# taz.de -- Sergei Loznitsa über seinen Film Donbass: „Den Horror nicht am A… | |
> In 13 Episoden Tragik-Farce schildert Sergei Loznitsas Film „Donbass“ die | |
> Entmenschlichung in den okkupierten ukrainischen Gebieten. | |
Bild: Demütigung am Check-point: Still aus „Donbass“ | |
Der Mob prügelt einen Wehrlosen fast tot; die Separatisten wissen nicht, | |
wer sie anführt; eine Hochzeit gerät aus den Fugen; „Besitzenden“ wird das | |
Auto abgenommen … für die neue Macht. Hemmungslos der Diebstahl, kaltblütig | |
der Mord: ein Irrsinn, dargeboten im Grenzbereich von authentischer | |
Absurdität und Meta-Fake-News. | |
taz: Ist „Donbass“ eine grausam-groteske Maskerade? | |
Sergei Loznitsa: Ich würde es Karneval nennen, die Performance von etwas, | |
dem gegenüber du dich nicht ernsthaft verhältst, das aber eigentlich sehr | |
ernst ist. Wie das Michail Bachtin für François Rabelais beschrieben hat. | |
Das mittelalterlich Karnevaleske mischt sich in „Donbass“ aber mit | |
hyperrealem Material, quasi found footage. | |
Natürlich! Nichts entsteht einfach so. Kunst fängt immer die Intonationen | |
auf, die es in der Realität gibt. Wer sagt denn, dass das | |
(post-)sowjetische Territorium, das ich beschreibe, nicht vom | |
mittelalterlichen Bewusstsein handelt? All diese Vasallen und Souveräne, | |
das sind Konstruktionen, die mit der Neuzeit nichts zu tun haben. | |
Was wir da alles zu sehen bekommen, ist also nicht erfunden, sondern | |
gefunden? | |
Zunächst gilt für jedes Kunstwerk, dass es immer beides geben muss. Aber | |
mein Ausgangspunkt waren Videoclips, die ich auf Youtube fand, von | |
irgendwelchen Leuten, die das festhielten und ins Internet stellten. Sieben | |
von dreizehn Episoden meines Films gehen direkt auf diese Videos zurück; | |
die stimmen sogar im Wortlaut fast komplett überein. Ich habe nur noch ihre | |
Dramaturgie verstärkt und jeder Episode ein Ende gegeben. Aber die Episoden | |
selbst – wie zum Beispiel die, in der die Kriegsgefangenen ihre Kameraden | |
brutal mit Stöcken knüppeln – das geschah in der Stadt Sugres, davon gibt | |
es ein Video. Auch von dieser absurden Hochzeit gibt es eins. | |
Die Hochzeit kommt nicht von Gogols Komödie „Die Heirat“? | |
Doch, auch! (lacht) Beides – reale Hochzeit und Gogol. Warum nehme ich | |
diese Episode? Weil der Karneval mit den Ritualen kämpft, sie zerstört. An | |
diesen Bruchstellen beginnen die Alltagsrituale zu zerfallen. Geburt, | |
Hochzeit, Tod – sie formieren das Leben. Hier wird das Ritual gestört – die | |
Hochzeit wird ja zu einer regelrechten Feier des Ungehorsams –, das ist | |
charakteristisch für die Umstände, von denen ich erzähle, in denen eine | |
totale Transformation der Gesellschaft passiert. Das kann progressiv oder | |
regressiv verlaufen. Hier natürlich geht es um Regression. | |
Was hat Sie an diesen Videos fasziniert? | |
Wie die Anwesenheit der Kamera eine Art Bühnenwirksamkeit der Menschen | |
bewirkt. Jeder dort weiß, dass er Teil einer großen Performance ist, | |
zumindest intuitiv. Sie spielen jemand. Sie haben keine eigenen Ideen, sind | |
reine Instrumente. Viele benehmen sich dabei so, wie es ihnen das | |
sowjetische Kino beigebracht hat. | |
Zum Beispiel? | |
Der Kopfstein ist die Waffe des Proletariats. Da werden Barrikaden gebaut, | |
Molotowcocktails gebastelt, Paraden abgehalten. All diese Traditionen leben | |
per Trägheitsgesetz weiter, über Jahrzehnte. Wir haben unzählige Filme über | |
Partisanen, den Krieg, die Revolution. All diese herrlichen Filme wie | |
„Maxims Jugend“. Das sitzt im Blut. Die Menschen wissen sofort, wie sie | |
sich benehmen müssen, in jeder Situation. Als die ukrainischen | |
Kriegsgefangenen durch die Straßen von Donezk geführt und der Bevölkerung | |
vorgeführt wurden, da wussten die Zivilisten sofort, dass man schreien muss | |
und spucken, protestieren und mit Steinen werfen. Woraus ist diese | |
Einstellung genommen? (zwinkernd) Aus „Blokada“ zum Beispiel (Anm. d. Red.: | |
Loznitsas Found-Footage-Film über die Leningrader Blockade). | |
Das Kino generiert dieses Verhalten? | |
Ich bin davon überzeugt. | |
Wie wird in Ihrem Film damit umgegangen? Mit diesem Verwirrspiel von Fake | |
und authentisch, inszeniert und real? Zeigen Sie Ihren Akteuren diese | |
Videos? | |
Einigen schon, etwa die Szene im Rathaus, wo die Bürgermeistergattin und | |
die Journalistin sich in die Haare kriegen (Anm.: Weil Letztere dem | |
