| # taz.de -- Kolumne Lidokino: Schwarzbilder und Schwanensee | |
| > Sergei Loznitsa montiert Archivmaterial aus der Zeit des Putsches gegen | |
| > Gorbatschow neu. Es geht ihm um Wirrnis, nicht um Heroismus. | |
| Bild: Sergei Loznitsa bei den Filmfestspielen von Venedig. | |
| Während sich der Wettbewerb zäh gestaltet, überzeugen Dokumentarfilme, die | |
| außer Konkurrenz präsentiert werden. Der ukrainische, in Berlin lebende | |
| Filmemacher Sergei Loznitsa, dessen Dokumentarfilm „Maidan“ gerade in | |
| deutschen Kinos läuft, reist mit „Sobytie“ (“The Event“) an den Lido. … | |
| in früheren Arbeiten wie „Blokada“ (2006) erprobte Methode, Archivmaterial | |
| neu zu montieren und mit einer elaborierten Tonspur zu kombinieren, führt | |
| er hier fort. | |
| In „Blokada“ waren es Bilder aus der Zeit der deutschen Belagerung | |
| Leningrads, diesmal sind es Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die im August 1991 auf | |
| den Straßen und Plätzen der selben Stadt entstanden, in den Tagen, als | |
| kommunistische Funktionäre gegen den Staatspräsidenten Gorbatschow | |
| putschten und in vielen Orten der Sowjetunion den Ausnahmezustand | |
| verhängten. | |
| Loznitsa unterlegt die Schwarz-Weiß-Bilder mit Radioübertragungen und | |
| Ansprachen von Politikern und Protestierenden. Manchmal laufen die Texte | |
| frei, lösen sie sich von dem, was man sieht, und man weiß dann nicht genau, | |
| wer spricht und in welchem Kontext er es tut. Schwarzbilder dienen als | |
| Zäsur, und immer wieder erklingen Ausschnitte aus Tschaikowskys | |
| „Schwanensee“. Das geschieht nicht aus einer Laune heraus, sondern weil die | |
| Sender, die unter Kontrolle der Putschisten standen, Aufzeichnungen von | |
| Inszenierungen des Bolschoi-Balletts ausstrahlten. | |
| Die Leningrader versammeln sich auf dem Platz vor der Eremitage oder vor | |
| dem Rathaus, mal sind sie von einem höheren Standpunkt aus gefilmt, mal | |
| streift die Kamera durch die Menge, nimmt Gesichter wahr, die Angst und die | |
| Ratlosigkeit darin, die Müdigkeit, aber auch den Zorn. | |
| ## Unheimlicher Vorbote neuer Repression | |
| Es ist eine Situation, die sich, wenn überhaupt, erst aus der Rückschau | |
| heraus begreifen und interpretieren lässt. Im Augenblick ihres Geschehens | |
| ist sie unübersichtlich und wirr. Wer warum und in welchem Interesse | |
| agiert, lässt sich nicht durchschauen – was den Tatendrang der Menge nicht | |
| bremst. Spontan bilden sich Kollektive, und Barrikaden werden errichtet. | |
| Genau um diese Wirrnis geht es Loznitsa, nicht um Heroismus. Am Ende des | |
| ersten Leningrad-Films, „Blokada“, stehen keine Bilder des Triumph aus der | |
| endlich nicht mehr eingekesselten Stadt, sondern Aufnahmen von der | |
| Hinrichtung derjenigen, die als Kollaborateure identifiziert wurden. Gegen | |
| Ende von „Sobytie“ holen Männer auf dem Dach des Rathauses die sowjetische | |
| Flagge ein und hissen an deren Stelle die russische Trikolore. Der Platz | |
| vor dem Gebäude ist nun fast leer, die Menschen sind nach Hause gegangen. | |
| Kurz zuvor hielt der Bürgermeister Anatoli Sobtschak eine flammende | |
| Ansprache, in der er den Staatsstreich verdammt. Für einen Augenblick sieht | |
| man auf dem Rednerpodium auch Wladimir Putin, der seinerzeit Mitarbeiter | |
| Sobtschaks war. Von heute aus fällt es schwer, in ihm nicht den | |
| unheimlichen Vorboten neuer Repression zu erkennen. | |
| 8 Sep 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Cristina Nord | |
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