# taz.de -- „Ring des Nibelungen“ in Berlin: Die Droge Wagner | |
> Der „Ring des Nibelungen“ ist wieder komplett an der Deutschen Oper in | |
> Berlin zu sehen. Regisseur Stefan Herheim nimmt Wagner beim Wort. | |
Bild: Clay Hilley als Siegfried an der Deutschen Oper in Berlin | |
Wagner ist ein Skandal. Die Deutsche Oper in Berlin hatte 33 Jahre lang | |
eine Version seines „Ring des Nibelungen“ im Repertoire, deren Premiere im | |
Jahr 1984 im Wutgeschrei des Publikums unterging. Ein schwarzer Sänger sang | |
den Wotan, seine Armee der Walküren bestand aus Lederdominas. Götz | |
Friedrich, der Intendant, hatte selbst die Regie übernommen. | |
Der Krawall stand am Anfang eines beispiellosen Erfolgs. Ostern 2017 fand | |
die letzte Aufführung aller vier Teile des „Bühnenfestspiels“ statt, wie | |
Wagner sein Monster genannt hatte. Friedrich war schon lange tot und in | |
einem Ehrengrab der Stadt beerdigt. Wenn sein Ring auf dem Spielplan stand, | |
waren sämtliche Vorstellungen ausverkauft. Es hätte ewig so weitergehen | |
können, aber die Kulissen mussten inzwischen mit Klebestreifen | |
zusammengehalten werden. | |
Es ging einfach nicht mehr, die Baupolizei wäre eingeschritten. Der heutige | |
Intendant Dietmar Schwarz gab bei Stefan Herheim eine neue Inszenierung für | |
das Jahr 2020 in Auftrag. Herheim, 1970 in Oslo geboren, wohnt ohnehin in | |
Berlin, wo er an den beiden anderen Opernbühnen sehr erfolgreich inszeniert | |
hat: Verdi und Wagner an der Staatsoper, Händel und Offenbach an der | |
Komischen Oper. Angefangen hat er als Cellist, zur Regie kam er über das | |
Marionettentheater. So steht es bei Wikipedia, wo auch nachzulesen ist, | |
dass er danach Opernregie als Fach studiert habe, nämlich in Hamburg bei | |
Götz Friedrich, der dort nebenher auch Hochschulprofessor war. | |
Die Nachfolge schien geregelt, aber dann kam Corona: Das „Rheingold“ fiel | |
aus, das mit seinen zweieinhalb Stunden Länge für Wagner nur der „Vorabend�… | |
war. Vor halbleerem, hygienisch bereinigtem Saal [1][kam im vergangenen | |
Herbst die „Walküre“] heraus, die Nummer eins in Wagners Zählung der voll… | |
Festspieltage, die mindestens fünf Stunden dauern müssen. Im Sommer danach | |
gab es den Vorabend als Nachspiel. Der Saal war wieder so voll wie im | |
Oktober, als die „Götterdämmerung“ dran war, die über sechs Stunden lange | |
Nummer drei. | |
Fehlte noch „Siegfried“, die Nummer zwei. Wegen eines Coronafalles der | |
vierten Welle kam sie erst vergangene Woche auf die Bühne, aber nicht | |
alleine. Von Dienstag bis Sonntag war zum ersten Mal Stefan Herheims „Ring“ | |
vollständig und in der richtigen Reihenfolge zu sehen. Natürlich war der | |
letzte Applaus spät in der kalten Sonntagsnacht ein einziges Geschrei der | |
Empörten, sekundiert von ein paar wenigen Begeisterten. | |
## Gegenwart wird Geschichte | |
So soll es sein und Herheim hat das Geheimnis seines Lehrers Friedrich | |
verstanden: Es muss immer ein Theater bleiben. Patrice Chéreau hatte 1976 | |
in Bayreuth seinen Skandal, weil er Wagners frei erfundene Mythen als | |
Kapitalismuskritik auf die Bühne brachte. Danach war von einem | |
„Jahrhundertring“ die Rede. | |
Dafür würde heute niemand sein Geld ausgeben, so wenig wie für [2][Frank | |
Castorfs Märchen vom Kampf ums Öl und der DDR-Dämmerung], mit der er 2013 | |
viel Lärm in Bayreuth machte. Beide hatten versucht, in Wagners Texten eine | |
immer noch gültige, kritische Botschaft an die Gegenwart zu finden. | |
Deswegen sind sie sind nur noch Geschichte. | |
Ganz anders Götz Friedrich. 1984 war die Angst vor einem Atomkrieg im | |
öffentlichen Bewusstsein akut, dafür waren keine Nibelungen nötig. Nur | |
wenige würden überleben und Friedrich schloss sie in einen gewaltigen, | |
unterirdischen Tunnel ein. Es gab nichts mehr zu deuten und künden. Sie | |
langweilten sich und spielten nur deshalb ihren Wagner weiter. Macht Spaß: | |
Zwerge, Götter, Zauber, Feuer, Kampf, Blut und Sex. Sie wussten bald nicht | |
mehr, wie oft sie das Zeug schon aufgeführt hatten, aber was sollten sie | |
sonst tun? | |
Klüger ist damit niemand geworden, auch nicht, wer ihnen nur im Saal | |
zugeschaut hat. Heute, fast 40 Jahre später, haben die Opernfiguren es bei | |
Herheim dann doch geschafft, ihren Tunnel zu verlassen. [3][Sie fangen | |
wieder mit dem Rheingold an], aber jetzt ist die Bühne leer, nur der rohe | |
Beton ist zu sehen. Sie tragen schwere Koffer. Im Saal brennt immer noch | |
das Licht. Einer entdeckt einen Konzertflügel, der nutzlos herumsteht, und | |
schlägt eine Taste an, links unten, wo die tiefen Töne liegen: „Es“. | |
