# taz.de -- Wolfgang Borchert-Gedenken in Hamburg: „Allesversucher und Nichts… | |
> Im Mai wäre der Schriftsteller Wolfgang Borchert 100 Jahre alt geworden. | |
> In seiner Heimatstadt Hamburg widmen sich diverse Veranstaltungen dem | |
> Autor. | |
Bild: Früh verstorben, aber bis heute Schullektüre: Wolfgang Borchert auf ein… | |
Hamburg taz | „Vielleicht redet in einem Jahr kein Mensch mehr von mir“: | |
Das schrieb er im Sommer 1947, da hatte sein Hörspiel und späteres Drama | |
„Draußen vor der Tür“ Furore gemacht. Die Uraufführung in den Hamburger | |
Kammerspielen erlebte er nicht mehr: Wolfgang Borchert, geboren am 20. Mai | |
1921 in der Tarpenbekstraße 82 in Hamburg-Eppendorf, verstarb einen Tag vor | |
der Premiere am 20. November 1947 im St.-Clara-Hospital in Basel. | |
Wenn ein Mensch früh stirbt, wird er dann anders erinnert – noch dazu, | |
wenn’s ein Schriftsteller ist? Borchert hat 25 Kurzgeschichten | |
hinterlassen, zahlreiche Gedichte und, neben drei Jugendstücken, eben: | |
„Draußen vor der Tür“. Entstanden sind die Texte 1946/47 auf dem | |
Krankenbett, der Autor hatte sich im Krieg eine damals unheilbare | |
Leberkrankheit zugezogen. | |
Borcherts Leben und Werk will im Jubiläumsjahr eine gläserne „Borchert-Box�… | |
im Katalograum der [1][Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek] | |
gleichsam transparent machen: Es sind zwei inszenierte Räume, deren einen | |
man ab 11. Mai betreten, deren anderen man betrachten kann. Borcherts | |
Schreibtisch, weitere Möbelstücke, Utensilien und Kunstwerke sind zu sehen | |
– und erstmals seine Bibliothek. | |
Erarbeitet hat die Box wie auch eine neue Dauerausstellung „Dissonanzen“ in | |
der Bibliothek der Literaturwissenschaftler Konstantin Ulmer. Borcherts | |
inzwischen digitalisiert verfügbarer Nachlass umfasst 350 Briefe und knapp | |
100 Manuskripte – „das Originalmanuskript von ‚Draußen vor der Tür‘ | |
existiert nicht mehr, es wurde in der unmittelbaren Nachkriegszeit wohl als | |
Klopapier verwendet“. | |
Der Titel der neuen Dauerausstellung „Dissonanzen“ ist bewusst gewählt, | |
soll hinweisen auf die Widersprüche in Leben und Werk: Tragik und Pathos in | |
Borcherts Texten und zugleich seine Lebenslust; Überheblichkeit und | |
Unsicherheit, Soldatsein und Pazifismus. | |
Seine Gedichte habe Borchert als Gebrauchsliteratur angesehen, so Ulmer: | |
„Das musste raus.“ Es sind epigonale, schlichte Zeugnisse einer | |
aufgewühlten Seele: „Ich möchte Leuchtturm sein/in Nacht und Wind –/für | |
Dorsch und Stint,/für jedes Boot –/und ich bin doch selbst/Ein Schiff in | |
Not!“ | |
Der „Allesversucher und Nichtskönner“ – so Borcherts erster Biograf Peter | |
Rühmkorf, selbst ein Lyriker von Rang – sieht als Leitmotiv des gesamten | |
dichterischen Werks die „Klage über die Unfähigkeit zur Bindung“, | |
„Abschiedstrauer“ und „Trennungsschmerz“ und einen abrupten „Entschlu… | |
Aufbruch, der den sich ankündigenden Enttäuschungen zuvorkommen möchte“. | |
Borchert, Sohn einer erfolgreichen Heimatschriftstellerin und eines | |
Lehrers, beginnt mit 15 Jahren zu schreiben. Neben der Buchhändlerlehre | |
nimmt er Schauspielunterricht. Er berausche sich zu sehr an der Rede an | |
sich, heißt es: Er spiele und spreche, vergesse dabei den Sinn des | |
Gesagten. Er zieht mit einer Wanderbühne über Land, bis im Mai 1941 der | |
Einberufungsbefehl kommt. Krieg und Gefängnis, Fronterlebnisse und | |
Verwundung ruinieren seine Gesundheit und beeinflussen sein Schreiben. | |
„Die Hundeblume“ (1946) erzählt vom Mann aus Gefängniszelle 432, „nackt, | |
hilflos, konzentriert auf nichts als auf sich selbst, ohne Attribut und | |
Ablenkung und ohne die Möglichkeit einer Tat. Und das ist das | |
Entwürdigendste: ganz ohne die Möglichkeit zu einer Tat zu sein … – nichts | |
zu haben – als sich selbst“. | |
Es sind genaue Beobachtungen von Gewalt, aber auch von Widerständigkeit. | |
Der namenlose Protagonist sieht beim Hofgang, der einzigen Abwechslung, | |
