# taz.de -- Ukrainischer Regisseur über Dokus: „Krieg wirkt wie ein Virus“ | |
> Sergei Loznitsa hat einen Dokumentarfilm über Luftkriege gemacht. Der | |
> ukrainische Regisseur über die Zivilbevölkerung und Töten als | |
> Selbstzweck. | |
Bild: Mit historischem Material über Kriege nachdenken: Szene aus „Luftkrieg… | |
Zu seinem Dokumentarfilm „Luftkrieg – Die Naturgeschichte der Zerstörung“ | |
ließ sich der ukrainische Regisseur Sergei Loznitsa inspirieren vom Buch | |
„Luftkrieg und Literatur“ (1999) des Schriftstellers W. G. Sebald. Dieser | |
fragte darin nach der Rolle der alliierten Bombardierung deutscher Städte | |
in der deutschen Nachkriegsliteratur. Das Buch löste seinerzeit eine | |
Debatte aus. [1][Loznitsa hatte zu Beginn des russischen Angriffskriegs | |
gegen die Ukraine in der taz gefordert, dass die Nato den ukrainischen | |
Luftraum sichern soll]. | |
taz: Herr [2][Loznitsa, nach Ihrem Film „Austerlitz“ aus dem Jahr 2016] | |
nähern Sie sich mit Ihrem neuen Dokumentarfilm „Luftkrieg – Die | |
Naturgeschichte der Zerstörung“ abermals einer Arbeit des Schriftstellers | |
W. G. Sebald an. Was fasziniert Sie am Werk des Autors und konkret am Essay | |
„Luftkrieg und Literatur“, der Vorlage Ihres Films, der von der Zerstörung | |
deutscher Städte wie Köln und Dresden während des Zweiten Weltkriegs | |
handelt? | |
Sergei Loznitsa: Der Grund, warum ich von Sebald angezogen und fasziniert | |
bin, ist, dass er in seinen Büchern unbeantwortbare Fragen aufwirft. | |
Fragen, die lange widerhallen und die nicht eindeutig zu klären sind, auch | |
nicht für unsere heutige Gesellschaft. Ich meine das nicht in einem | |
politischen oder ideologischen Sinne, sondern grundlegender. „Luftkrieg“ | |
handelt von der Möglichkeit, eine Zivilbevölkerung als Kriegsmittel | |
einzusetzen. Diese Idee kam zum ersten Mal während des Ersten Weltkriegs | |
auf, im Zweiten Weltkrieg aber wurde sie vollständig entwickelt und Teil | |
der Kriegsmaschinerie. | |
Was ist an dieser Idee im historischen Sinne einschneidend? | |
Seitdem die Zivilbevölkerung zu einem Ziel wurde, ist die Menschheit in | |
eine neue Phase der Militärgeschichte eingetreten. Vormals wurden Kriege | |
zwischen Armeen von Herrschern ausgetragen – man denke an den Krieg | |
zwischen Karl XII. und Peter dem Großen –, seit dem Krieg gegen die | |
Zivilbevölkerung aber ist der Krieg zu einem totalen geworden, der die | |
gesamte Nation, die gesamte Bevölkerung einschließlich der Zivilisten | |
einbezieht. | |
Der Militäreinsatz gegen die Zivilbevölkerung spielt auch in heutigen | |
Kriegen eine Rolle. | |
Das Konzept des totalen Krieges ist auch im russischen Krieg gegen die | |
Ukraine zu sehen. Ich fürchte, dieser Krieg wird weiter eskalieren, und | |
weitere Gebiete und Länder werden involviert werden. In dieser Situation | |
befinden wir uns im Augenblick. Ob wir wollen oder nicht. Es gibt daher | |
kaum ein Thema, das für unsere Zeit relevanter wäre als das des Films. | |
Der Untertitel Ihres Films – „Die Naturgeschichte der Zerstörung“ – is… | |
recht finsterer zivilisatorischer Befund. Sind Sie davon überzeugt, dass | |
der Mensch eine natürliche Tendenz zur Gewalttätigkeit, zum kriegerischen | |
Handeln hat? | |
Carl von Clausewitz beschreibt in seinem Buch über den Krieg das Phänomen | |
auf klare und präzise Weise. Clausewitz spricht davon, dass im Grunde die | |
gesamte Menschheitsgeschichte eine Geschichte der Kriege ist. Perioden des | |
Friedens erscheinen hier nur als notwendige Pausen zur Vorbereitung auf | |
einen neuen Krieg. Aus meiner Sicht haben wir Menschen noch nichts | |
unternommen, um diese Theorie von Clausewitz zu widerlegen. | |
Ihr aus Archivmaterial entstandener Film, den Sie nichtchronologisch | |
montieren, zeigt den Bombenkrieg der Westalliierten als ein | |
Kriegsverbrechen. Historisch ist die Einordnung umstritten. Waren die | |
Bombardierungen deutscher Städte nicht ein nachvollziehbares Mittel, | |
besonders hinsichtlich der Unterstützung breiter Teile der deutschen | |
Bevölkerung für das Naziregime? | |
Die Frage so zu stellen wirft uns meines Erachtens weit in eine | |
zivilisatorische Vergangenheit zurück, weil wir so den Begriff | |
individueller Verantwortung vernachlässigen und von einer Kollektivschuld | |
ausgehen. Eines der Ziele der Alliierten-Bombardierungen war es, das | |
