# taz.de -- Tanz: Angst vor dem Stillstand | |
> Tanzfiguren sind soziale Modelle: Das Berliner Festival Tanz im August | |
> präsentierte neben hoffnungsvollen Schwarmbewegungen auch klassische wie | |
> beklemmende Pas de deux. | |
Bild: Grade in der Absichtslosigkeit gelingt der Choreograhie „Vortex Temporu… | |
Etwas verändert sich, weil es sich gleich bleibt. Etwas bleibt mit sich | |
selbst identisch, weil es sich verändert. Wenn die Brüsseler Choreografin | |
Anne Teresa de Keersmaeker (geboren 1960), 25 Jahre nachdem sie ihre frühen | |
Stücke zu Kompositionen von Steve Reich entwickelt hat, diese mit späteren | |
Choreografien (1997, 2007) zu Reichs Musik zusammenbringt, entsteht ein | |
solches Paradox. Denn in der asketischen Materialkonzeption des | |
amerikanischen Komponisten, in der Beschränkung auf eine Bewegung des | |
Musikers, auf eine kurze Melodie am Piano oder einen Akkord auf der | |
elektronischen Orgel, liegt noch immer ein ethisches Konzept: Das ist eine | |
Warnung vor der Reizüberflutung und eine Herausforderung, durch | |
Konzentration und Reduktion vorzudringen zu dem, was man selbst als | |
wesentlich setzen möchte, die den Stempel von Abstraktion und Avantgarde | |
der Nachkriegsmoderne trägt. | |
Aber weil die Kultur, in die Reich dies Postulat setzte, sich weiter | |
beschleunigt hat, weil die Frequenz der Impulse, die auf die Wahrnehmung | |
eindringen, eher gestiegen ist, hat sich das Verhältnis zur ästhetischen | |
Botschaft verändert. Was einmal radikaler Gegenentwurf schien, scheint | |
heute pure Notwendigkeit. Chill out, shift down, gesundschrumpfen - das | |
Bedürfnis nach der Pause, nach der Abkehr vom ungebrochenen Weitertreiben | |
aller technischen Möglichkeiten hat sich inzwischen selbst in verschiedenen | |
Milieus ausdifferenziert. | |
105 Minuten dauert der neue "Steve Reich Evening" von de Keersmaeker, mit | |
dem ihre Rosas das Festival Tanz im August in Berlin eröffneten. Doch bevor | |
die Musik Tanz wird, wird sie Skulptur, auf die Bühne des Hebbel-Theaters | |
gebracht von den Musikern des Ictus Ensembles. Zuerst versetzen sie nur | |
zwei Mikrofone in pendelnde Bewegungen über zwei Lautsprechern, und das, | |
was man hört - sirenenähnlich, klagend, beängstigend - besteht aus den | |
Rückkoppelungslauten, die sich in unterschiedlich langer Länge | |
gegeneinander verschieben. Man beginnt, den Stillstand zu fürchten, und | |
wird so darauf eingestimmt, nach dem Pendeln, dem Takt selbst da noch zu | |
suchen, wo das ganze Stück den Atem anhält. | |
Es ist das Pendeln der Arme der beiden Tänzerinnen Cynthia Loemij und Tale | |
Dolven, das in dem Stück "Piano Phase" von 1982 diese Bewegung wieder | |
aufnimmt und sie dabei jedes Mal eine halbe Drehung vollziehen lässt. | |
Daraus entwickelt sich ein Auf- und Abspulen von Linien, Bögen und | |
Spiralen, das von großer Strenge und von großer Leichtigkeit zugleich ist, | |
voll von Wiederholungen und trotzdem spannend. Gerade darin, Eigenschaften, | |
die sonst nicht zueinanderzupassen scheinen, so mühelos zusammenzubringen, | |
bringt, eröffnet de Keersmaeker, neue Optionen. | |
Die Freiheit, die durch die Formstrenge gewonnen wird, ist seitdem ein | |
Kapital der Choreografin geblieben. Je mehr Tänzerinnen und Tänzer auf die | |
Bühnen kommen, desto komplexer wird das Muster aus Spiralen, die sie | |
