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# taz.de -- Opernpremiere in Berlin: Warnung vor den Mitleidslosen
> „Idoménée“ von André Campra ist ein musikhistorische Ausgrabung. An der
> Staatsoper Berlin inszeniert Àlex Ollé das Drama der zankenden Götter.
Bild: Chiara Skerath als Illione in einer kalten Maschinenwelt
Zerbroche Glasplatten spiegeln Geometrien aus leuchtenden Linien.
Mitglieder des Chores sind mit groben Seilen gefesselt und ziehen mühsam
einen Käfig über den Bühnenboden. Ein Bariton (Yoann Dubruque) singt den
Gott der Winde, eine Mezzosopranistin (Eva Zaïcik) die Göttin der Liebe, er
in blau, sie in weiß. Mit den Sterblichen meinen es beide nicht gut. Die
Venus will sich rächen an den Griechen, die Troja besiegt haben, und für
den Fall des kretischen Warlods Idomeneo bittet sie den Aeolus, seine Winde
endlich los zulassen, die ohnehin die ganze Zeit schon ihre Befreiung
fordern.
Aeolus gehorcht, der abstrakte Götterraum der Bühne wird konkreter, am
Horizont sind schwarze Trümmer eines Krieges zu sehen. Aus dem Käfig der
Winde ist ein abschreckend herrschaftliches Bettmöbel geworden. Davor seht
die Sopranistin Chiara Skerath. Sie ist Ilione, Prinzessin aus Troja,
begehrt von ihrem Feind Idoménée und als Kriegsgefangene nach Kreta
vorausgeschickt. Auch ihr Schiff geriet in aeolische Seenot, aber Idamante,
der Sohn des Feindes, hat sie gerettet und befreit wie alle anderen
Gefangenen.
Sie liebt ihn dafür und wir sind endlich dort angekommen, wo wir das Stück
zu kennen glauben: [1][Mozart beginnt seine Oper „Idomeneo“] mit der Arie
einer liebenden Frau, die um ihr persönliches, individuelles Recht auf die
Wahrheit ihrer Gefühle kämpft.
Aber Àlex Ollé hat ein ganz anderes Stück inszeniert. Der Regisseur gehört
zu den Gründungsmitgliedern der legendären, katalanischen Theatergruppe
„Fura dels Baus“ und spektakulär ist seine Bühneninstallation auch hier.
Sie ist keine Kulisse, sondern ständig wechselnder Raum eines bösen
Traumes. Zitate barocker Gärten tauchen auf, ihre strenge Symmetrie geht in
Nahaufnahmen von Sturmwellen unter.
## Die Eifersucht ist ein Bariton
Platz für persönliche Gefühle gibt es nicht. Die irreal konstruierten
Bilder verschobener Ordnungen bilden ein Theater der Allegorien. Gefühle
sind Personen, die Eifersucht zum Beispiel ist ein Bariton (Victor Sicard).
Leidenschaften sind öffentliche Instanzen unerbittlicher Herrschaft. In
düsteren, optischen Illusionen ist es Ollé damit gelungen, das
Ausstattungstheater des zerbrechenden französischen Absolutismus zu Beginn
des 18. Jahrhunderts in die Gegenwart avancierter technischer Effekte zu
übersetzen.
Der Preis allerdings ist hoch, den wir im Publikum dafür bezahlen müssen.
Wir sehen ein Drama, das uns nichts anzugehen scheint. Die Welt dieser
zankenden Götter, die für die Sterblichen Schicksal spielen, ist unendlich
fern. Tatsächlich ist das Werk 1712 uraufgeführt worden. Das sind nur 69
Jahre vor Mozarts Version des selben Stoffes, aber dazwischen liegt die
Zeitenwende, die wir „Aufklärung“ nennen.
Wie radikal der Bruch war, ist jetzt in der Staatsoper vielleicht
deutlicher zu sehen als es damals möglich war. Die neue Zeit der Bürger mit
ihren privaten Rechten hatte sich zwar schon überall angekündigt, nicht
jedoch bei André Campra. Er schrieb für die Kirche und den Hof. Selbst
Spezialisten für die Musik jener Zeit haben diesen Komponisten erst in den
letzten Jahren wieder entdeckt.
## Quellen studiert
Die vielfach mit akademischen Ehren überhäufte Dirigentin [2][Emmanuelle
Haïm hat sich in alle überlieferten Quellen des Werkes] vertieft. Ihr
Ensemble „Le Concert d'Astrée“ spielt mit hörbarer Liebe eine Musik, die
zwar keine Konventionen bricht, aber dann doch überrascht mit einer
dramatisch effektvollen Mischung von Rezitativen und Arien. Wunderschön
ausformulierte Solo-Melodien wechseln ab mit reich instrumentierten
Ballettstücken.
Ein Universum erlesen eleganten Wohlklangs steigt aus dem Graben auf und
füllt die tödliche Maschinenwelt der Bühne mit einem Leben in reiner
Schönheit, das auch keinen Platz mehr in der Gesellschaft von heute hat.
Das Ergebnis ist paradox. Alles stimmt, passt in jedem Augenblick kongenial
zusammen und lässt dennoch kalt, abzulesen am Schlussapplaus: anerkennend
freundlich für jede Einzelleistung, lauter und länger nur für Emmanuelle
Haïm.
Zu danken ist dieses Mal vor allem der Intendanz. André Campras Version des
Idomeno wird niemals ein Kassenschlager. Die Staatsoper hat das Werk
trotzdem produziert. Es ist eine Investition in die historische Bildung.
Bei Mozart siegt bekanntlich eine Liebe, die sogar den Poseidon rührt.
Überzeugend war das noch nie und stellt Regisseure jeden Geschlechts bis
heute vor kaum lösbare Probleme.
Bei Campra dagegen siegt die Rache der Götter. Ohne jede Vorwarnung bricht
Neptun in den Jubelchor zur Vermählung des Paares ein und schlägt den
Idomeneo mit Wahnsinn. Tassis Christoyannis, der eben noch mit der ganzen
Wärme seines Baritons den großmütig abdankenden Kriegsfürsten gesungen hat,
ersticht unter gellenden Schreien Idamante, den Sohn und Nachfolger auf dem
Thron der Kreter.
Also doch eine menschliche Tragödie, die Mitleid verdient? Nein, die
unterkühlte Distanz dieser Inszenierung geht weit darüber hinaus. Sie
verklärt nichts und will niemanden erschüttern. Sie will warnen. Die
Herrschaft böser Götter kann zu jeder Zeit sehr reale Gegenwart sein.
7 Nov 2021
## LINKS
[1] /Salzburger-Festspiele/!5609911
[2] https://www.staatsoper-berlin.de/de/kuenstler/emmanuelle-haim.2825/
## AUTOREN
Niklaus Hablützel
## TAGS
Musik
Barockmusik
Oper
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