# taz.de -- Autor Björn Bicker über den Glauben: „Denk an den Balken in dei… | |
> Für „Urban Prayers“ hat der Björn Bicker Gespräche mit Menschen jeden | |
> Glaubens geführt. Sein Fazit: Wir müssen noch mehr über Religion | |
> sprechen. | |
Bild: Hin zu den Gemeinsamkeiten – so wie die Protestierenden gegen das Burki… | |
taz: Herr Bicker, Sie haben drei Jahre lang Gespräche mit Menschen aller | |
Glaubensrichtungen dokumentiert. Wie lässt sich heute, wo der Islam | |
Gesprächsthema jeder Nachrichtensendung ist, noch offen über Religion | |
reden? | |
Björn Bicker: Ich würde die Frage in einen Satz mit Ausrufezeichen | |
umformulieren: Wir sollten mal wieder über Religion sprechen! Wer | |
heutzutage vorgibt, dies zu tun, der redet ja meist über Politik. Reden | |
über Religion scheint überhaupt nicht mehr möglich, stattdessen gibt es nur | |
noch islamophobes Bashing. Dabei versuchen die meisten Menschen, die ich | |
für [1][„Urban Prayers“] getroffen habe, schlicht ihre Spiritualität mit | |
ihrem Alltag in Einklang zu bringen. Und doch verspüren viele, vor allem | |
Muslime, die Not, sich erst einmal für ihren Glauben und ihre Art zu leben | |
rechtfertigen zu müssen. | |
Weil der Glaube in der öffentlichen Debatte so im Fokus steht? | |
Sie fühlen sich darauf reduziert und unter Druck gesetzt. Das ist traurig. | |
Einer meiner Gesprächspartner sagte mir: „Früher waren wir Türken, heute | |
sind wir Muslime.“ Da wurde der Rassismus von der ethnischen hin zur | |
religiösen Markierung verschoben. Gerade für Muslime ist es extrem | |
belastend, dass sie und ihr Glaube dauernd für politische Diskussionen | |
vereinnahmt werden. Wie sich das verschoben hat, lässt sich gut am Beispiel | |
der Ditib-Moschee in Duisburg erkennen, da waren wir zu Beginn des | |
Kunstfestivals Ruhrtriennale eingeladen. Die Gemeinde ist seit vielen | |
Jahren in der Kommune engagiert, die Moschee wurde von 2005 bis 2008 | |
gebaut, dort, wo die Kantine der Zeche stand. Alles klappte ohne | |
Verwerfungen, weil man alle gesellschaftlichen Gruppen eingebunden hatte. | |
Lange war vom „Wunder von Marxloh“ die Rede, nun heißt es in der | |
Berichterstattung: „die Strenggläubigen der Ditib“. | |
Wie Begriffsebenen ineinanderrutschen, merkte man in der Vergangenheit auch | |
daran, wie etwa bei den Attentaten in Bayern sofort von „Terrorattentat“ | |
statt von „Amoklauf“ gesprochen wurde – und da immer die Wendung | |
„islamistischer Hintergrund“ mitschwang. Wie lässt sich dieser Reflex | |
aufbrechen? | |
Medien sollten sich darüber bewusst werden, dass sie einseitige | |
Assoziationen zementieren und damit das Thema verkürzen. Deswegen ist der | |
Islam längst ein Synonym für Attentate, Probleme und Gewalt. Von Islam und | |
Barmherzigkeit, Islam und Fürsorge oder Islam und Bildung ist nie die Rede. | |
Als vor ein paar Wochen ein katholische Priester in Frankreich ermordet | |
wurde, gingen in München zehn Imame zum katholischen Generalvikar und | |
sprachen ihm ihr Beileid und ihre Solidarität aus. Dass über solche Momente | |
kaum berichtet wird, ist eine vertane Chance. Eine Alternative zeigte der | |
Bremer Weser-Kurier: Der hatte erklärt, künftig nicht mehr „IS“ oder | |
„Islamischer Staat“, sondern „Daesh“ zu schreiben. Sie vermeiden so, den | |
Islam weiter fast synonym mit der Terrorgruppe zu verknüpfen. | |
Diese Bedeutungsverschiebung sieht man auch daran, wie mit religiösen | |
Symbolen umgegangen wird, etwa dem Kopftuch. | |
Dass das Kopftuch oder aktuell der Burkini in der öffentlichen Diskussion | |
als politisches Symbol instrumentalisiert wird und als Anlass für | |
rassistische Übergriffe dient, ist fatal. Alles wird durcheinandergeworfen. | |
Burka, Hidschab, Nikab, Burkini – völlig egal. Jegliche Differenzierung | |
geht über Bord, Hauptsache, es geht gegen die Muslime. Bei manchen | |
Religionen gehört die visuelle Abgrenzung oder das Verdecken der Haut eben | |
zum Bekenntnis. Das muss man akzeptieren. Man denke nur an Nonnen oder auch | |
an Sikhs, die sich wegen ihres Glaubens nicht die Haare schneiden und | |
Turban tragen. | |
Dass Mitbürger ihre Glaubenszugehörigkeit offen zeigen und so viel über | |
Religion geredet wird, wirft uns doch automatisch auf unser Verhältnis zum | |
