| # taz.de -- Kultur in der Ukraine: Das alte Lied | |
| > Dominika Tschekun singt traditionelle ukrainische Lieder. Sie ist ein | |
| > Star in ihrer Heimat – und Teil einer ukrainischen Identitätssuche. Ein | |
| > Besuch. | |
| Wir fahren und fahren. Draußen Flachland. Birken, Eichen, Kiefern, | |
| aufgestellt wie in Reih und Glied. Unser Ziel: Stari Koni, ein Dörfchen an | |
| der Grenze zu Belarus, im entlegensten Winkel der Westukraine, das nicht | |
| einmal Google Maps kennt. Auf dem Weg dahin immer wieder Straßensperren, | |
| eine nicht enden wollende Slalomfahrt zwischen Militär-Checkpoints, gebaut | |
| aus Panzersperren, Autoreifen, Sandsäcken. Gelegentlich rumpelt unser | |
| Wagen durch ein Schlagloch. | |
| Im Radio läuft Popmusik. Ein Cover des russischsprachigen Kriegsliedes „Ja | |
| soldat“ („Ich bin Soldat“) der Band 5’nizza. Diese Version des Liedes i… | |
| ukrainisch. | |
| Ich bin Soldat – glaubt mir, ich wollte nie Krieg. | |
| Ich bin Soldat und spucke auf offene Wunden. | |
| Ich bin Soldat, wir sind Söhne eines freien Landes | |
| Ich bin Held und sie werden Romane über mich schreiben. | |
| Sprache ist [1][in der Ukraine eine sensible Angelegenheit]. Seit einigen | |
| Monaten darf Musik von Interpreten, die nach der ukrainischen | |
| Unabhängigkeitserklärung von 1991 die russische Staatsbürgerschaft haben | |
| oder hatten, nicht mehr in der Öffentlichkeit gespielt werden. | |
| In Stari Koni lebt die alte Bäuerin Dominika Tschekun, [2][die alle nur | |
| Baba „Oma“ Dania nennen]. Erst im Alter von fast 80 Jahren wurde sie ein | |
| Star. Jetzt, wo im ganzen Land Artilleriegeschosse dröhnen, feiert die | |
| Kulturszene in Lwiw und Kyjiw mit Ehrfurcht die zerbrechliche, kehlig-harte | |
| Stimme dieser Greisin. | |
| Tschekun gilt als Hüterin traditioneller ukrainischer Ritualgesänge, | |
| Balladen und Liebeslieder. Viele ihrer Lieder handeln vom Leben und Alltag | |
| ukrainischer Bauern. Wie zum Beispiel „Oy, beda!“, in dem es um ein junges | |
| Mädchen geht, das sich heimlich mit einem schönen Lockenkopf getroffen und | |
| mit ihm geschlafen hat. Er verlässt sie, sie ist keine Jungfrau mehr und | |
| muss wohl für immer unverheiratet bleiben. | |
| Oh, welch Jammer, liebe Freundinnen, welch Jammer! | |
| Noch bin ich ein junges Mädel | |
| Einen Süßen traf ich am Dorfrand | |
| Mit Locken über seiner Stirn. | |
| Für diese Locken | |
| Verlor ich mein Herz am Dorfrand | |
| Stand barfuß bis zum Morgengrauen | |
| Die Beine zerstochen von Mücken | |
| Welch Jammer, liebe Freundinnen, oh welch Jammer! | |
| Blieb ich für immer ein junges Mädel. | |
| Dominika Tschekun schloss nur vier Grundschulklassen ab, bis zu ihrer Rente | |
| arbeitete sie als Melkerin. Jahrelang sang sie in der Dorfkirche und auf | |
| Hochzeiten. Beim Rinderhüten gegen die Langeweile und bei der Roggenernte | |
| gegen die Erschöpfung. Noten lesen hat sie nie gelernt. | |
| Seit der Unabhängigkeit 1991 und erst recht seit der Revolution auf dem | |
| Maidan 2014 suchen immer mehr Ukrainerinnen und Ukrainer nach ihren | |
| kulturellen Wurzeln. Wer sind wir, wo kommen wir her, macht uns etwas | |
| einzigartig? Die Antworten darauf finden sie auch in Baba Danias uralten | |
| Volksliedern. Die Avantgarde hofiert sie als Maskottchen nationaler | |
