUTOREN | |
Regine Müller | |
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