# taz.de -- Filmfestival DOK Leipzig: Selfies vor dem Grauen | |
> „Austerlitz“ ist kein Holocaust-Film, betont Regisseur Sergei Loznitsa. | |
> Es geht darum, wie wir uns im Angesicht des Todes verhalten. | |
Bild: Gedenkstättentoursimus: Besucher besichtigen Verbrennungsöfen | |
LEIPZIG taz | Nackte, in Sandalen gequetschte Füße sind zu sehen, | |
Fotoapparate, die auf Brüsten oder dicken Bäuchen ruhen, Sonnenbrillen. | |
Touristen also, die zu Hunderten miteinander, gegeneinander und aneinander | |
vorbeilaufen, sich unterhalten und gemeinsam lachen. Es ist heiß, und all | |
das könnte die Beschreibung eines fröhlichen Sonntagsausflugs sein. | |
Doch die jungen Frauen, die kurz ihre Haare richten, um sich dann ablichten | |
zu lassen, machen das nicht am Strand, sondern vor einem schmiedeeisernen | |
Tor mit dem eingelassenen Schriftzug: „Arbeit macht frei“. Besondere | |
Begeisterung kommt auf, als sich auch noch ein Mann mit Kippa dort | |
positioniert. Direkt dahinter erstreckt sich der ehemalige Appellplatz des | |
KZs Sachsenhausen. | |
Zu sehen sind diese Szenen im schwarz-weiß gehaltenen Dokumentarfilm | |
[1][„Austerlitz“], der beim [2][DOK-Filmfestival] am Internationalen | |
Wettbewerb teilnimmt. Regisseur Sergei Loznitsa hat an fast allen | |
ehemaligen Konzentrationslagern in Deutschland Kameras aufgestellt und | |
Menschen bei ihrem Besuch in den Gedenkstätten gefilmt. | |
Die Kamera bewegt sich nicht, 94 Minuten lang hält sie einfach nur fest. | |
Das Bild wechselt zwar zwischen Orten in Dachau und Sachsenhausen, doch der | |
Fokus steht still. „Ich wollte keine sich bewegende Kamera, weil ich auf | |
niemanden den Fokus legen wollte“, sagt Loznitsa. | |
## Loznitsa will nicht maßregeln und blamieren | |
Was er denn eigentlich mit seinem Film wollte, ist schwer aus ihm | |
herauszukriegen. Loznitsa ist ein eigenwilliger, ukrainischer Regisseur. | |
Mit seiner Hand, an der ein pompöser goldener Ring sitzt, schiebt er | |
immerzu seine grauen Haare zur Seite. Er möchte Menschen nicht ergriffen | |
zurücklassen, nicht maßregeln, nicht belehren. Er will sie auch nicht | |
blamieren oder beleidigen, indem er zeigt, dass sie sich – konfrontiert mit | |
dem Tod – schlichtweg wie gewöhnliche Touristen verhalten. | |
Man sieht Besucher, denen zum Großteil offenbar langweilig ist, zu heiß, | |
einige rauchen, andere schlendern wohl nur hindurch, weil sie es müssen. Ob | |
sie nun eine berühmte Kathedrale oder ein Krematorium fotografieren, | |
scheint nicht der Rede wert zu sein. Trotzig bleibt die Standkamera von | |
Regisseur Loznitsa, wo sie ist. Sie bekommt auch ohne Bewegung, was sie | |
will. | |
Loznitsa habe Fragen. Unendlich viele. Warum sich Menschen so benehmen und | |
ob sie überhaupt anders könnten, sind zwei davon. „Sie wissen nicht, wie | |
sie sich im Angesicht des Todes zu verhalten haben. Es wurde ihnen nicht | |
beigebracht, sie haben es nicht gelernt. Sie mussten es nicht lernen.“ Es | |
bestehe keine Notwendigkeit, sich mit dem Tod auseinanderzusetzen. Ein | |
Grund dafür sei die „Abwesenheit der Angst vor Krieg und Leid“. | |
Warum besuchen Menschen dann trotzdem in Scharen ehemalige | |
Konzentrationslager? Auch das ist eine jener Fragen, die Loznitsa umtreibt. | |
Doch immer wieder betont er, dass er kein Wissenschaftler, Soziologe oder | |
Hellseher sei – sondern eben nur ein Filmregisseur, der festhalten kann, | |
was er sieht. Zu den Massenaufläufen in Dachau und Sachsenhausen sagt er: | |
„Menschen imitieren das Verhalten der Masse, sie sind geradezu abhängig | |
davon.“ | |
Und dann schiebt er noch etwas ein: „Unsere Beziehung zum Tod und die Art | |
und Weise, wie wir uns an Gedenkstätten verhalten, zeigt uns, wie unsere | |
Zukunft als Gesellschaft aussieht.“ Das Grauen als Event, die Begegnung mit | |
dem Tod – Loznitsa will eigentlich nur, dass die Menschen darüber | |
nachdenken. Ihr Verhalten reflektieren. Und es diskutieren. | |
4 Nov 2016 | |
## LINKS | |
[1] https://films2016.dok-leipzig.de/de/film/?ID=14352&title=Austerlitz | |
[2] https://www.dok-leipzig.de/ | |
## AUTOREN | |
Hanna Voß | |
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