| Identität, lädt die Figur Baba Dania politisch auf. | |
| Baba Dania war oft im Fernsehen in den vergangenen Jahren. Bands wie | |
| [3][TNMK] und [4][Kurbasy] sampelten ihre Gesänge in ihren Songs. Sie stand | |
| auf Bühnen in Kyjiw und Lwiw und in Krakau, trat in Budapest und Paris auf. | |
| Zusammen mit [5][Ruslana], der ESC-Gewinnerin 2004, sang Baba Dania dort in | |
| einer Kathedrale, ließ sich von Franzosen mit Wangenküssen feiern und | |
| posierte für Selfies. Am Tag nach ihrer Rückkehr aus Paris hackte sie den | |
| ganzen Tag Holz. Baba Dania hat keine Starallüren. | |
| Sie freut sich, dass sie seit 2014 so oft vor großem Publikum singen durfte | |
| und plötzlich so viele junge Menschen ihre Lieder lernen wollen. Aber so | |
| recht versteht sie nicht, warum nun Fernsehteams bei ihr auftauchen und was | |
| der Rummel um ihre Person eigentlich soll – für sie hat ihre Musik nichts | |
| mit dem Maidan oder mit dem Krieg zu tun. Die Lieder sind das verklungene | |
| Gedächtnis ihrer Familie, ihres Dorfes. | |
| Wir kommen unangemeldet nach Stari Koni. Sascha, ein pummeliger, | |
| strohblonder Polizist, begleitet uns vom letzten Checkpoint zu ihr, seiner | |
| Nachbarin. Kurz vor dem Dorf wird die Straße zu einem matschigen Sandweg. | |
| Wir fahren Schrittgeschwindigkeit. | |
| Da ist Baba Danias Hof: ein rotes Holzhäuschen mit himmelblauen | |
| Fensterläden. Wir öffnen das Tor und laufen auf einem asphaltierten | |
| schmalen Gartenweg. Hennen gackern umher, ein Hund knurrt angekettet vor | |
| seiner Hütte. | |
| Sascha klopft. Wir warten. Stille. Nach einer Weile das Geräusch von | |
| Schritten, ein Klackern. Die Tür öffnet sich. Aus dem Haus dringt | |
| säuerlicher Geruch. Baba Dania grüßt in bunt besticktem Kopftuch und | |
| empfängt uns mit einer Selbstverständlichkeit, als habe sie auf uns | |
| gewartet. | |
| Sie ist Besuch aus der Ferne gewohnt. Bis zum Krieg war ihr Haus viele | |
| jahre lang eine Pilgerstätte für Singende und Musikethnologen aus der | |
| ganzen Welt. Aus Polen, aus den USA reisten Liebhaber von Polyphonie und | |
| Volksmusik nach Stari Koni, um von Baba Dania zu lernen. Sie verlangt keine | |
| Erklärungen, wer wir sind und was wir von ihr wollen. Baba Dania empfängt | |
| jeden. | |
| „Kommt rein, Sascha, setzt euch, ich hab ein Schlückchen!“ | |
| „Heute nicht, meine Frau wartet!“ | |
| „Komm, komm, setz dich!“ | |
| Davon, dass wir in einem Gästehaus übernachten wollen, will Baba Dania | |
| nichts hören. Wir folgen ihr durch vier schwach beleuchtete Zimmer mit | |
| niedrigen Decken zu unserem Schlafzimmer. Wir sehen Tapeten mit | |
| altmodischen Mustern, bunte Häkelteppiche, Plastikblumen, Ikonen und Fotos | |
| von Enkeln und Urenkeln. Die Zeit in diesem Haus ist vor vielen Jahren | |
| stehengeblieben. | |
| Baba Dania ist eine sehr alte Frau, ihre abgetragene Bluse zerschlissen und | |
| dreckig vom Leben auf dem Hof. Sie trägt türkisfarbene Gummischlappen und | |
| zieht das linke Bein hinter sich her. Aber ihre aufrechte Haltung lässt sie | |
| elegant und würdevoll erscheinen. Als ob sie immerzu vor einer | |
| Menschenmenge auf einer Bühne stünde. | |
| Jetzt geht sie in die Vorratskammer und füllt Gorilka, selbst gebrannten | |
| Schnaps mit eingelegten getrockneten Birnen, vom Fass in eine Flasche und | |