Glauben zurück. Haben Sie das auch erlebt? | |
Ja, ich bin dafür ein gutes Beispiel. Ich bin evangelisch aufgewachsen, | |
ließ meine Kinder taufen, und das war es auch. Aber weil andere ihren | |
Glauben so offensiv leben, merkte ich: Oh, ich selbst habe ja gar keine | |
klare Haltung. Muss ich auch nicht, aber ich habe wieder angefangen, mich | |
mit meiner eigenen Religiosität zu beschäftigen. | |
Irgendwelche Aha-Momente? | |
Ich bin überzeugt: Die, die in ihrem Glauben oder auch in ihrem Zweifel | |
gefestigt sind, haben kein Problem mit dem Glauben anderer. Und wir wissen: | |
Wer vernünftig religiös sozialisiert wird durch die Familie und das Umfeld, | |
ist in der Regel kaum anfällig für radikale Tendenzen. Die Ausgegrenzten, | |
die Orientierungslosen sind die Gefahr. Nur die eigene Unsicherheit führt | |
dazu, sich extrem gegen andere Religionen zu positionieren. Ich fürchte, | |
das könnte einer der tieferen Gründe für den grassierenden Islamhass in | |
Europa sein. | |
Und was steckt hinter dieser Unsicherheit? | |
Eine Mischung aus Unwissen, längst verlorener Tradition und der Unlust zu | |
differenzieren. Auf diese nicht nur religiöse Vielfalt sind wir schlicht | |
nicht vorbereitet. Wir müssen alle viel lernen. Den einen Islam gibt es nun | |
einmal nicht, er ist nicht so strukturiert wie das Christentum. Es bringt | |
nichts, darüber zu jammern, dass man nicht zu dem einen Bischof gehen kann, | |
sondern mit zwölf verschiedenen Gesprächspartnern Kontakt aufnehmen muss. | |
Aber diese Mühe, uns mit anderen Religionen und Kulturen zu beschäftigen, | |
muss uns die Einwanderungsgesellschaft wert sein. Es ist ein andauernder | |
Prozess, die Lösung kann nur im permanenten Aushandeln liegen. Das ist der | |
Markenkern einer Einwanderungsgesellschaft. Dabei geht es um | |
Chancengleichheit und Gerechtigkeit. | |
Aber wie könnte das klappen? | |
Ich glaube fest an die uralte Kontakthypothese der Soziologen: Sobald man | |
sich kennenlernt und einander häufiger begegnet, verlieren sich die | |
Unterschiede, man wird sich sympathisch. Der Imam Benjamin Idriz hat mir | |
das sehr klug erklärt. Er sagte, interreligiöse Gespräche seien zum | |
Scheitern verurteilt, weil man nach zwei Minuten nur noch über Unterschiede | |
spricht. Er schlägt vor, miteinander Fußball zu spielen, und wenn man sich | |
dann angefreundet hat, kann man auch über Religion reden. | |
Über welche Gemeinsamkeiten könnte man denn sprechen, um das Thema | |
Unterschiede zu vermeiden? | |
Mich faszinierte bei der Recherche zum Beispiel, dass viele Religionen | |
einen starken antikapitalistischen Impuls haben. Sie sind ein Gegenentwurf | |
zu dem Wahnsinn der Selbstoptimierung, der derzeit überall zu erleben ist. | |
Glaube schafft, dass wir uns angenommen fühlen, die Botschaft ist: Du bist | |
gut, wie du bist. Glaube ist meistens auch Anstiftung zu Solidarität. Ich | |
habe auch immer alle gefragt: Welche Form religiöser Vielfalt lässt sich | |
aus deinem Glauben entwickeln? Und das ist ein guter Ausgangspunkt für | |
gegenseitige Akzeptanz. Dazu heißt es etwa in einer Koransure sinngemäß: | |
Wenn Allah die Vielfalt nicht gewollt hätte, hätte er sie nicht geschaffen. | |
Und dann folgt eine Aufforderung, zum Wettstreit um die meisten guten | |
Taten. | |
Akzeptanz, Verständnis – schön und gut. Aber es gibt in Religionen ja auch | |
Kritikwürdiges. Wie können wir das thematisieren, ohne Gräben zu ziehen? | |
Meiner Meinung nach würde es allen besser zu Gesicht stehen, erst einmal | |
die Probleme in der eigenen Glaubensgemeinschaft zu thematisieren, bevor | |
man andere kritisiert. Allein, dass oft verdrängt wird, dass auch | |
Evangelikale oder Katholiken extremistische und patriarchale Positionen | |
vertreten, ist sehr ärgerlich. Bei deren Ansichten über Gleichberechtigung | |
und Homosexualität stellen sich einem die Nackenhaare auf. Wir sollten uns | |
öfter an eine urchristliche Tugend erinnern, frei nach Matthäus: „Was | |
siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, den Balken aber in deinem | |
Auge bemerkst du nicht?“ | |
2 Sep 2016 | |
## LINKS | |
[1] https://www.ruhrtriennale.de/de/produktionen/urban-prayers-ruhr | |
## AUTOREN | |
Anne Haeming | |
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