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# taz.de -- Dokumentarfestival DOK Leipzig: „Von Filmen angezündet werden“
> Ralph Eue, Programmchef des DOK Leipzig, über das Auswahlverfahren und
> den Blick zurück in die Geschichte des 60-jährigen Festivals.
Bild: Über 2000 Filme hat Ralph Eue in Vorbereitung auf das DOK Leipzig gesich…
taz: Herr Eue, Sie sind in diesem Jahr Programmchef des DOK Leipzig und
Vorsitzender der Auswahlkommission. Insgesamt haben Sie 2.828
Dokumentarfilme aus 53 Ländern gesichtet. Können Sie sich überhaupt noch an
alle Filme erinnern?
Ralph Eue: Da sprechen Sie einen wunden Punkt an: Sich an alle Filme zu
erinnern, wäre eine übermenschliche Fähigkeit. Wir arbeiten in der
Kommission alle mit unterschiedlichen Hilfsmitteln, etwa Eselsbrücken, um
einen Film wieder abzurufen. Hatte einer aus der Gruppe dann mal einen Film
nicht gleich parat, half meist ein Stichwort. So geriet kein Film in
Vergessenheit.
Wie sieht so eine Eselsbrücke aus?
Am Eröffnungsfilm „Betrug“ kann man das gut erklären. Er ist in seiner
Machart sehr reduziert. Die Geschichte wird allein von einem Sofa aus
erzählt. Hätte ich mich nicht mehr an den Film erinnern können, der Hinweis
„Na, das ist doch der mit dem grauen Sofa“ hätte gereicht. Dann wäre mir
alles wieder präsent gewesen.
Vor Ihnen war Grit Lemke Vorsitzende der Auswahlkommission. Sie prägte das
DOK Leipzig seit der Wende entscheidend mit. In diesem Jahr wurde die
sechsköpfige Kommission neu zusammengesetzt. Wie lief die Zusammenarbeit?
Der Wechsel von Grit Lemke zu mir fand leider nicht in aller Harmonie
statt. Es gab verschiedene Konflikte, auf die ich aber nicht näher eingehen
möchte. Von der alten Auswahlkommission blieben nach Lemkes Weggang
letztlich drei Leute übrig. Ich wollte nicht neue Leute um mich scharen,
die den gleichen Geschmack wie ich haben. Im Gegenteil: Wir haben alle ganz
unterschiedliche Biografien. Das spiegelt sich auch im diesjährigen
Programm wider. Bei einem Großteil der Filme gab es Diskussionen, darunter
auch heftige Konflikte. Abstimmungen haben wir uns gegenseitig verboten –
auf faule Kompromisse hatten wir keine Lust. Wir haben versucht, die
anderen durch unsere Leidenschaft für den jeweiligen Film zu überzeugen.
Wie lief der Auswahlprozess ab?
Die Sichtung der Filme begann im April und endete im August, dabei musste
jeder Film mindestens von einer Person gesehen werden. War er
vielversprechend, kam eine zweite Person hinzu, bis ihn am Ende die ganze
Gruppe sah. Alle aus der Auswahlkommission haben ein Tagespensum von 25
Filmen, so werden wir laut Vertrag bezahlt. Schafft man diese Anzahl nicht,
wird der Tagessatz auf alle weiteren Tage verteilt. Ich selbst schaffe
nicht mehr als zehn Filme am Tag und selbst das ist die Ausnahme. Ich
brauche also mindestens zwei Tage für das offizielle Pensum. Das ist das
harte Los der Festivalarbeit, aber so ist eben die aktuelle Situation.
Wie entscheidend ist der eigene Filmgeschmack bei der Auswahl?
Uns allen wäre es zu banal, wenn das offizielle DOK-Programm ein Best-of
unserer Geschmäcke wäre. Wir versuchen, unseren eigenen Geschmack infrage
zu stellen. Also frei nach dem Regisseur Christoph Schlingensief: „Was
interessieren mich meine eigenen Vorurteile.“ Und Geschmack hat eben viel
mit Vorurteilen zu tun. Mir ist ein Film lieber, wenn er gar nicht meinen
Vorlieben entspricht. Wenn er mich dann trotzdem packt, wirkt er viel
nachhaltiger als Filme, die ich geschmacklich eh gut finde.