## Ein Ballett sehr alltäglicher Körper | |
Im Saal geht das Licht aus, im Orchestergraben fangen die Kontrabässe an, | |
dann Tuba, Celli, Bratschen, Geigen, Hörner, Klarinetten, Oboen, Flöten. | |
Endlose Minuten Es-Dur pur, keine Musik, sondern eine Droge. Sie wirkt | |
schnell. Ihre Koffer hatten die Männer und Frauen auf Wanderschaft schon | |
abgestellt, jetzt ziehen sie die Oberkleidung aus, wiegen sich in der | |
Hüfte, strecken die Arme hoch und lassen die Hände tanzen: Wagners | |
mythischer Rhein ist ein Ballett sehr alltäglicher Körper. Kein | |
Kulissenzauber, nur ein struppiger Altrocker steht am Bühnenportal. Er hat | |
eine Trompete in der Hand, die im Scheinwerferlicht golden glänzt. | |
Das ist Alberich, der Nibelungenzwerg. Er will die Rheintöchter vögeln, | |
drei Gören von nebenan, schon bald auch in Unterwäsche wie Wotan, der | |
inzwischen am Flügel eingeschlafen ist. Fricka weckt ihn auf, in weißer | |
Robe und weißem Koffer in der Hand: Du hast die Rechnung nicht bezahlt! | |
Wagners Vorabend ist ein Komödienstadel, Ehestreit, Lügen und Betrug ohne | |
Ende. | |
Lustig ist das, aber Wagner? Herheim hat mit Donald Runnicles, dem | |
Chefdirigenten, sehr genau der Musik zugehört, die ihre Leitmotive ständig | |
wiederholen muss, um Wagners Träume zu ordnen. Dafür steht der | |
Konzertflügel auf der Bühne, aus dem alles kommt: Frauen, Krieger, Riesen | |
und Zwerge. Es ist schwül und feucht darin, man muss sich ausziehen und | |
hält es trotzdem nicht lange aus, die Koffer stehen bereit zur Flucht. Aber | |
wohin? | |
Die lange Walküre steht bevor. Schwester und Bruder legen sich auf den | |
Konzertflügel, um einen Helden zu zeugen. Danach liest die Ehefrau die | |
Grundregeln des Rechtsstaates vor. Auch ein Gott muss sich daran halten, | |
aber Brünnhilde, die Tochter aus Wotans One-Night-Stand mit Erda, der | |
Urmutter, rettet ihrer Halbschwester aus Gottvaters Affäre mit einer Wölfin | |
das Leben, damit sie den inzestuösen Sohn des Halbbruders gebären kann. | |
Danach muss sie in einem Feuerring eingesperrt schlafen, bis der neue | |
Superheld sie erobert. Blickt blickt noch irgend jemand durch? | |
## Herheim lässt nur spielen, was gesungen wird | |
Nein, Herheim lässt nur spielen, was gesungen wird, befreit von der Last | |
der Weltverbesserung. Das Orchester verzichtet auf die gewohnten | |
Wagner-Narkosen. Wenn es laut wird, klingt es ein wenig blechern, meistens | |
jedoch ist ruhiger, farbig instrumentierter Wohlklang für Melodien zu | |
hören, die Popsongs sein könnten. Bühnenbild und Licht von Silke Bauer und | |
Ulrich Niepel zaubern mit federleicht schwebenden Gazetüchern ganze Gebirge | |
über den abgestellten Koffern. Die Flüchtlinge ruhen sich aus von der | |
globalen Krise der Migration. Sie ist konkreter als Friedrichs Atomkrieg, | |
ihre Opfer spazieren entspannt in der Szene herum und klatschen bei den | |
Höhepunkten. | |
Wenn sich der Vorhang zum Endspiel der Götterdämmerung öffnet, ist ihre | |
Bühne eine Kopie des Foyers der Deutschen Oper. Sie sind integriert und | |
schlürfen Sekt. Aber dann kommen Wagners Nornen und alles erstarrt in rotem | |
Licht. Gespensterfrauen in Weiß besingen die Herrschaft der Männer. Das | |
Geschlecht ist Macht, die Gewalt Natur. Die Musik ist komplizierter | |
geworden, die Leitmotive sind geblieben. Nur das Flüchtlingsballett des | |
Rheins kehrt nicht mehr zurück. Brünnhilde stürzt sich ins Krematorium | |
ihres Vaters und kann nur hoffen, dass auch der Ring an ihrem Finger darin | |
schmilzt. | |
Ob er wieder zum Rheingold wird, ist nicht zu sehen. Die Gazeberge sind | |
verschwunden, nur der Konzertflügel steht immer noch mitten im nackten | |
Beton des Bühnenraums. Wagner hat ihn gespielt, der radikalste Vordenker | |
der politischen Reaktion gegen die aufkommende Moderne seiner Zeit. Herheim | |
hat ihn beim Wort genommen. Er ist ein Skandal. Die Bühnenscheinwerfer | |
fahren herunter, leuchten glühend rot, werden blass und verlöschen. Eine | |
Putzfrau kehrt den Abfall zusammen. | |
Die Deutsche Oper Berlin hat ihn wieder, ihren „Ring des Nibelungen“, der | |
Maßstäbe setzt, in diesem Fall, weil er hoffentlich ein Skandal bleibt. | |
Herheim hat ihn so rücksichtslos genau gelesen und auf die Bühne gestellt, | |
dass man ihn versteht. Die durchwegs überzeugende Besetzung der Premiere | |
wird wechseln, die Requisiten sind auch nach 30 Jahren noch leicht zu | |
reparieren. | |
16 Nov 2021 | |
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## AUTOREN | |
Niklaus Hablützel | |
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