deutsche Volk gegen seine Machthaber aufzubringen und eine mögliche Revolte | |
gegen die Nazi-Regierung herbeizuführen. Dieses Ziel aber wurde verfehlt, | |
das Gegenteil davon trat ein. | |
Wir müssen in diesem Zusammenhang von einem wichtigen Aspekt sprechen, dem | |
des technologischen, industriellen Fortschritts. In der Zeit, über die wir | |
sprechen, ist die Kriegsindustrie weit fortgeschritten, die Produktion von | |
Waffen wird zur Massenproduktion. Das Ergebnis dieses technologischen | |
Fortschritts ist am Beispiel der Zerstörung der Stadt Dresden zu sehen. Wir | |
sprechen nun aber ausschließlich von der Zerstörung der deutschen Städte. | |
Wir sollten, was dieses Prinzip angeht, natürlich auch von den | |
Bombardierungen der britischen, französischen und niederländischen Städte | |
sprechen. | |
Ob die Bombardements von deutschen Städten, die Ihr Film zeigt, militärisch | |
notwendig und zweckmäßig waren oder ob sie als Kriegsverbrechen zu werten | |
sind, darüber wird unter Historiker:innen bis heute diskutiert. Im | |
deutschen Kontext ist es wichtig, zu sehen, dass das Gedenken an die | |
Zerstörung, wie die der Stadt Dresden, von politisch Rechten regelmäßig | |
instrumentalisiert wird, um die deutschen Verbrechen zu relativieren. | |
Jetzt sprechen wir aber bereits über den Bereich Propaganda, ein Thema, mit | |
dem ich mich im Film nicht auseinandersetze. Das Beispiel erinnert mich an | |
die Sowjetunion, in deren Zeiten ich aufgewachsen bin. Immer wenn es dort | |
interne Kritik gab, weil etwas schieflief, gab es eine typische | |
ausweichende Antwort der Art: Aber in den Vereinigten Staaten gibt es auch | |
Missstände! Dort werden etwa schwarze Menschen diskriminiert und gelyncht. | |
Und so weiter. | |
Hier schien mir immer das Verfahren des Philosophen Platon ratsam, der im | |
entscheidenden Moment zur Sache zurückkehrte und zu sagen pflegte: Aber wir | |
sprechen doch von Griechenland! Mir geht es darum: Jeder Krieg ist | |
Wahnsinn. Es spielt keine Rolle, welcher Krieg und wer die Kriegsparteien | |
sind – er ist immer ein Akt des Irrsinns. Krieg wirkt wie eine Art Virus, | |
das sich ausbreitet. Ab einem bestimmten Zeitpunkt des Krieges wird die | |
Ursache des Kriegskonflikts irrelevant – das Töten wird zum Selbstzweck. | |
Ihre filmische Methode ist stets eine der Zurückhaltung. Ihre | |
Dokumentarfilme kommen ohne Einordnung des Gezeigten aus, ohne erklärendes | |
Voice-over und ohne die genretypischen talking heads. Sehen konnten wir das | |
zuletzt in Ihren [3][dokumentarischen Arbeiten über den Maidan], die | |
Leningrader Blockade und das Massaker von Babyn Jar. Die Montage der Bilder | |
und die sorgfältig erarbeitete Tonspur sollen für sich sprechen. Gerät aber | |
Ihre Methode nicht manchmal an Grenzen? Bräuchte es in „Luftkrieg“ nicht | |
mehr Kontext? | |
Meine Filme sind Einladungen, über Themen und Fragen nachzudenken, zu denen | |
auch ich keine klare Antwort besitze. Wenn ich mich in einem Film einer | |
Fragestellung widme, ist es, weil sie für mich selbst eine ungelöste ist. | |
Meine Filme entziehen sich Schwarz-Weiß-Kategorisierungen, so auch der | |
aktuelle. „Luftkrieg“ soll eine Einladung sein, über das Thema | |
nachzudenken. Da Sie die Tonspur erwähnen: Sie ist reichhaltiger und | |
intensiver als in meinen früheren Filmen. Ich habe hier auch zum ersten Mal | |
mit einem Komponisten zusammengearbeitet (A. d. R.: Vladimir Golovnitski). | |
Die Musik ist sehr präzise. Indem ich sie einführe, führe ich auch eine | |
bestimmte Sichtweise ein – den Blickwinkel eines Außenstehenden, eines | |
Zuschauers auf die Ereignisse. Der Ton spielt hier eine wichtige Rolle für | |
die Entwicklung der Dramaturgie des Films. | |
Welche Wirkung beim Publikum versprechen Sie sich damit? | |
Ich möchte, dass die Zuschauer über das Geschehene nachdenken und sich in | |
die Lage der Zivilisten versetzen, die unschuldig vom Kriegsgeschehen | |
betroffen waren. Der Film ist in dieser Hinsicht eine sehr immersive | |
Erfahrung geworden. Sie werden als Zuschauer in das Geschehen hineingezogen | |
und erfahren mit Haut und Haaren und ihrer Seele, was sich abgespielt hat. | |
13 Mar 2023 | |
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## AUTOREN | |
Chris Schinke | |
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