einen Löwenzahn im Gras, und will diese „Hundeblume“ pflücken. Während er | |
sich darauf konzentriert, bricht ein Mitgefangener tot zusammen. Ein | |
anderer rückt nach und traktiert die Aufsichtsbeamten bei jeder Runde mit | |
der enervierenden Anrede „Gesegnetes Fest, Herr Wachtmeister!“ | |
Als der Mann aus Zelle 432 die Blume schließlich gepflückt hat inmitten der | |
Gleichförmigkeit von Zwang und Fremdbestimmung, fühlt er sich, als sei er | |
selbst von Erde bedeckt, aus der unscheinbare Sonnen sprießen – eine | |
Todes- und Freiheitsfantasie. | |
Viele Geschichten Borcherts handelten von Lebensangst, meint der Germanist | |
Hans-Gerd Winter, Vorsitzender der Internationalen | |
Wolfgang-Borchert-Gesellschaft; vom Wissen um die Begrenztheit des Lebens, | |
von Ungewissheit, Suche nach Identität – und zugleich von der Hoffnung, | |
dass die Zukunft offen sei. | |
„Draußen vor der Tür“ zeigt – wie in einer Versuchsanordnung – die | |
Erfahrungen und Optionen des Unteroffiziers Beckmann: Der Mann mit der | |
Gasmaskenbrille kehrt von der Ostfront ins heimatliche Hamburg zurück. Er | |
sieht nicht nur verstörend aus, ihn verstört auch, was er sieht: Seine Frau | |
hat einen andern, Gott kann ihn nicht trösten, selbst den Suizid verweigert | |
dem Verzweifelten die Elbe; der Oberst, auf dessen Befehl hin Beckmann elf | |
Soldaten in ein Himmelfahrtskommando geschickt hat, fühlt sich keineswegs | |
verantwortlich, und ein Kabarettdirektor verwehrt ihm die Auftrittschance. | |
Wo findet der körperlich und seelisch Versehrte seinen Platz anderswo als – | |
„Draußen vor der Tür“? | |
Schon Rühmkorf hatte gemahnt, Beckmann nicht mit Borchert zu | |
identifizieren. Gewiss atmet das Stück dessen eigene Kriegserfahrung: Im | |
November 1941 kam er an die Ostfront, wurde 1942, an der Hand verwundet, in | |
ein Krankenhaus gebracht. Der Verdacht der „Selbstverstümmelung“ brachte | |
Borchert Einzelhaft ein, aber keine Verurteilung – er musste neuerlich an | |
die Front. | |
Aufgrund fortdauernder Krankheit und kurz vor der Entlassung als | |
frontuntauglich wurde er festgenommen, weil er politische Witze erzählt | |
hatte, und wegen Wehrkraftzersetzung verurteilt – 1944 allerdings war dem | |
Regime ein Kriegseinsatz wichtiger. Als Borchert 1945 bei Frankfurt in | |
Gefangenschaft geriet, konnte er fliehen und machte sich nach Hamburg zu | |
seinen Eltern auf – zu Fuß. Seine Gelbsucht verschlimmerte sich, es fehlte | |
an Medikamenten. Freunde und Förderer ermöglichten ihm einen | |
Erholungsaufenthalt in der Schweiz. | |
## Grob konstruiertes Sprachhandwerk | |
Borcherts bekanntestes Drama heute erneut zu lesen, lässt an einen | |
Holzschnitt denken, an grob konstruiertes Sprachhandwerk. Statt der | |
emotionalen Sogwirkung bei der Erstlektüre stellt sich Ernüchterung ein. | |
Hans-Gerd Winter erinnert sich, wie stark Borcherts Antikriegsappell „Sag | |
NEIN!“ in der Friedens- und Antiatombewegung der 1970er- bis 1990er-Jahre | |
wirkte: Ida Ehre, die Intendantin der Hamburger Kammerspiele, trug den Text | |
im Volksparkstadion vor 25.000 Demonstrant*innen vor. Sein posthum | |
veröffentlichtes „Das ist unser Manifest“ ist eine moralisch-mächtige | |
Absage an jeden Krieg. | |
Doch sollte man Borchert nicht nur als pazifistischen Autor lesen. „Wir | |
stellen Borchert als wichtigen Hamburg-Autor in seiner Vielfalt vor. Er | |
hatte einen großen Sinn fürs Kabarettistische, fürs unterhaltsam Komische“, | |
sagt jetzt Konstantin Ulmer: Für ihn seien „die großartigen | |
Kurzgeschichten“ wichtig oder „knappe Texte wie ‚Die Küchenuhr‘“: Sie | |
zeigten Borcherts eigene literarische Stimme – die eines Autors „für alle, | |
die sich nicht oft mit Literatur beschäftigen. Das Atmosphärische in seinen | |
Texten macht die Gefühlswelt der Nachkriegszeit, die Beklemmung spürbar“. | |
19 Apr 2021 | |
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## AUTOREN | |
Frauke Hamann | |
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