| stellt Schnapsgläser auf den Tisch. Dazu gebackene Fischchen, aus dem Fluss | |
| hinter dem Haus, und Pfannkuchen mit Quarkfüllung. | |
| Eigentlich aber wartet Baba Dania auf eine Gelegenheit zum Singen. | |
| Sie kippt ein zweites und ein drittes Schnapsglas runter. Der [6][Wodka] | |
| ist das Doping, mit dem sie ihre alte Stimme zur Blüte bringt. Dann fixiert | |
| sie mit ihren stahlblauen Augen einen Punkt im Raum. Ihr Gesicht wird | |
| ernst, als trüge sie eine Maske. Sie bewegt den Mund nur leicht, die | |
| Öffnung zwischen den Lippen bleibt schmal. Die erste Melodie weht durchs | |
| Haus. „Roter Schneeball“ heißt das Lied übersetzt. | |
| Roter Schneeball, warum errötest du? | |
| Hast du Angst vor Hitze oder Mitleid mit dem Gras? | |
| Ich habe keine Angst vor der Hitze und bereue nichts. | |
| Wo ich gepflanzt bin, dort erröte ich. | |
| Ihre Stimme bebt. Die Laute heben und senken sich. Manchmal erinnert ihr | |
| Gesang an Jodeln. | |
| Für unsere Ohren klingt die Musik eigenwillig, wirken die Harmonien | |
| fremdartig. Die Melodien sind wie ein Rausch, hypnotisch. Sie haben nichts | |
| von den sanften Übergängen, die wir aus der westlichen Popmusik kennen. Ich | |
| ringe mit mir, wünsche mir manchmal, dass Baba Dania aufhört. Dann wieder, | |
| dass es nie endet. | |
| Minutenlang bleibt ihr Gesichtsausdruck starr, nur der Klang ihrer Stimme | |
| füllt den Raum. Die Konzentration, mit der sie singt, erinnert an | |
| spirituelle Mantras. | |
| Sie setzt ab und strahlt, die Goldzähne funkeln im Dämmerlicht. Ohne zu | |
| fragen, singt sie noch ein Lied. „Litali Zhuravli“. Dann noch eins. Sascha | |
| mampft Pfannkuchen. Er kann die Aufregung um Baba Dania nicht verstehen. | |
| Warum kommen aus der Ukraine, aus Polen, aus den USA Menschen nach Stari | |
| Koni, um sie singen zu hören? „Alle Omas in unserem Dorf singen so“, | |
| flüstert er. Für Menschen wie Sascha sind ihre Lieder keine kulturellen | |
| Schätze. Sie sind mit ihnen aufgewachsen, sie gehören zum Leben wie die | |
| Kühe zum Dorf. | |
| Es dämmert. Sascha verabschiedet sich um kurz nach acht, Baba Dania geht | |
| früh ins Bett. Schließt das Haus ab und schlüpft in ihr Nachthemd. | |
| Am nächsten Morgen werkelt sie ab halb sechs in der Küche. Kurbelt einen | |
| Blecheimer voll Wasser aus dem Brunnen, schiebt Holzscheite in den Ofen, | |
| rührt Teig für Pfannkuchen an. Ich setze mich neben sie und darf die | |
| Pfannkuchen mit Quark belegen und einrollen. | |
| „Sie ist eine hazajka, eine gute Hausfrau“, lobt sie mich, als ihre Tochter | |
| Olena anruft. Nur dass ich noch nicht verheiratet bin, sorgt sie. Aber Baba | |
| Dania ist taktvoll, stellt nicht zu viele Fragen. Stattdessen singt sie mir | |
| ein russisches Volkslied vor. | |
| In dem Lied will die Mutter einen Bräutigam für ihre Tochter finden. Aber | |
| der erste Anwärter ist langweilig, der zweite ein Trunkenbold, der dritte | |
| kleinwüchsig. Keinen will die Tochter haben. Schließlich gibt es ein Happy | |
| End: Sie heiratet den Zehnten. „Den Zehnten sollst du heiraten!“, zwinkert | |
| sie mir zu. | |
| Sie singt gerne auf Russisch, obwohl sie die Sprache schlecht spricht. Aber | |
| sie vermisse die Sowjetunion, sagt sie. Damals sei es fröhlicher gewesen, | |
| die Männer hätten hart gearbeitet. Jetzt würden viele trinken. Ob sie sich | |