ineinanderschreiben, aus vorwärts und rückwärts gelesenen Bewegungsfolgen, | |
aus ineinandergeschobenen Kreisen, Dreiecken und Sternen. Während der | |
Aufbau der Musik und auch der Musiker und ihrer Instrumente immer auf | |
Spiegelungen und Symmetrien hin orientiert ist, tendiert das Bewegungsbild | |
zunehmend zu Schwarmqualitäten. In die Gruppe hineinlaufen und wieder | |
hinaus-, sich mitziehen lassen oder der Gestalt des Ganzen eine neue | |
Richtung geben: Dass von jedem Punkt in diesem Netz Entscheidungen ausgehen | |
können, lässt die Tanzfiguren auch so hoffnungsvoll als soziale Modelle | |
betrachten. | |
Seit seiner Gründung 1988 hat das Festival Tanz im August die Brüsseler | |
Choreografin oft nach Berlin eingeladen. Und mehrmals kam die kanadische | |
Gruppe LaLaLa Human Steps, die man als einen Antipoden in der Ökonomie der | |
Aufmerksamkeit zu de Keersmaekers sehen kann. Auch jetzt brachte Édouard | |
Lock, der die für ihre Virtuosität berühmte Gruppe 1980 gründete, wieder | |
ein Stück mit, das nur aus Höhepunkten zusammengesetzt schien und einen Pas | |
de deux, Kernstück dramatischer Kollisionen, an den nächsten reihte. Das | |
war weniger eine Dekonstruktion des Balletts als vielmehr ein | |
eklektizistischer Versuch, seine Affekte fortzuschreiben. | |
Die gefühlvolle Musik, die Gavin Byars über Tschaikowsky-Themen entwickelt | |
hat; das Licht, das mit harten Schnitten wechselnde Perspektiven erzeugt; | |
die explosive Spannung, von der hier jeder weibliche Körper gezeichnet ist; | |
das harte Stechen der Spitzenschuhe: All das erzeugt Druck, Intensität, | |
Emotion. Aber wie bei einer Umarmung, aus der man sich nicht lösen kann, | |
bringt dieser Abend über die Nachtseite des romantischen Balletterbes auch | |
Beklemmung hervor. | |
Zu viele Paargeschichten, auch wenn manche davon, wie der Pas de deux | |
zweier Männer, die mit den Rippen aneinanderstoßen und auseinanderprallen, | |
bevor sie zu Formen finden, die ineinanderpassen, von schöner Ambiguität | |
waren. Denn meistens geht es klassisch zu: Die Männer halten, heben und | |
helfen den Diven, ihre unendlich feinen und nervösen Subtexte zwischen die | |
klassischen Gesten zu schreiben. Als ob an die Stelle der romantischen | |
Botschaften, von denen Dornröschen und Schwanensee handeln, ein | |
hochneurotischer Text getreten ist, der all das, was in der Romantik von | |
Verdrängung und Tabuisierung gestaltet war, nun hoch- und runterdekliniert. | |
Am dritten Abend des Festivals konnte man ein Stück sehen, das den Paartext | |
des klassischen Pas de deux ganz anders herunterbrach. Claudia de Serpa | |
Soares und Grayson Millwood, beide ehemals Tänzer von Sasha Waltz & Guest, | |
bauten den Dialog der Körper in ihrem Stück "Edgar" zu einer Art | |
Zirkusnummer um. Statt der Hebung, die die Ballerina schweben und ihren | |
Sprung ins Feenhafte verlängert, stemmt Grayson Millwood die kleine Claudia | |
de Serpa Soares wie eine Hantel in die Luft. Es war eine sehr clowneske und | |
stoisch vorgetragene Nummer, in der die beiden all die körperliche Arbeit | |
sehen lassen, die der Tanz normalerweise versteckt. | |
20 Aug 2007 | |
## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
## TAGS | |
Tanz | |
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