Was ist Ihnen bei einem Dokumentarfilm besonders wichtig?
Ich will von einem Film in zehn Minuten überzeugt sein. Er muss plausibel
machen, warum er so ist, wie er ist. Letztes Jahr gab es etwa einen Film
über Hundesoldaten bei der Bundeswehr, was mich zunächst überhaupt nicht
interessiert hat. Zehn Minuten später war ich Feuer und Flamme – das ist
der Idealfall. Ich möchte von einem Film angezündet werden, er muss mich
begeistern. Dieses „naive“ Berührtwerden möchte ich mir unbedingt erhalte…
Da kann man dann im Nachgang drüber reden und das rationalisieren, aber
wenn es diesen einen Moment nicht gibt, dann hat es ein Film schwer.
Wie sehen Sie Ihre neue Rolle als Programmchef beim DOK Leipzig?
Letztlich trage ich für die Entscheidungen, die wir in der Kommission
treffen, die Verantwortung. Mir ist es wichtig, die verschiedenen Elemente
des DOK-Programms miteinander in Beziehung zu setzen. Das Jubiläumsprogramm
ist nicht nur eine Sammlung aus eigenständigen Filmen, sondern ein
komponiertes Ganzes – aus verschiedenen Stimmlagen, Stilen und Ländern. Ich
sehe mich als Treuhänder, dem die Geschichte des DOK übergeben worden ist.
Angesichts des oben angesprochenen personellen Wechsels gab es ja die
Befürchtung, dass sich das DOK Leipzig von seinen Wurzeln entfernt. Als
Historiker finde ich diesen Vorwurf absurd: Mir geht es gerade darum, die
Festivalwurzeln zu pflegen.
Zum 60-jährigen Jubiläum spielt Geschichte auch programmatisch eine
wichtige Rolle. In der Retrospektive werden etwa filmische Strategien
totalitärer Regime seit 1917 beleuchtet. Inwieweit berührt uns dieses Thema
auch heutzutage?
Sehr stark. Wir haben uns für das Programm angeschaut, wie sich
kommunistische Regime mithilfe von Medien selbst inszeniert haben.
Schlüsselerlebnis war für mich die Geschichte der Oktoberrevolution – wie
wurde sie auf Plakaten und in Filmen dargestellt? Frei nach Marx schauen
wir mit unserem Retrospektive-Programm, wie sich Ereignisse aus der
Geschichte des Kommunismus heute als Farce wiederholen. Schaut man sich
etwa die typische Lenin-Pose an, merkt man, dass sich auch der
Trump-Wahlkampf in seiner Bildrhetorik explizit auf Lenin und die
Bolschewiken bezogen hat. Man stellt da erschreckende Parallelen fest. Mir
war es deshalb besonders wichtig, die Retrospektive für ein jüngeres
Publikum attraktiv zu gestalten.
Was ist Ihre persönliche Verbindung zum Dokumentarfilm?
Ich würde mich selbst als Spätzünder im Bereich Dokumentarfilm bezeichnen.
Erst seit Anfang 30 interessiere ich mich für diese Art Film. Ein
Schlüsselerlebnis war die Begegnung mit Marcel Ophüls und den Machern der
Zeitschrift Filmkritik, bei der ich dann auch gearbeitet habe. Da hat sich
ein Schalter umgelegt und ich habe festgestellt: Es gibt mehr als nur
Spielfilme.
Was kann ein Dokumentarfilm, was ein Spielfilm nicht kann?
Der Spielfilm baut sich seine eigene Wirklichkeit, das geht beim
Dokumentarfilm nicht. Vielmehr nimmt er die Wirklichkeit zur Kenntnis und
muss mit dem arbeiten, was bereits vorhanden ist. Zwar baut auch der
Dokumentarfilm eine eigene Erzählung auf, aber die gezeigten Erlebnisse
finden nur in diesem einen, gezeigten Moment statt. Ich denke, dass der
Dokumentarfilm von seinem Wesen her viel mehr der ursprünglichen Kinoidee
entspricht als der Spielfilm.
29 Oct 2017
## AUTOREN
Denis Giessler
## TAGS
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