| die Vergangenheit schöndenkt? | |
| Baba Danias Lebensphilosophie kennt keine politischen Zerwürfnisse. Oder | |
| vielleicht interessieren sie sie einfach nicht. „Wenn du ein Lied kennst, | |
| singe es, egal in welcher Sprache.“ | |
| Draußen türmen sich Wolken auf, es wird ein Gewitter geben. Zusammen laufen | |
| wir zur Nachbarin, Milch holen. So früh hört man fast kein Geräusch im | |
| Dorf, nur den Donner und gelegentliches Schweinegrunzen. Vor fast jedem | |
| Häuschen reihen sich sorgfältig gepflegte Pflanzen- und Gemüseäcker. Auf | |
| einem der Autos prangt statt eines Nummernschilds der Spruch „ПУТИН ХУ… | |
| („Putin ist ein Pimmel“). | |
| Stari Koni liegt im Westen Polesiens, eines dünn besiedelten | |
| Landschaftsstreifens, der sich über Polen, [7][Belarus] und den Norden der | |
| Ukraine bis nach Russland erstreckt. Die Grenze zu Belarus ist so nahe, | |
| dass wir durch die Wälder hinüberlaufen könnten. Seit dem Krieg darf | |
| niemand auf die andere Seite. | |
| Baba Dania erklärt uns das Dorf: Jener Nachbar züchtet im Sommer Himbeeren | |
| für den Export, jener trocknet Birkenblätter und verkauft sie an | |
| Pharmaunternehmen. Ihre beiden Kinder Mischa und Olena leben nur ein paar | |
| Kilometer weit weg. Manchmal rufe die Enkelin aus Uschgorod in der | |
| Westukraine an und erzähle ihr: „Oma, du warst im Fernsehen.“ | |
| 2021 kam Präsident Selenski zu ihrem Konzert. Kurz zuvor hatte die Unesco | |
| ihre Lieder in die Audiokollektion von immateriellem Weltkulturerbe | |
| aufgenommen – in einer Reihe mit Beethovens neunter Sinfonie und [8][mit | |
| Borschtsch, der ukrainischen Rote-Bete-Suppe]. | |
| „Sie ist unser Nationalschatz, unsere Schamanin. Sie ist die Stimme der | |
| Ukraine,“ sagt die Lwiwer Kulturmanagerin Jarina Winnitskaya per Videochat. | |
| Winnitskaya hat große Pläne für Baba Dania, will sie auf der Bühne in | |
| Deutschland und Polen sehen. Eine Aufnahme mit Baba Danias Stimme hat sie | |
| an Sting geschickt, sie hofft, dass die beiden eines Tages gemeinsam auf | |
| der Bühne stehen. Baba Dania weiß von alldem noch nichts. Ihre Beine | |
| schmerzen, sie verlässt kaum noch das Haus. | |
| Dass Baba Dania die Sowjetunion vermisst und auch russische Lieder singt, | |
| ignoriert Winnitskaya und will auch nicht, dass ich das schreibe – selbst | |
| die Frage danach wühlt sie so sehr auf, dass sie beginnt, mir zu drohen. | |
| Baba Dania sei ungebildet, kenne keine Geschichte, keine Politik, verstehe | |
| die historischen Zusammenhänge nicht. „Du darfst sie damit nicht zitieren!“ | |
| Baba Dania, das zeigt das Telefonat mit Winnitskaya, ist eine Figur in | |
| einem Kulturkampf, von dessen Existenz sie selbst nichts weiß. Mit | |
| Kriegsbeginn, eigentlich schon seit 2014, sehen einige Ukrainerinnen und | |
| Ukrainer Russisch als Feindessprache und wollen nur noch Ukrainisch | |
| sprechen. Ihr sowjetisches Erbe ausradieren, als wäre es nie dagewesen. | |
| Dabei ist Russisch auch die Muttersprache von Millionen Menschen in der | |
| Ukraine. Für die allermeisten liegt in dieser Gleichzeitigkeit kein | |
| Konflikt: In der Familie sprechen sie Russisch. Wenn sie etwas auf | |
| Instagram posten oder im Supermarkt einkaufen gehen, tun sie das auf | |
| Ukrainisch. | |