Bürgermeister einen Eimer Scheiße über den Kopf gießt). Es ging darum, den | |
genauen Ton zu erhalten. | |
Sie arbeiten mit Profis und Laien. | |
Genau. Wer wer ist, lässt sich nicht mehr unterscheiden. Wir hatten Glück | |
bei der Auswahl, von 100 Leuten waren nur 26 Profischauspieler. Die | |
Vermischung ist sehr wichtig für den Film, der ja in Wellen daherkommt: Mal | |
wird gespielt, mal kommt ganz plötzlich diese schreckliche Kälte der | |
Realität zum Vorschein. | |
Ein authentischer Horror. | |
Wie in der letzten Szene, in der nur noch das aufgeräumt werden muss, was | |
von den „Handlungen“ der Militärs übrigbleibt. Die Ärzte und Kriminalist… | |
die ich filme, machen hier ihre wirkliche Arbeit. Für sie ist das leicht. | |
Es ist faszinierend zu sehen, wie professionell und mechanisch sie inmitten | |
dieses Horrors ihrer Arbeit nachgehen. | |
Und die „Schauspieler“, die im Wohnwagen für ihren Auftritt präpariert | |
werden? | |
Die dann die fiktiven TV-Nachrichten spielen? Das sind wenig bekannte | |
Schauspieler, ja. | |
Aber gibt es das auch in Wirklichkeit? | |
Natürlich! Das ist bekannt: In der Ukraine gibt es einige Personen, immer | |
wieder dieselben Gesichter, die in unterschiedlicher Kleidung und Make-up | |
an unterschiedlichen Orten auftauchen. Neulich sah ich einen Beitrag im | |
russischen Fernsehen, auf Ren-TV, über die Premiere des Films „Sobibor“ in | |
Warschau. Da trat eine Frau auf, die als „israelische Botschafterin“ | |
betitelt wurde. Ich wurde stutzig, ihr Benehmen, ihre Stimme, ihre | |
protzigen Ringe und dicken Lippen … Ich hängte mich ins Internet und fand | |
die echte Botschafterin. Die im Fernsehen war eine Schauspielerin! | |
Die Rahmung des Films handelt von der Herstellung solcher Fake News. Mit | |
bösem Ende für die Darsteller. | |
Ich wollte zeigen, dass – und das ist die Regel – diejenigen, die mitmachen | |
und mit dem Teufel kooperieren, zu Opfern werden. Am Ende meines neuesten | |
Films „Trial“ (Anm.: einem Archiv-Footage-Film über die Stalin’schen | |
Schauprozesse) führe ich die Schicksale der Prozessführer einzeln an: Die | |
Staatsanwälte wurden später genauso erschossen wie diejenigen, die sie | |
angeklagt und verurteilt hatten. | |
Gibt es in Ihrem Drehbuch eine Gewichtung der Scheußlichkeiten? | |
Klarerweise. Ich kann ja nicht den ganzen Horror gleich am Anfang zeigen. | |
Das Gesetz des Kinos verlangt nach Kulmination, erst am Ende zeigt man | |
etwas, das so schockiert, dass danach der Film aus sein muss. Der Tod | |
völlig unschuldiger Menschen im Autobus, der beschossen wird, während er an | |
einem Checkpoint wartet, ist für mich erschütternd. Bei Wolnowacha war das, | |
absolut entsetzlich. Der Krieg ist insgesamt natürlich schrecklich, aber | |
dieses Bild ist der reinste Horror. Das ist mein Kulminationspunkt. Davor | |
kommt ein grotesker Moment. | |
Wollen Sie, dass gelacht wird? | |
Klar, ich lache da selbst. Die Dame mit der Ikone etwa – völlig absurd. | |
Gerade in Situationen, wo alles labil ist und unklar, kommen solche | |
Abenteurer zusammen. Auch davon gibt es ein Video – im Original spricht die | |
Dame übrigens noch wunderlicher … | |
War es nicht verlockend, diese Clips in den Film aufzunehmen? | |
Beim Festival in Krakau, gleich nach Cannes, habe ich einen Workshop | |
gemacht – einen Szenenvergleich Video-Footage versus Film. Das war auch für | |
mich interessant herauszufinden, ab welchem Punkt der künstlerische Wert | |
verloren geht, bei zu viel Nähe zum „Leben“. | |
Und die spezifische Episodenstruktur? | |
Es gibt das auch bei Buñuels „Le fantôme de la liberté“: Ein Staffelholz | |
wird von Episode zu Episode weitergereicht … Aber ich wusste schon vorher: | |
Es hätte niemals nur einen Helden geben können. Ich wollte die ganze | |
Palette dieses Wahnsinns zeigen, der da gerade vor sich geht. | |
Wie lässt sich dieser Wahnsinn in „Donbass“ beschreiben? | |
Der Film hat nur ein Thema: die Korruption in all ihren Erscheinungsformen | |
– die der Moral, im wörtlichen Sinn, der Wertezerfall. Der Krieg ist | |
genauso eine Krankheit wie die Pest. | |
Auf anthropologischer Ebene … | |
… passiert: die reinste Dehumanisierung. Das begann, als die Moral fiel und | |
alles erlaubt war. Im Jahr 1917 kam das an die Oberfläche. Nachzulesen bei | |
Bunin, Rosanow oder Prischwin. Heute ist er wieder am Ruder: der | |
amoralische Mensch. | |
29 Aug 2018 | |
## AUTOREN | |
Barbara Wurm | |
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