# taz.de -- Filmemacher über Erinnerungskultur: „Sie haben diese Zeit nicht … | |
> Der Dokumentarfilm „Austerlitz“ zeigt das Verhalten der Besucher von | |
> Holocaust-Gedenkstätten. Regisseur Sergei Loznitsa über Zeitzeugen und | |
> Grenzen des Erinnerns. | |
Bild: „Für mich sagt das viel über die Zukunft“ – Sergei Loznitsa über… | |
taz: Herr Loznitsa, wer [1][Ihren Film] anschaut, sieht zunächst einmal | |
viele Menschen. Reisegruppen, Familien, Einzelpersonen, die sich durch | |
Gebäude, Tore und über Gehwege drängen. Zerstört der Massentourismus die | |
Idee des Gedenkens? | |
Sergei Loznitsa: Das kann ich nicht sagen. Aber mit meinem persönlichen | |
Hintergrund ist es sehr befremdlich, das Verhalten der Leute in den | |
Gedenkstätten zu sehen. Ich lese daraus Respektlosigkeit gegenüber den | |
Opfern und der gesamten Situation. Vielleicht liege ich da aber auch falsch | |
und ich gehöre einer alten Generation an. | |
Die gute Nachricht ist ja, dass immer mehr Menschen Gedenkstätten besuchen. | |
Es wäre doch viel bedenklicher, wenn niemand mehr käme, oder? | |
Ich kann verstehen, wenn Leute nicht zu diesen Orten gehen wollen. Was | |
sollen Menschen denn dort? Es gibt Steine, die Zeugen von Tötungen geworden | |
sind. Man lernt technische Details kennen. Wie eine Fabrik Menschen zu | |
Staub gemacht hat. Wofür brauche ich dieses Wissen? Ich kann das alles in | |
Büchern nachlesen. | |
Aber sind Gedenkstätten nicht auch Mahnmale, damit so etwas wie der | |
Holocaust nie wieder passiert? | |
Diese Orte bewahren nicht davor, dass sich so etwas wiederholt. Der einzige | |
Grund, dorthin zu gehen, ist, um zu beten, zu weinen und der Opfer zu | |
gedenken. Denn es sind große Friedhöfe. | |
Als Zuschauer Ihres Films schwankt man zwischen Empörung und Mitgefühl. | |
Wenn die Besucher in Dachau nun mal Hunger haben, dann sollen sie essen. | |
Auch in einer Gedenkstätte . . . | |
Natürlich kannst du niemandem verbieten zu essen. Das zu verurteilen wäre | |
lächerlich. Aber vielleicht ist das nicht der richtige Ort. Da geht es um | |
einen schmalen Grat. Es ist etwas Ethisches, etwas Kulturelles. Was mir | |
aber vor allem aufgefallen ist: Die Leute an diesen Orten sind | |
international. Es gibt nicht nur Deutsche, auch Amerikaner, Australier, | |
spanischsprachige Menschen. Aber irgendwie verhalten sich alle Leute | |
ähnlich. Sie sind auf eine interessante Art und Weise gleich. | |
Die Menschen in Ihrem Film schauen und schauen und schauen. Aber da ist | |
niemand, der ihnen wirklich etwas erklärt. Wie wichtig sind Zeitzeugen für | |
die Erinnerung? | |
Eine Situation zu erleben und von ihr zu hören sind zwei grundverschiedene | |
Dinge. Deshalb verändert sich auch das Verhalten der Leute in | |
Gedenkstätten. Sie haben diese Zeit nicht erlebt. Und ich bin skeptisch, ob | |
sie verstehen werden, wenn Sie Zeitzeugen treffen. Aber trotzdem: Wie | |
können wir diese Erinnerung organisieren, oder ist das überhaupt möglich? | |
Das ist auch Thema meines Films. | |
In einer Szene lässt sich eine junge Frau vor einem Tor mit der Aufschrift | |
„Arbeit macht frei“ ablichten. Danach ist sie nur noch damit beschäftigt, | |
zu überprüfen, wie sie auf dem Bild aussieht . . . | |
Sie haben ja gerade gesagt, es sei gut, dass viele Leute kommen. Ich weiß | |
nicht, ob das allein eine gute Nachricht ist. Zumindest wenn Sie kommen, | |
Fotos machen und sich dann nur für ihr Aussehen interessieren. Für mich | |
sagt das viel über die Zukunft. Und da mache ich mir wirklich Sorgen. | |
Sie sind pessimistisch, was die Zukunft betrifft? | |
Eine zentrale Idee ist ja immer noch da. Die Einteilung von Menschen nach | |
ihrem Pass. Es kommt nicht darauf an, wer du bist, sondern welchen Pass du | |
hast. | |
Sind wir auf dem Weg in autoritäre Strukturen? | |
Es kommt darauf an, wie gebildet und wie verantwortungsvoll die Menschen | |
sind. Jetzt gibt es in Deutschland eine Demokratie. Du kannst dort | |
arbeiten, schreiben und diskutieren. Das heißt aber nicht, dass das auch | |
morgen noch so sein wird. Wir müssen jeden Tag unseres Lebens dafür | |
kämpfen. | |
11 Apr 2017 | |
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## AUTOREN | |
Jonas Seufert | |
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