| Viele, für die Ukrainisch zwar die Landessprache, aber nicht ihre | |
| Muttersprache ist, sind im vergangenen Jahr dazu übergegangen, auch privat | |
| Ukrainisch zu sprechen – weil sie es für sich so entschieden haben, nicht, | |
| weil jemand sie dazu zwingt. Doch gerade im Westen des Landes sind radikale | |
| Einstellungen wie die von Winnitskaya keine Ausnahme. Die Unterdrückung, | |
| die ihr Volk und ihre Sprache jahrhundertelang von russischer Seite | |
| erlitten, schmerzt sie. | |
| Baba Danias späte Karriere zeigt die Ambivalenzen, die dieses Land | |
| ausmachen, wie unter dem Brennglas: die Suche nach der eigenen kulturellen | |
| Identität, die Spuren und die Nostalgie nach dem längst vergangenen Leben | |
| in der Sowjetunion, die scheinbare Unvereinbarkeit zwischen Gestern und | |
| Heute. Dabei existieren in der Ukraine diese Realitäten ohne Paradox | |
| nebeneinander. Als alter Mensch dem Leben in der Sowjetunion nachzutrauern, | |
| Putin zu verachten und sich gleichzeitig als stolze Ukrainerin zu | |
| empfinden, ist nur in der Theorie ein Widerspruch. | |
| Und Baba Dania ist zu knorrig, als dass sie jemand wäre, den man | |
| instrumentalisieren könnte. Was sie betrübt ist, dass ihre Enkel und die | |
| jungen Menschen im Dorf die alten Lieder längst vergessen haben. Die | |
| Dorftradition ist ihr wichtiger als die ukrainische Nation, wichtiger als | |
| die gebildeten Bewunderer ihrer Volksmusik aus den Städten. | |
| Zum [9][russischen Angriffskrieg] sagt Baba Dania nicht viel. Nur, dass er | |
| sie traurig macht. Nachrichten schaut sie keine. Im Schlafzimmer steht ein | |
| altes Fernsehgerät. Aber die Woche, in der wir hier sind, bleibt der | |
| Bildschirm schwarz. | |
| Nach unserem Spaziergang ist Baba Dania erschöpft. Kehrt ins Haus zurück, | |
| lässt sich auf dem durchgesessenen Kanapee in ihrem Wohnzimmer nieder. | |
| Hinter ihr tickt die Wanduhr, vor ihr auf dem Tisch stehen Urkunden und | |
| Fotos. Ein Foto zeigt sie 2017 bei einer Preisverleihung mit der | |
| ukrainischen Kultusministerin. Ein anderes ist eingerahmt: Baba Dania in | |
| Volkstracht auf einer Bühne, der ehemalige ukrainische Präsident Wiktor | |
| Juschtschenko überreicht ihr 2009 eine Auszeichnung für ihre Verdienste um | |
| die ukrainische Kultur. | |
| Wir sitzen nebeneinander und schweigen. Baba Dania reckt ihr Kinn nach | |
| vorne, drückt die Schultern nach hinten und singt: | |
| Oh, sie haben das Grün vom Ahornbaun entfernt. | |
| Lass uns den Busch zum Meister bringen! | |
| Lasst uns den Busch zum Meister ins Zimmer bringen, | |
| Komm raus, liebe Dame, und gib den Büschen Gold. | |
| „Takije byli kolissnij pisnji!“, sagt sie zum Schluss immer und seufzt. So | |
| waren sie, die alten Lieder! | |
| Das Busch-Lied besingt ein archaisches Ritual zur Huldigung der Vorfahren. | |
| In alten Zeiten bedeckten Mädchen in Stari Koni am Pfingstsonntag eine | |
| junge Frau mit Ahorn, Gras und Kornblumen, verkleideten sie als „Busch“. | |
| Man führte sie von Tür zu Tür, sang Lieder, die Nachbarn gaben Brot und | |
| Eier. | |
| Im Lied verschmelzen christliche und heidnische Elemente. Es müsse deshalb | |
| viele Jahrhunderte alt sein, vermuten Musikethnologen – wie alt, weiß | |
| niemand, sagt die amerikanisch-ukrainische Anthropologin Maria Sonevytsky. | |
