# taz.de -- „Orfeo ed Euridice“ in Berlin: Zupackend, hell und hart | |
> Glucks Oper „Orfeo ed Euridic“ ist ein Klassiker. Damiano Michieletto | |
> zeigt es an der Komischen Oper als gegenwärtiges Drama. | |
Bild: Hinreißend ist das, weil es so wahr ist. Szene aus „Orfeo ed Euridice�… | |
Es ist schon alles gesagt. Über die Liebe ohnehin, aber auch über Orpheus, | |
den kultischen Sänger, und über den [1][Komponisten Christoph Willibald | |
Gluck], seine Oper und warum sie eine Revolution war. An der Komischen Oper | |
ist alles wieder ganz neu, erstaunlich und ergreifend schön. Das ist die | |
Art von Wunder, die vielleicht nur in der Oper möglich ist. Nagelneue Werke | |
stehen dort selten auf dem Spielplan. Das meiste ist schon tausendmal | |
gesungen worden. Man will es trotzdem immer wieder hören. | |
Warum das so ist, muss man bei Damiano Michieletto nicht fragen, man sieht | |
es. Der heute 47 Jahre alte Italiener hatte vor sechs Jahren die Komische | |
Oper schon einmal verzaubert mit [2][„Le Cendrillon“], einem fast | |
vergessenen Werk von Jules Massenet. Das Aschenputtel musste im Probensaal | |
des Balletts sein Märchen erleiden. Jetzt sitzen Orpheus und Euridike am | |
Küchentisch und haben sich nichts mehr zu sagen. So ist es nun mal mit der | |
Liebe. Sie kommt und geht, man weiß nicht, warum, und hat die Krise. | |
Der Bühnenraum ist leer und weiß, aber allein sind die beiden nicht. | |
„Amore“, die Allegorie der Liebe, tanzt herum, in Schwarz zuerst, am Ende | |
im Glitzerfummel, immer mit Hexenhut und Zauberstab. Gluck hatte zwar | |
sämtliche Götter der Sage zugunsten der aufgeklärten Freiheit der Person | |
abgeschafft, die Liebe jedoch musste bleiben. Sie hat als Rolle wenig zu | |
singen und ist mit der Anfängerin Josefine Mindus aus dem Opernstudio | |
besetzt, aber eine Nebenfigur ist sie nicht. Sie dirigiert das Spiel, das | |
sie gewinnt, nicht, weil sie göttlich, sondern weil sie erfahren ist. | |
Orpheus braucht Hilfe. Carlo Vistoli, der Kontratenor, hat schon seinen | |
Koffer gepackt, aber dann senkt sich ein riesiger weißer Kasten vom | |
Bühnenhimmel herab, in dem der Küchentisch samt Nadja Mchantaf | |
verschwindet. Er fährt wieder hoch und Euridike liegt im Krankenhaus. | |
Pflegepersonal und Kranke bilden den Chor, den Gluck für die Totenklage | |
vorgesehen hat. Mehr ist nicht nötig, um aus Mythos und Geistesgeschichte | |
ein vollkommen gegenwärtiges Drama des Alltags zu machen. „Du antwortest | |
nicht“, klagt Vistoli mit der ganzen Macht und Kunst seiner unglaublichen | |
Stimme. | |
## Gluck weiß es besser | |
Seine Euridike hatte schon vorher nur geschwiegen. Liebt er sie jetzt eben | |
doch wieder? Gluck weiß es besser. Er erzählt die Leiden eines Mannes, der | |
das so wenig weiß wie irgendein anderer Mann. Er schickt ihn in die | |
Unterwelt, wo Nadja Mchantaf endlich auch einmal ihren wunderschönen Sopran | |
entfalten darf. Der Regisseur und sein Bühnenbildner Paolo Fantin lassen | |
dafür den Bühnenhintergrund in einen perspektivisch verengten Tunnel | |
auslaufen. | |
Der Kostümbildner Klaus Bruns steckt den Chor in schwarze Kapuzenmäntel für | |
die Furien, in denen Vistoli untergeht. Aber seine Stimme ist stärker, sie | |
zerreißen ihre Umhänge und sind selige Geister in Unterwäsche. Schier | |
endlose Meter an schwarzem Tuch müssen nun aus dem engen Ende des Tunnels | |
herausgezerrt werden, bis schließlich auch die Frau darunter hervorkriecht, | |
um die es angeblich geht. Aber er schaut sie gar nicht an. Ihre Liebe ist | |
das nicht, es ist der Küchentisch! | |
Wie jedes wirklich große Theater ist auch dieses komisch. Am Ende erst | |
recht. Jetzt gibt es gleich vier Euridiken, die immer tot vom Stuhl fallen | |
oder unter dem Zentralkasten verschwinden. Eine schiebt die Urne mit der | |
Asche auf die Bühne, ein Tanz der vier Toten wirft sie in die Luft, bis ein | |
Wasserguss vom Bühnenhimmel alles wegspült. Wie begossene Pudel steht das | |
Paar dann da, schaut sich in die Augen und der Krankenhauschor besingt den | |
Triumph der Liebe. | |
## Glucks Revolution | |
Hinreißend ist das, weil es so wahr ist. Offenbar gibt es Erfahrungen, die | |
universaler sind als soziale Lagen. Genau das war Glucks Revolution, damals | |
gegen den Adel, heute gegen den ganzen Rest der Welt. David Bates dirigiert | |
diese Musik. Er leitet in England ein eigenes Ensemble für historische | |
Spielpraxis, die mit der Marke „Alte Musik“ inzwischen falsch bezeichnet | |
ist. Bates nimmt Gluck nur musikalisch beim Wort, deswegen klingt er extrem | |
modern. | |
Hell, hart und zupackend spielt das Orchester, das schmucklos einfache | |
Melodien und Akkorde zu einer Folge von Szenen zusammenfügt, die in sich | |
selbst dramatisch sind. Nur sie, nicht der an seine Zeit gebundene Text, | |
machen es möglich, das Phänomen der Liebe zu begreifen als das, was es ist: | |
ein ewiges Rätsel. Sie kommt und geht, ist zum Lachen komisch und zum | |
Weinen schön. | |
Es gehört sich vielleicht nicht, heute noch so ungeniert daherzuträumen. | |
Aber deswegen ist die Oper einst erfunden worden. Es muss erlaubt sein. | |
Nach der Premiere am Sonntag war der Applaus ein einziger, dankbarer und | |
glücklicher Jubel. | |
25 Jan 2022 | |
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## AUTOREN | |
Niklaus Hablützel | |
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