| Mit seinem Überleben trotzte es Jahrzehnten sowjetischer Kultur-und | |
| Religionspolitik. Das von Moskau gesteuerte Regime hatte sich nach Kräften | |
| bemüht, religiöse und bürgerliche Musik zu vertreiben. Und viele | |
| Ukrainerinnen und Ukrainer wollten auch sowjetisch sein, zogen in die | |
| Städte. Sie sprachen, lasen, sangen auf Russisch. | |
| Die Entlegenheit Polesiens und die Beharrlichkeit der Menschen, weiter im | |
| Takt jahrhundertealter Traditionen zu leben, war ein Glücksfall: Die Lieder | |
| blieben erhalten. | |
| In Baba Danias Jugend war Singen so alltäglich wie Kochen oder die | |
| Versorgung des Viehs. Die Lieder wechselten im Lauf des Jahres. Die | |
| Menschen sangen zeremonielle Frühlings- und Herbstlieder, sangen zur Ernte | |
| und auf Hochzeiten, sangen Weihnachtslieder. Traditionell wurden die Lieder | |
| von zwei oder drei Stimmen gesungen, ein polyphones Geflecht. | |
| Heute stiften dieselben Lieder ein Gefühl von Stolz auf die ukrainischen | |
| Schätze, die so lange im Vorraum des Vergessens schlummerten und von denen | |
| Russland behauptet, sie würden nicht existieren. Wenn Russland ukrainische | |
| Kultur vernichten will, sind damit auch Baba Danias Lieder gemeint. Für das | |
| digitale Archiv [10][folk-ukraine.com], eine Sammlung von traditionellen | |
| Songtexten und Liedern, hat sie vor einigen Jahren ihre Lieder eingesungen. | |
| Seit Kriegsbeginn wurde die Seite immer wieder gehackt. | |
| Baba Dania hat ein Repertoire von über 150 Stücken. Ihre Lieder vergisst | |
| sie nicht, alles andere schon. Zum Beispiel, für wen sie bei der letzten | |
| Präsidentschaftswahl gestimmt hat. | |
| Sie ist eine großartige Geschichtenerzählerin. Aber oft weiß sie nicht | |
| mehr, wann oder wo diese Geschichten spielten. Wenn etwas sie besonders | |
| beeindruckt, sagt sie „Tak, tak“, „so, so“, legt den Kopf zur Seite und | |
| nickt lange und nachdenklich. | |
| 1942: Als kleines Mädchen, erzählt sie, habe sie ihre Oma und Mutter | |
| nachgeahmt, die ihre Lieder sangen, während sie sich am Webstuhl abmühten. | |
| Ihr erstes Lied lernte sie mit sechs, als sie ihre Oma zu einer Hochzeit | |
| begleitete. Die kleine Dominika saß am Kachelofen und hörte die Gesänge der | |
| Erwachsenen. In eines der Lieder verliebte sie sich, immer wieder sang sie | |
| es vor sich her. Jahrzehnte später brachte sie es ihren Enkeln bei. | |
| Etwa zu der Zeit kam der Zweite Weltkrieg nach Stari Koni. Dominika sah | |
| großgewachsene deutsche Soldaten durchs Dorf streifen, stand am Tor und | |
| hielt ihnen Eier hin. Einer griff danach und nickte gutmütig. Baba Dania | |
| ahmt mit ihrer faltigen Hand seine Bewegung nach, um zu zeigen, wie er ihr | |
| über den Kopf strich. Später erfuhr sie, dass die Deutschen Erdgruben | |
| gegraben und ihre jüdischen Nachbarn dort tot und lebendig hineingeworfen | |
| haben. Mit einer von ihnen, Rochale, war ihre Mutter befreundet gewesen. | |
| Dominika putzte bei ihnen vor Pessach das Haus und bekam als Belohnung | |
| Matze, ungesäuertes Fladenbrot. | |
| 1955: Dominika war 19, als Iwan – Jannik –, den sie beim Tanzen im Dorfklub | |
| gesehen hatte, sie zum Spaziergang am Fluss einlud. Dort machte er ihr | |
| einen Heiratsantrag. Er war der Dritte, die anderen beiden Anwärter hatte | |
| sie zurückgewiesen. „Ich will noch nicht heiraten“, sagte sie auch zu ihm. | |
| „Ich werde auf dich warten!“, antwortete er hartnäckig. Und spürte schon: | |
| Sie liebt ihn auch. Noch in dem Jahr heiraten die beiden. | |
| Das Jahr, in dem Baba Dania heiratete, war das gleiche Jahr, in dem die | |
| Sowjetunion mit den anderen Staaten des Ostblocks den Warschauer Pakt | |
| schloss – ein Militärbündnis als Gegengewicht zur Nato. | |
| „Oh, was haben wir früher gesungen!“ – Baba Dania holt ihre vergilbten | |
| Fotoalben aus dem Holzschrank im Schlafzimmer, verteilt sie auf dem | |
| Kanapee. Ein Leben, verdichtet auf wenige Momente: Baba Dania beim | |
| Borschtsch-Essen mit Freundinnen. Jannik in Schwarz-Weiß. Baba Dania mit | |
| den Enkeln, Baba Dania auf einer Bühne, singend. Eine klassische Schönheit | |
| war sie nie gewesen. Auf den Fotos wirken ihre Gesichtszüge herb, der | |
| Körperbau rechteckig vom Schuften auf dem Feld. | |
| Auf einem Farbfoto ist zu sehen, wie Baba Dania dick eingepackt in einen | |
| schwarzen Mantel vor dem Kreml steht. Auch die sowjetische Kulturpolitik | |
| war ambivalent, und so durfte sie noch zu Sowjetzeiten mehrmals in Moskau | |
| auftreten. Nie würde sie auf die Idee kommen, Russland oder die Russen zu | |
| hassen, auch jetzt nicht, im Krieg. | |
| „Der Direktor der Kolchose kam immer zu mir und sagte: Dania, ohne dich | |
| wird diese Hochzeit keine Hochzeit!“ Ihre Arbeit als Melkerin in einem | |
| landwirtschaftlichen Großbetrieb in der Sowjetunion hatte ihr auch ihre | |
| Bühnengigs verschafft. | |
| Viele Männer waren eifersüchtig und verboten ihren Frauen die Auftritte. | |
| Jannik polierte ihr vor den Konzerten die Schuhe, bis sie glänzten. Nach | |
| der Arbeit sangen sie zusammen, sie hatte es ihm beigebracht. | |
| Auch ihre Tochter Olena sang als kleines Mädchen. Dann zog sie zum Studium | |
| nach Kyjiw. Nach ihrer Rückkehr sang sie nie mehr. Wenn Baba Dania einmal | |
| stirbt, wird die Tradition der Gesänge in ihrer Familie abbrechen. | |
| Heute können wir in der Tiefe ihrer Klänge den Schlüssel zu einer | |
| verlorenen Welt nur erahnen. Wird sie eines Tages nicht mehr sein, wird mit | |
| dem Reichtum ihrer Lieder auch der letzte Rest dieser Welt verschwinden. | |
| Dieser Gedanke schmerzt sie. | |
| 1984 holte eine Musikethnologin Baba Dania und ihren Frauenchor nach Kyjiw. | |
| Niemand von ihnen war jemals Zug gefahren, sie fürchteten sich vor den | |
| Türen der Waggons. Als sie endlich im November im verschneiten Kyjiw auf | |
| einer Bühne standen, war eine ganze Traube von Folkloristen gekommen, um | |
| sie zu hören. Das war der Durchbruch. | |
| An unserem vierten Tag in Stari Koni kommt die Postbotin auf den Hof und | |
| bringt ihre Rente. Auf dem rostbraunen Tisch breitet sie in gelblichen | |
| Scheinen 6.000 Hrywna aus, etwa 160 Euro. Jedem ihrer drei Enkel schickt | |
| Baba Dania 1.000. | |
| Im August 2021 bekam sie für einen Auftritt 250 Euro. Sie sollte zum 30. | |
| Unabhängigkeitstag in Kyjiw singen. Man hatte sie in einem Bus in die | |
| Hauptstadt gefahren und darin eigens für sie ein Sofa eingebaut. Zu dem von | |
| Jarina Winnitskaya organisierten Folklore-Konzert „Kovcheh – Ukraina“, das | |
| sie a cappella eröffnen sollte, war auch Präsident Selenski geladen. | |
| Internationale Größen wie die ukrainische Ethnochaos-Band Dakha Brakha und | |
| der Schriftsteller und Musiker Serhij Zhadan, der im vergangenen Jahr den | |
| Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, traten auf. | |
| Nach ihrem Auftritt feierte das Publikum sie mit lang anhaltenden Standing | |
| Ovations. Jarina Winnitskaya rannten vor Glück und Rührung die Tränen übers | |
| Gesicht, sagt sie. | |
| Am Montag, es ist unser letzter Tag in Stari Koni, hat Baba Dania | |
| Geburtstag. Sechsundachtzig. Um zehn Uhr morgens steht ihre beste Freundin | |
| Nadia in kobaltblauem Kleid und knallroter Perlenkette am Gartentor, um zu | |
| gratulieren. Sie küssen sich auf die Wangen. Die beiden leeren zwei | |
| Schnapsgläser auf dem Hof, dann treten sie ins Haus. Seit Krieg ist, singt | |
| niemand mehr draußen. | |
| „Welches sollen wir?“ | |
| „Was du willst!“ | |
| Baba Dania gibt den Ton vor, Nadia stimmt ein. | |
| Nach dem dritten Lied schnauft Baba Dania, ringt mit ihrem Atem, | |
| niedergeschlagen von der Schwäche des eigenen Körpers. Plötzlich sieht sie | |
| sehr alt aus. | |
| Von den sechs Frauen aus Baba Danias altem Dorf-Ensemble lebt nur noch | |
| Nadia. Vor ein paar Tagen hörte der Nachbar durch die Wände, wie sie und | |
| Nadia im Haus ihre Lieder sangen. Das gehöre sich nicht, tadelte er, Nadias | |
| Enkel sei doch erst vor wenigen Tagen in den Krieg gezogen. Am Tag drauf | |
| blieb sie stumm, Baba Dania sang alleine. „Der Junge ist doch nicht einmal | |
| an der Front angekommen, und schon dürfen wir nicht singen.“ Heute, am | |
| Geburtstag, hat Nadia es sich wieder anders überlegt. | |
| Am Nachmittag kommen dann alle, die Nachbarn, die Kinder, eine Schwester. | |
| Wir schlagen uns mit Kyjiwer Torte die Bäuche voll und leeren zwei Flaschen | |
| Gorilka. | |
| Sie erzählen, ein Lastwagen bringe die Leichen getöteter Soldaten, damit | |
| sie von ihren Familien begraben werden. Er fahre durch die Provinz und die | |
| umliegenden Dörfer. | |
| An solchen Tagen stehen Baba Dania, Nadia und die anderen im Dorf an ihren | |
| Gartentoren und sinken auf die Knie, aus Trauer und Respekt vor den Toten. | |
| Zu hören ist dann nur das ratternde Geräusch des Motors. | |
| 22 Mar 2023 | |
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| überraschend. | |
| Angriffe auf Ukraine: Massive Luftangriffe | |
| Russland hat die Ukraine abermals mit Raketen und Drohnen beschossen und | |
| dabei auch ein Wohnheim, eine Schule und ein Kloster getroffen. | |
| Krieg in der Ukraine: EU gegen schnelle Waffenruhe | |
| Die Mitgliedstaaten fordern einen vollständigen Abzug russischer Truppen | |
| als Bedingung für Verhandlungen. Und denken über neue Sanktionen nach. | |
| Ukrainischer Regisseur über Dokus: „Krieg wirkt wie ein Virus“ | |
| Sergei Loznitsa hat einen Dokumentarfilm über Luftkriege gemacht. Der | |
| ukrainische Regisseur über die Zivilbevölkerung und Töten als Selbstzweck. | |
| Buch über Wladimir Putin: Ein vierfacher Krieg | |
| Wer ist Putin wirklich und was will er? Im „Schwarzbuch Putin“ suchen | |
| international renommierte Expert*innen Antworten auf drängende Fragen. | |
| Musik über Krieg gegen die Ukraine: Macht und Ausschluss von Macht | |
| Einer aus der Ukraine, eine in Moskau geboren. Der Künstler Dmytro | |
| Fedorenko und die Musikerin Mary Ocher engagieren sich gegen den Krieg. |